In Sachsen-Anhalt stehen zwei Neonazis wegen Tötungsdelikten unter Verdacht – und niemand empört sich
Binnen weniger Tage wurden in Sachsen-Anhalt zwei Menschen umgebracht. Unter Tatverdacht: einschlägig vorbestrafte Neonazis. Doch von den Fällen nimmt kaum jemand Notiz.
Als Rick L. stirbt, im Gebüsch hinter einer Bushaltestelle in Magdeburg hat er ein Martyrium aus unzähligen Schlägen und Fußtritten hinter sich. Der 20-jährige Kunststudent ist von seinem Peiniger regelrecht totgetreten worden – der Leichnam weist erhebliche innere Verletzungen auf. Am Ende, so ergibt die Obduktion, ist Rick L. an seinem eigenen Blut erstickt.
Unter dringendem Tatverdacht wird dann wenig später der einschlägig vorbestrafte Rechtsextremist Bastian O., 20, verhaftet. Mutmaßlicher Auslöser für die Tat: eine kritische Äußerung des Opfers über O.s augenscheinlich rechte Einstellung.
Keine 50 Kilometer entfernt wird am darauffolgenden Wochenende, es ist der 24. August, der nächste Tote aufgefunden. Marcel W., gerade erst 18 Jahre alt geworden, liegt in einer Blutlache in einer Wohnung in Bernburg, sein Oberkörper ist von Messerstichen übersät.
Als mutmaßlicher Mörder kommt David B. in Untersuchungshaft, ebenfalls ein gewaltbereiter Neonazi mit einschlä-
gigen Vorstrafen. In der vorigen Woche hätte sein Opfer vor Gericht gegen den 19-jährigen Rechtsextremisten aussagen sollen – in einem Verfahren wegen Körperverletzung.
Zwei Tote an zwei Wochenenden, zwei justizbekannte Neonazi-Schläger unter Tatverdacht, doch wer glaubte, dass die erschreckende zeitliche und räumliche Nähe der Bluttaten eine neue Diskussion über rechte Intensivtäter ausgelöst hätte, hatte sich geirrt. Die Nachricht vom Tod der beiden jungen Männer schaffte es nicht in die Meldungsspalten der überregionalen Tageszeitungen.
Nicht einmal in Sachsen-Anhalt sind zwei Todesopfer binnen einer knappen Woche Anlass für politische Debatten. Behörden und Politik registrierten die Gewaltexzesse mit ungefähr der gleichen Beiläufigkeit, mit der man Verkehrsunfälle zählt. Es sind zwei Tote nebenbei. Als der SPIEGEL am vergangenen Donnerstag die Pressestelle des Magdeburger Innenministeriums um Stellungnahme zu den tödlichen Angriffen bat, war dem Sprecher der neueste Mord noch gar nicht bekannt. Einen Tag später bestätigte er, dass beide Beschuldigten bereits als „rechtsextreme Gewalttäter polizeilich erfasst“ seien. Ob die Taten politisch motiviert seien, stehe noch nicht fest.
Mit dem Herunterspielen unangenehmer Tatsachen hat man in Sachsen-Anhalt Erfahrung. In dem Land mit hoher Arbeitslosigkeit und dramatischer Abwanderung ist man Negativ-Nachrichten leid. Erst im vergangenen Jahr musste Innenminister Holger Hövelmann (SPD) einräumen, dass die Fallzahlen rechter Straftaten in seinem Bundesland flächendeckend geschönt worden waren. Und auch bei den beiden aktuellen Tötungsdelikten ist längst nicht klar, ob sie jemals als „Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund“ Eingang in die Statistik finden. Sie gelten erst einmal lediglich als Gewaltdelikte zwischen alkoholisierten Jugendlichen.
