Zucker für Extremisten

SonntagsZeitung


Frank A. Meyer

Für Christoph Blocher ist das Antirassismus-Gesetz ein «Gesinnungsgesetz». Es widerspreche dem Recht auf freie Meinungsäusserung, sagt der Bundesrat der SVP. Das klingt gut. Wie es eben immer gut klingt, wenn sich ein Politiker für die freie Meinungsäusserung einsetzt.

Wie aber steht es ganz konkret um die Unterdrückung von Meinungen durch das Antirassismus-Gesetz? Oder noch konkreter: Was möchte Christoph Blocher frei gesagt haben – und das Gesetz verbietet es?

Möchte er, dass Juden wieder diffamiert werden dürfen? In antisemitischen Publikationen? Mit antisemitischen Reden? Das möchte Christoph Blocher ganz gewiss nicht. Oder sollen afrikanische Asylbewerber wegen ihrer Herkunft und Hautfarbe verächtlich gemacht werden dürfen? In fremdenfeindlichen Pamphleten? Mit nationalistischen Pöbeleien? Auch danach steht Christoph Blocher sicher nicht der Sinn.

Was also ist Christoph Blocher an der freien Meinungsäusserung so wichtig, dass er das Antirassismus-Gesetz abschaffen möchte? Bohren wir weiter:

Geht es ihm darum, dass endlich die Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Nazis straflos in Abrede gestellt werden darf? Kaum vorstellbar, dass Christoph Blocher so etwas wünscht. Ist es ihm ein Anliegen, dass Türken bei uns lauthals und ohne rechtliche Folgen den Genozid an einer Million Armenier vor 90 Jahren leugnen dürfen? Auch dies ist ihm nicht zu unterstellen.

Welcher Teufel also reitet Christoph Blocher? Warum ist ihm die Antirassismus-Strafnorm so sehr ein Dorn im Auge?

Am SVP-Parteitag vor einer Woche beklagte sich auch ein Knabe im Pubertätsalter über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch jenes Gesetz. Was brennt diesem Kind mit Zahnspange so sehr auf der Zunge, dass es die Antirassismus-Strafnorm abgeschafft sehen möchte? Was will es schreiben dürfen, sagen dürfen, skandieren dürfen?

Ebenfalls am SVP-Parteitag polemisierte der Sekretär der Tessiner SVP gegen «Ausländer, die sich auf unsere Kosten vermehren wie die Kaninchen». Menschen als Kaninchen? Als Landplage?

Da wird deutlich, worum es geht: Es soll keine Form des Anstands mehr gewahrt werden müssen, wenn man Menschen ausgrenzt. Es soll, im Gegenteil, Hetze ohne jede moralische Hemmung zulässig sein: Der politische Gegner wird entmenschlicht, zum Schädling erniedrigt, den es auszumerzen gilt.

Ist das die freie Meinungsäusserung, die Blocher meint? Nein, auch das meint er natürlich nicht. Doch andere meinen genau das. Und sie gehören zuhauf zur Sympathisanten-Szene der SVP. Ihnen gibt Blocher mit den Attacken gegen das Antirassismus-Gesetz Zucker. Im Herbst sind Wahlen.

Jüngst hat ein juveniler Schwadroneur in einem Artikel behauptet, die Antirassismus-Strafnorm behindere die Forschung. Die Absurdität dieses Arguments lässt zögern, überhaupt darauf einzugehen. Doch ist die Frage interessant, welche Forschung gemeint sein könnte.

Ist die Art von Forschung gemeint, wie sie der iranische Präsident Ahmadinedschad durch internationale Tagungen fördert: die Forschung nach einer neuen Wahrheit über den Holocaust? Oder die Forschung nach einer neuen Wahrheit über den Genozid an den Armeniern?

Die Vernichtung der Juden ist seit Jahrzehnten ein grosses Thema der Geschichtswissenschaft. Die Wahrheit über dieses schrecklichste aller Verbrechen ist bekannt. Wie es aber dazu kommen konnte, wird weiter erforscht.

Kein Historiker, der nach wissenschaftlichen Standards die Judenverfolgung untersucht, muss das Antirassismus-Gesetz fürchten.

WER ABER muss es fürchten? Es sind rechtsextreme Cliquen, die eine Revision der Geschichte betreiben: weil sie nicht wahrhaben wollen, dass es in Auschwitz Gaskammern und Verbrennungsöfen gab! Für sie ist der Holocaust nichts als ein jüdischer Propagandaschwindel. Ebenso ist in ihren Augen die systematische Vernichtung der Armenier nichts als eine antitürkische Propagandalüge!

Sollen diese Umdeuter und Neudeuter ihre Geschichtsfälschungen ohne strafrechtliche Folgen unters Volk bringen dürfen?

Nein! Den Revisionisten geht es nämlich keineswegs nur um eine andere, wenngleich abstruse Geschichtsschreibung. Es geht ihnen vielmehr ganz gezielt um die Löschung schlimmster historischer Verbrechen aus dem Bewusstsein der Menschen. Denn nur Menschen ohne Bewusstsein darüber, welche entsetzlichen Taten entsetzliches Denken zur Folge haben kann, lassen sich erneut verhetzen gegen Juden und Schwarze und Fremde und Minderheiten und Aussenseiter.

DAS UNSÄGLICHE soll wieder gesagt werden dürfen.