«Zuzuschlagen war seine freie Entscheidung»

BaslerZeitung

Im Mordfall von Unterseen entscheidet das Gericht heute, ob es beim Verdikt «lebenslänglich» bleibt

BARBARA LAUBER, Bern

15 Jahre statt lebenslänglich: Das forderte gestern der Verteidiger von Marcel von Allmens Mörder vor Obergericht. Er pocht entgegen dem psychiatrischen Gutachten auf verminderte Zurechnungsfähigkeit.

Als «Martyrium» hatte das Kreisgericht 2004 das langsame Sterben von Marcel von Allmen bezeichnet. Der 19-Jährige war 2001 in Unterseen von Kollegen brutal mit einem Stahlrohr hingerichtet worden, weil er zu viel über ihren rechtsextremen Geheimbund geplaudert hatte (vgl. baz vom 23.8.). Marcel M., der Anführer, erhielt für seine Tat die Höchststrafe und wurde, 22-jährig, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.

Dagegen hat sein Verteidiger appelliert. Gestern stellte Marcel Grass vor dem bernischen Obergericht den Antrag, der Fall sei zur neuen Beurteilung an ein Kreisgericht zurückzuweisen. Denn der zugezogene Gerichtspsychiater, so seine Begründung, sei als Deutscher dem Täter und seinem rechtsextremen Weltbild voreingenommen begegnet. Das Obergericht kündigte bereits gestern an, dass es diesem Antrag nicht stattgeben werde. Hingegen wird es bis heute Mittwoch zu entscheiden haben, ob das Strafmass bei «lebenslänglich» bleibt oder, wie vom Verteidiger gefordert, auf 15 Jahre gesenkt werden soll.

Gruppendynamik. Der Gerichtspsychiater Volker Dittmann, Leiter der Forensischen Psychiatrie der Uniklinik Basel, hatte Marcel M. in seinem Gutachten volle Zurechnungs- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt attestiert und festgestellt, dass keine psychische Störung vorlag.

Diese Expertenmeinung wurde gestern von Verteidiger Marcel Grass indes vehement in Frage gestellt. «Im Gutachten wird der Gruppendruck, dem Michael M. ausgesetzt war, kategorisch verneint», kritisierte dieser. Dabei sei es offensichtlich, dass in einer Gruppe die Hemmschwelle sinke, da auch die Verantwortung für die Tat unter den Beteiligten «aufgeteilt» werden könne. «Das ist wie in einem Viererbob: Wenn er einmal eine gewisse Geschwindigkeit hat, kann niemand mehr aussteigen.»

Zudem, ergänzte Grass, dürften Gewaltfilme seinen Klienten gegenüber Gewalt «systematisch desensibilisiert» haben. Aus diesen Gründen müsse bei der Strafzumessung eine zumindest leicht eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit anerkannt werden.

Bei der gestrigen Befragung blieb Dittmann bei seinen früheren Aussagen. Er beschrieb Marcel M. als einen «hochintelligenten, bewusstseinsklaren Mann», der Situationen gut analysieren könne, grundsätzlich beziehungsfähig sei und sich sozial eingliedern könne. Dittmann kam zum Schluss, dass bei Marcel M. keine Persönlichkeitsstörung vorliege. «Zuzuschlagen war seine freie Entscheidung», betonte der Gutachter. Denn zum Tatzeitpunkt sei seine Einsichtsfähigkeit nicht eingeschränkt gewesen. «Marcel M. hätte also trotz Gruppendruck und trotz Erfolgsdruck die Tat jederzeit stoppen können.»

ZURECHNUNGSFÄHIG. Dittmann rief in Erinnerung, dass «eine Mehrheit aller Tötungshandlungen nicht von psychisch Gestörten» durchgeführt würden. Deshalb könne man nicht von jeder unverständlichen, grausamen, gegen Recht und Gesetz verstossenden Handlung gleich auf eine psychische Krankheit schliessen. «Denn leider liegt die grundsätzliche Fähigkeit, einem anderen Menschen zu schaden und ihn allenfalls zu töten, in der menschlichen Natur begründet.»

Auch für Generalprokurator Markus Weber, den obersten Staatsanwalt im Kanton Bern, steht fest, dass Marcel M. bei der Tat voll zurechnungsfähig war und «als rational denkender Mensch hätte Stop sagen können». Stattdessen habe er sich am Leiden und Sterben des Opfers ergötzt. «Eine Menschenverachtung sondergleichen», sagte Weber. Er hielt deshalb an der lebenslänglichen Zuchthausstrafe fest.

«ABSOLUTER QUATSCH». Weber ärgerte sich zudem laut über den Vorwurf der Verteidigung, Gerichtspsychiater Dittmann sei bei der Begutachtung voreingenommen gewesen. «Das ist schlicht lächerlich und eine böswillige Unterstellung», protestierte er.

Dittmann sei ein Mann der Wissenschaft und ein «aufgeschlossener Zeitgenosse», der seit 25 Jahren in der Schweiz lebe. Ihm aufgrund seiner Herkunft etwelche Ressentiments gegenüber rechtsextremem Gedankengut zu unterstellen, sei deshalb «absoluter Quatsch».