Dabei ist die kriminalstatistische Frage, ob die Tötungen von Bernburg und Magdeburg unmittelbar politisch motiviert waren, unerheblich. Fakt ist, dass sich die beiden Tatverdächtigen in einem rechtsradikalen Milieu bewegten, in dem Menschenleben, vorzugsweise die von „Schwächeren“, nicht viel zählen und in dem eine unfassbare Verrohung jeden Tag Opfer fordern kann. Sowohl Bastian O. als auch David B. werden von Bekannten als „tickende Zeitbomben“ beschrieben, bei denen es „nur eine Frage der Zeit“ gewesen sei, „bis mal was passiert“. Entschärft hat sie keiner.
Beim Tatverdächtigen David B. etwa, so erzählt eine frühere Klassenkameradin, habe die „rechte Rotze“ bereits in der fünften Klasse angefangen, damals, in der Sekundarschule „Sophie Scholl“ im benachbarten Baalberge. Dort habe er auch sein späteres Opfer Marcel W. kennengelernt, einen schmächtigen Jungen aus kompliziertem Elternhaus, der „zu allen nett gewesen“ sei, aber schon zu Schulzeiten „viele Schläge“ habe einstecken müssen.
Während Marcel irgendwann in ein Jugendheim in Schönebeck gekommen sei, habe sich David B. schnell zu einem „richtigen Nazi“ entwickelt: mit rechtsradikalen Tätowierungen am ganzen Körper und einem Hang zu Saufereien und Demonstrationen des „Nationalen Widerstandes“.
Ende September 2007 bezog der Rechtsextremist dann eine Einraumwohnung unter dem Dach eines gutbürgerlichen Mehrfamilien-Altbaus in der Bernburger Martinstraße. Den Schlüssel für den späteren Tatort hatte B.s Mutter, die heute in München leben soll, besorgt. Schon bald verwandelte sich das Dachzimmer in einen Treffpunkt der Bernburger Glatzen-Szene. Fast jedes Wochenende, berichten Anwohner, seien kahlgeschorene Jugendliche in Springerstiefeln und mit Bierkästen aufmarschiert und hätten die Nachbarschaft bis tief in die Nacht mit Nazi-Musik und rechtsradikalem Gegröle überzogen.
Mieter, die David B. zur Rede stellen wollten, seien von den Neonazis beschimpft und bedroht worden. Selbst die Polizei, nur 300 Meter von der Wohnung stationiert, habe am Ende nicht mehr auf die Beschwerden wegen Ruhestörung reagiert. Dabei war B., laut Staatsschützern „eine bekannte Größe“ der Szene, längst justiznotorisch. Bereits im Oktober 2007 hatte ihn das Amtsgericht Bernburg wegen Sachbeschädigung, mehrerer Körperverletzungsdelikte und dem „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt.
Noch während der Bewährungszeit fiel David B. erneut auf. Am 20. November 2007, ermittelte die Staatsanwaltschaft, soll er sein späteres Opfer Marcel W. schon einmal brutal attackiert haben. Die Anklage wegen Körperverletzung konnte jedoch nicht abschließend verhandelt werden, weil der Geschädigte zweimal nicht zu den anberaumten Prozessterminen erschienen war.
Marcel habe „panische Angst“ vor dem Neonazi gehabt, erzählt eine enge Freundin. Mehrfach habe sich der 1,65 Meter kleine Junge, der zuletzt in einer Fahrradwerkstatt jobbte, bei ihr vor dem gewalttätigen B. versteckt. Für den vergangenen Dienstag, 14.30 Uhr, hatte das Gericht schließlich einen dritten Verhandlungstermin festgesetzt und die Vorführung des Zeugen W. angeordnet.
Doch da war Marcel schon tot.
In den letzten Stunden seines Lebens war er in der Discothek „Bernabeum“ gesichtet worden. Wie der Junge von dort in die Wohnung seines mutmaßlichen Mörders gelangte, ist Marcels Freunden unbegreiflich. Sie vermuten, er habe sich von B. „einfach mitquatschen“ lassen, „zum Saufen oder so“.
