Tagblatt. Sie wehren sich gegen Steuern, bombardieren Behörden mit verworrenen Schreiben und gründen eigene Königreiche. Die Schweizer Staatsverweigerer-Bewegung entstand im Thurgau, die Ostschweiz gilt inzwischen als wichtiges Zentrum der potenziell gewaltbereiten Szene.
«Ich kenne viele Menschen in der Schweiz, die besser bewaffnet sind und besser schiessen können als ihr alle zusammen», sagt der Mittvierziger rabiat in seine Handykamera. Die Augen in tiefen Höhlen unter einer Schiebermütze, adressiert er dabei die Polizei: «Das soll keine Drohung sein. Aber ich habe es gesehen. Wollt ihr eigentlich irgendwann Krieg?»
Das Video stammt von Matti Gerber* (Name der Redaktion bekannt). Er ist einer von vielen Ostschweizer Vertretern einer wachsenden Szene sogenannter Staatsverweigerer, in Deutschland als Reichsbürger bekannt. Das Narrativ eines drohenden Bürgerkriegs mit der Staatsgewalt ist unter ihnen weit verbreitet.
Die Szene ist lose organisiert und ideologisch heterogen. Gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung der Legitimität des demokratischen Rechtsstaats und seiner Institutionen. Die zugrunde liegende Weltanschauung ist oft mit rechtsradikalem Gedankengut sowie dem Glauben an Pseudomedizin und einer Palette an Verschwörungstheorien verflochten. Wie etwa, dass es sich bei Staaten in Wirklichkeit um Firmen handelt. Und so weigern sie sich, Steuern zu zahlen, bombardieren Behörden mit verworrenen Schreiben oder gründen gleich eigene Gerichtshöfe oder gar Königreiche.
Seit der Pandemie hat die aus Deutschland und Österreich in die Schweiz übergeschwappte Staatsverweigerer-Bewegung beträchtlichen Aufschwung gewonnen. Wie viele Anhänger die Bewegung hierzulande hat, weiss man nicht. Schätzungen gehen von mehreren tausend Personen aus. Klar ist jedoch: Die Ostschweiz gilt als Hochburg der Szene. Und hier schlug sie auch ihre ersten Wurzeln. Im Thurgau, um genau zu sein.
Zwei neue Gerichtshöfe im Thurgau
2016 verlegte der International Common Law Court of Justice Vienna (ICCJV) sein Hauptquartier auf den Modelhof in Müllheim, das Anwesen des libertären Unternehmers Daniel Model. Der ICCJV, 2014 in Wien gegründet, war ein Pseudogerichtshof. Er beanspruchte, über internationalem Recht zu stehen, erfand Fantasiedokumente, hatte einen eigenen «Geheimdienst» und erkor «Sheriffs», die vom ICCJV verurteilte Personen verhaften sollten. Model, der bereits 2006 seinen eigenen Staat namens «Avalon» ausgerufen hatte, stellte seinen Hof zwischen 2015 und 2017 dem ICCJV für dessen Machenschaften zur Verfügung.
Im Oktober 2018 wurden die Führungspersonen bei einer gross angelegten Razzia verhaftet und später wegen Beteiligung an einer staatsfeindlichen Verbindung in Österreich verurteilt. Darunter auch Model. Der ICCJV gilt heute als zerschlagen. In das im Thurgau hinterlassene Vakuum rutschte gemäss Kennern der Szene der ebenfalls in Österreich entstandene «Global Court of the Common Law» (GCCL). Die Führungsriege war eine andere, das Konzept sehr ähnlich. Der GCCL ist auch eine Art Pseudogerichtshof und sektenartige Gruppierung, die weder den Staat noch die Justiz anerkennt. Die Anhänger orientieren sich an einer Art Naturgesetz und berufen sich dabei auf Bibelverse.
Der GCCL, wie auch der ICCJV, bestand anfangs nur aus einer kleinen Gruppe radikalisierter Staatsverweigerer. Doch dann kam Corona. Innert eines Jahres wuchs die Nutzerzahl in der geschlossenen GCCL-Gruppe auf der Chat-Plattform Telegram um das Zehnfache. Im April 2022 zählte die Gruppe für die ganze Schweiz 1500 Nutzer. In der Gruppe des Kantons Thurgau waren 300 Mitglieder, was der wohl grössten Ballung in der Schweiz entspricht. Zum Vergleich: In Zürich waren es 80.
Die Popularität des GCCL im Thurgau zeigte sich unter anderem bei einem Gerichtsprozess im Januar 2022 in Münchwilen. Ein GCCL-Mitglied hatte gegen die Maskentragepflicht verstossen und zog den Fall vor Gericht. Am Verhandlungstag mussten Dutzende Polizisten das Gerichtsgebäude sichern, weil sich rund 100 Menschen vor dem Gebäude versammelt hatten und Radau machten.
