Zivilcourage: Wer ist die Frau, die sich zwischen einen Juden und einen Trupp Neonazis stellte?

NZZ magazin. Mit mutigem Eingreifen hat Iluska Grass einen orthodoxen Juden vor rechtsextremen Angreifern beschützt und die Täter gestellt. Sie erzählt, wie sie den Vorfall erlebt hat.

Als Iluska Grass am 4. Juli 2015, einem warmen Sommersamstag, am frühen Abend auf dem Heimweg war, hörte sie von der anderen Strassenseite laute Schreie. Die damals 25-jährige Grafikerin und Designerin beobachtete beim Zürcher Manesseplatz nahe dem Bahnhof Wiedikon, wie ein stämmiger Mann einen orthodoxen Juden verfolgte und bespuckte. Ohne zu überlegen, erzählt Grass, habe sie die Strasse überquert und sich zwischen die beiden gestellt.

«Ich handelte automatisch, konnte gar nicht überlegen.» Als sie den auffällig tätowierten Mann und den Juden betrachtet habe, sei ihr schnell bewusst geworden, worum es gehe, sagt Grass. «Die judenfeindlichen Parolen des Angreifers bestätigten den Eindruck sogleich.» Weitere muskulöse Männer hätten sich dazugesellt, bis sie etwa zu zehnt gewesen seien, einige mit nacktem Oberkörper, alle mit Tätowierungen. Verschwitzt seien sie gewesen, die meisten offensichtlich betrunken.

Ohne Angst gehandelt

Grass schildert das Erlebte mit ruhiger Stimme. Sie habe sich vor den Angreifer gestellt und gefragt, was sich hier abspiele. «Ich wollte Zeit gewinnen, indem ich ihn und seine Kollegen in ein Gespräch verwickelte.» Sie sei als Ausländerschlampe tituliert worden, sagt Grass. Sie habe den Widersachern deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihr Verhalten beschämend finde.

«Angst hatte ich nicht. Ich befürchtete zu keinem Zeitpunkt, geschlagen zu werden.» Dennoch seien ihr die fünf bis zehn Minuten, bis die Polizei eingetroffen sei, unendlich lange vorgekommen. Umso mehr weil die Männer nicht aufgehört hätten, das Opfer zu verunglimpfen. «Er hat es verdient», rief der Anführer laut Grass.

Ein Passant hatte bereits vor ihrem Einschreiten die Polizei alarmiert. Viele Leute blieben stehen und schauten der Auseinandersetzung zu, ohne dass sich jemand eingeschaltet und die junge Frau unterstützt hätte, wie die Polizei- und Gerichtsakten zeigen. Dies habe sie nicht realisiert, erzählt Iluska Grass.

Sie bewies viel Mut in Zeiten, in denen mangelnde Zivilcourage beklagt wird. Regelmässig dringen heute Meldungen von Gewalttaten vor den Augen untätiger Zeugen – im öffentlichen Verkehr, auf belebten Plätzen oder an Veranstaltungen – an die Öffentlichkeit. Ihr Handeln sei ihr selbstverständlich erschienen. «Ich bin so erzogen worden», sagt die Tochter eines Künstlerpaars. Zudem habe sie jahrelang an der Zürcher Langstrasse gewohnt, wo sie auf dem Heimweg regelmässig gewalttätige Konflikte erlebt habe. «Dort habe ich verschiedentlich auch interveniert.»

Etwas mulmig zumute wurde es Grass erst im Nachhinein, weil Angehörige und Freunde ihr Eingreifen zwar bewundernd, aber auch besorgt kommentierten, und nachdem Medien Einzelheiten zum Vorfall in Zürich Wiedikon publik gemacht hatten. Der Haupttäter, Kevin G., ist ein bekannter und mehrfach vorbestrafter Neonazi (siehe Infobox am Ende des Artikels). Dieses Wissen belaste sie nicht, sie sei durch die Erlebnisse an jenem Juliabend nicht traumatisiert, betont Grass.

Eine Mischung aus Abscheu und Mitleid

Kevin G. und seinen Kollegen begegnete Grass im September 2017 wieder bei einer Einvernahme im Zürcher Bezirksgebäude. Die tätowierten Männer hätten sich alle ähnlich gesehen. Ihre Gefühle für die rechtsextremen Angreifer beschreibt sie als zwiespältig. «Es ist eine Mischung aus Abscheu und Mitleid.» Niemand werde als schlechter Mensch geboren. «Da muss etwas passiert sein», analysiert Grass.

Für ihr mutiges Handeln wird die 28-Jährige nun von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus sowie der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz geehrt. Im November wird Grass den mit 25 000 Franken dotierten Nanny-und-Erich-Fischhof-Preis erhalten. Diese Auszeichnung geht an Persönlichkeiten, die mit aussergewöhnlichen Taten gegen Rassismus und Antisemitismus auffallen.

Iluska Grass ist vor einigen Monaten Mutter geworden, ihr Studium an der Zürcher Hochschule der Künste hat sie deswegen unterbrochen. Im Alltag seien die Erlebnisse mit der Gruppe Rechtsextremer weit weg. «Aber stets, wenn Vergleichbares geschieht oder die Medien über Kevin G. berichten, tauchen die Erinnerungen wieder auf.»

Dies wird Grass erneut widerfahren, wenn am 30. Oktober am Obergericht die Berufungsverhandlung gegen den Neonazi stattfindet.


Der Rechtsextreme Kevin G.: Belastendes Register von Vorstrafen

Im März hat das Bezirksgericht Zürich den 30-jährigen Kevin G. wegen Rassendiskriminierung und Tätlichkeiten zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Mit Kollegen unterwegs, um einen Polterabend zu feiern, hatte er im Juli 2015 einen orthodoxen Juden bespuckt und beschimpft, der in Zürich Wiedikon aus einer nahen Synagoge gekommen war. Der Anwalt des Täters ficht das Urteil des Bezirksgerichts vor Obergericht an.

In das Strafmass gegen den gelernten Metzger – eine der bekanntesten Figuren in der Schweizer Neonazi-Szene – sind auch bedingt und teilbedingt verhängte frühere Strafen einbezogen. Kevin G. hatte in einem Fall bei einer Schlägerei einem Widersacher einen doppelten Nasenbeinbruch und Verletzungen an Stirn und Brustkorb zugefügt.

Kevin G. trat in den letzten Jahren wiederholt als Frontmann der rechtsextremen Band Amok in Erscheinung. Seine Gesinnung drückt er auch in Tätowierungen aus: Der Körper von Kevin G. ist mit Hakenkreuz- und anderen Nazi-Symbolen übersät. (asc.)