Neonazi B. dagegen behauptet gegenüber der Staatsanwaltschaft, dass Marcel in der Nacht zu Sonntag bei ihm „eingebrochen“ sei und er ihn deshalb „aus Notwehr“ getötet habe. Mit zahlreichen Messerstichen. Zur Tatzeit war B., der inzwischen unter Mordverdacht in Untersuchungshaft sitzt, stark alkoholisiert, es dauerte fast 24 Stunden, bis er vernehmungsfähig war.
Der Fall B. weist frappierende Parallelen zu der zweiten Bluttat auf, die sich erst acht Tage zuvor in der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt ereignet hatte. Der Hauptverdächtige Bastian O. gilt Ermittlern zufolge ebenfalls als „Größe“ in der Neonazi-Szene. Auf dem Oberschenkel des 20-Jährigen prangt laut Staatsanwaltschaft ein tätowiertes Hakenkreuz, in seinem Strafregister finden sich zahlreiche dazu passende Delikte. Am 16. Mai 2006 verurteilte ihn das Amtsgericht Magdeburg zu einer Gesamtjugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten ohne Bewährung wegen Volksverhetzung, Diebstahl, räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung.
Im Februar 2006 hatte Bastian O. einen Studenten aus Togo erst rassistisch beleidigt, dann brutal geschlagen und schließlich seinen Hund auf das Opfer gehetzt. Noch während O. in der Jugendstrafanstalt Raßnitz saß, attackierte er einen Mitgefangenen und erhielt weitere zwei Monate Gefängnis.
Im Februar dieses Jahres wurde er schließlich entlassen und bezog Quartier im Magdeburger Stadtteil Leipziger Straße, knapp drei Kilometer vom späteren Tatort entfernt. In der Toreinfahrt des heruntergekommen Plattenbaus haben Fußball-Hooligans ihre Graffiti hinterlassen, die Nachbartür von O.s Einraumwohnung ist halb eingetreten und mit den Abdrücken von Springerstiefeln übersät.
Auch hier lebten die anderen Mieter, wie einer sagt, in „ständiger Angst“ vor dem „gefährlichen Nazi“ und seinen Gesinnungsgenossen. Wiederholt hätten Rechtsextremisten Bierflaschen aus dem zweiten Stock auf Passanten und vorbeifahrende Autos geschleudert, bis die Polizei den Neonazi am 18. August festnahm und seine Wohnung versiegelte.
Die Indizien gegen den mutmaßlichen Totschläger scheinen erdrückend. An O.s Kleidung konnten DNA-Spuren des getöteten Kunststudenten Rick L. festgestellt werden, in seiner Plattenbau-Wohnung fanden Fahnder Gegenstände des Opfers. Zudem gibt es Zeugen, die den Neonazi und den liberal eingestellten Studenten kurz vor der Tat in der nahe gelegenen Großraum-Discothek „Funpark“ gesehen haben wollen.
Bastian O. selbst, der zunächst zu den Vorwürfen schwieg, soll vor Ermittlern inzwischen eingeräumt haben, dass es in der Disco zum Streit mit Rick L. gekommen sei. Der Student hätte ihn als „Nazi“ bezeichnet. O.s Rechtsanwalt wollte sich auf SPIEGEL-Anfrage nicht zu den Vorwürfen gegen seinen Mandanten äußern.
Vor dem Gebüsch, an dem Rick L. vor zwei Wochen so qualvoll starb, haben Freunde und betroffene Bürger Blumen niedergelegt und Transparente aufgehängt. Wie immer, nach solchen Taten.
Aber ein Aufstand der Anständigen blieb aus. In der Lokalpresse wurde der Fall als „Disco-Mord“ vermeldet.
SVEN RÖBEL
* Am Tatort auf einem Transparent mit der Aufschrift: „Rick, wir vermissen dich“.