Staatsbekämpfung statt Schminktipps
Mittlerweile hat der GCCL, anfangs das Zentrum der Szene in der Schweiz, an Bedeutung verloren. Doch seine Ideologie sowie einige seiner Fantasiedokumente sind bis heute unter Staatsverweigerern weit verbreitet. War die Staatsleugnerbewegung bis vor etwa drei Jahren noch auf die Ostschweiz begrenzt, ist sie heute ein landesweites Phänomen. Die Mitglieder sind untereinander vernetzt, einen eindeutigen Schwerpunkt gibt es jedoch nicht mehr.
Während der Pandemie hat die Szene metastasiert. Heute besteht sie laut Kennern aus Dutzenden «Influencern», zu Deutsch Einflusspersonen, die Gemeinschaften um sich scharen. Diese Influencer betreiben Kanäle in den sozialen Medien, geben Kurse und Vorträge. Darin dokumentieren sie ihren Umgang mit den Behörden, teilen ihre Erfahrungen und geben Ratschläge. So wie andere Influencerinnen Schminktipps geben, erklären die Influencer der Staatsverweigerer das «korrekte» Verhalten gegenüber der Polizei, wie man vermeintlich seine Steuern nicht zahlt oder wie ein völlig wirkungsloses Fantasiedokument angeblich Immunität gegenüber der Strafverfolgung garantiert.
Einer der reichweitenstärksten Influencer der Schweiz ist der Hinterthurgauer Peter Fischer* (Name der Redaktion bekannt). Er betreibt einen Telegramkanal mit über 3000 Nutzern und reist durch die ganze Deutschschweiz, um Vorträge zu halten. Anfang Februar war er am «Stadtrundgang für Insider» in St.Gallen anwesend, bei dem der Gruppenführer Mario* über eine weltumspannende Verschwörung von Echsenmenschen sowie die Existenz von Riesen und Einhörnern «aufklärte».
Kurse für juristische und finanzielle Freiheit
Fischer hat schon mehrere Vorträge gemeinsam mit Mario zum Thema «Person wird :mensch» gehalten – Fischers Lieblingsthema. Gemäss seiner Theorie, die schon vom GCCL verbreitet wurde, kann man sich jeder juristischen und finanziellen Verantwortung entledigen, wenn man sich selbst als «Mensch» definiert und somit vom behördlich verwendeten Wort «Person» abgrenzt. In seinem Telegramkanal teilt Fischer massenhaft Fotos von Rechnungen und Bussen, die er retourniert, weil sie fälschlicherweise an seine «Person» gerichtet seien und somit ungültig.
«Irgendwann trifft es die Leute immer»
Was ulkig klingt, hat reale Auswirkungen. Roger Wiesendanger, Amtsleiter der Betreibungs-, Konkurs- und Friedensrichterämter des Kantons Thurgau, sagt, der ständige Papierkrieg mit der wachsenden Anzahl an Staatsverweigerern erzeuge einen erheblichen Mehraufwand. Die Betreibungsämter würden buchstäblich eingedeckt mit wirren Schreiben, zurückgesendeten amtlichen Korrespondenzen und retournierten Rechnungen. Gab es vor der Pandemie noch zwei solcher Fälle im Jahr, seien es heute je nach Standort zwei pro Woche.
Und manche gehen noch weiter. In Wittenbach warf eine anonyme Gruppe den Behörden organisierte Kriminalität vor und schaltete eine Website auf, in der sie Angestellte der Gemeinde namentlich erwähnte und ihnen Amtsmissbrauch und Urkundenfälschung unterstellte. Für Herisau existiert eine ähnliche Website.
In Fischers Kanal findet sich ein schwülstig geschriebener Brief an seine Bank, in dem er beanstandet, dass diese dem Betreibungsamt 7000 Franken von seinem Konto übertragen habe. Er schickte auch vermeintliche Belege dafür mit, dass es sich beim zuständigen Betreibungsamt «lediglich um ein Inkasso-Unternehmen» handle, sowie einen Hinweis, dass dessen Leiterin «in Strasbourg zur Anzeige gebracht wurde». Gemeint ist wohl der sich dort befindende Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Fischers Vorträge bestehen im Wesentlichen aus Anekdoten darüber, wie er seine Fantasiedokumente und haltlosen Behauptungen gegenüber den Behörden angewendet und stets über sie triumphiert habe, weil er dieser oder jener finanziellen Forderung am Ende nicht habe nachkommen müssen. Aber funktioniert das wirklich?
«Nein», sagt Roger Wiesendanger, ohne sich auf einen konkreten Fall zu beziehen. Die Mühlen der Demokratie würden langsam mahlen. Bis ein solches Verfahren alle Beschwerdeinstanzen durchlaufen habe, könne es bis zu zwei Jahre dauern, bevor eine Pfändung vollzogen werde. «Aber irgendwann trifft es die Leute immer. Und mit jedem Prozessschritt wird es teurer.» Denn die Verfahrenskosten trügen am Ende die Schuldner.
Zum Vorwurf, Leute dazu zu ermutigen, Rechnungen nicht zu bezahlen und sie dadurch womöglich in finanzielle Schwierigkeiten zu bringen, schreibt Fischer per E-Mail: «Jeder muss eigenverantwortlich handeln, weshalb die Vorträge nie für Geld angeboten wurden, da keine Garantien geleistet werden können.» Ob er die 7000 Franken je vom Betreibungsamt zurückbekommen habe? «Die Beilagen in der Bekanntmachung an die UBS sind allesamt überprüfbar und konnten deshalb nicht widerlegt werden.» Also wohl eher nicht.
Ein Flair für Waffen
Der Verschleiss von Steuergeldern durch das Zumüllen der Betreibungsämter ist ärgerlich. Doch das von Staatsverweigerern vertretene Gedankengut hat noch eine weitaus dunklere Seite. Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass die Szene erhebliches Gewaltpotenzial birgt.
2016 hat ein Anhänger der Reichsbürgerbewegung in Bayern einen Polizisten erschossen und drei weitere verletzt, weil man ihm seine 31 Waffen wegnehmen wollte. Im Februar 2022 wurde ein Polizist angefahren und schwer verletzt, im darauffolgenden April schoss ein Reichsbürger auf seinem Bauernhof erneut auf zwei Polizisten. Im Dezember 2022 kam es zu einer bundesweiten Razzia mit 25 Festnahmen gegen eine Gruppe von Reichsbürgern, die einen bewaffneten Staatsstreich geplant haben soll.
Im März kam es im Zuge der Ermittlungen zum selben Fall zu fünf weiteren Verhaftungen, wobei in Baden-Württemberg wieder ein Polizist angeschossen wurde. Unter den Verhafteten befanden sich auch zwei Schweizer aus dem Kanton St.Gallen. Die Bundesanwaltschaft hat ein Verfahren wegen des Verdachts auf Unterstützung oder Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Organisation gegen sie eröffnet.
Hierzulande gab es bislang noch keine Gewaltakte durch Mitglieder der Szene. «Aber der Blick nach Deutschland zeigt uns, was möglich ist», sagt der Kriminologe und Extremismus-Experte Dirk Baier. Denn die Szene, so heterogen sie sei, vertrete in der Schweiz grundsätzlich das gleiche Gedankengut wie in Deutschland. «Das Potenzial, zu versuchen, ihre Ziele mithilfe von Gewalt umzusetzen, ist hier auch vorhanden.»
Gewalt als legitimes Mittel
Baier, der das Institut Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) leitet, hat kürzlich die erste Studie über Staatsverweigerer in der Schweiz verfasst. Daraus geht hervor, dass über ein Drittel der «staatsverweigernd eingestellten» Befragten Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele als gerechtfertigt ansehen, inklusive Terrorismus.
Bei demokratisch eingestellten Personen beläuft sich der Anteil auf nur drei Prozent und ist damit zehn Mal tiefer. «Das heisst nicht, dass alle Staatsverweigerer gewaltbereit sind», sagt Baier, «aber es zeigt, dass man von einer gewissen Gefahr ausgehen muss. Es braut sich etwas zusammen».
Wie ernst muss man es also nehmen, wenn jemand wie Matti Gerber, der eingangs Artikel zitiert wurde, auf seinem Telegramkanal mit knapp 2500 Nutzern von einem drohenden Bürgerkrieg zwischen Staatsverweigerern und Polizei spricht? Wenn er dem gesamten Justizapparat organisierte Pädophilie unterstellt und dazu aufruft, Transsexuelle zu «jagen und zu penetrieren»?
Am Telefon gibt sich Gerber, der lange in Frauenfeld gewohnt hat, überraschend versöhnlich. Er habe nichts gegen Homosexuelle und verabscheue Krieg. Aber der drohende Bürgerkrieg zwischen Staat und Staatsverweigerern sei nun einmal Realität. Während der Pandemie seien die Waffenverkäufe im Land hochgegangen und in seinem Dorf habe es Schiessübungen gegeben. Seinen Telegramkanal bezeichnet er als seine «letzte Option, um an die Menschen heranzukommen».
Kriminologe Dirk Baier glaubt nicht, dass Gerber selbst gefährlich ist. Doch würde dieser mit dem Schaffen von Feindbildern und seiner aggressiven und martialischen Rhetorik andere aktiv aufwiegeln. «Solche Leute stacheln andere mit ihren Aussagen bewusst an. Sie können sozial abgehängte, instabile Menschen, bei denen diese Form von Hass auf fruchtbaren Boden fällt, dazu bringen, zur Tat zu schreiten und gewalttätig zu werden.»
Baier stellt klar, dass es hier nicht um Bürgerkriege oder Staatsstreiche geht. Die Institutionen in der Schweiz seien gefestigt und die Staatsverweigerer bei weitem nicht zahlreich oder organisiert genug. Doch es sei «nicht übertrieben, zu erwarten, dass einzelne Personen angegriffen werden könnten», wie beispielsweise Betreibungsbeamte oder Polizisten. Man dürfe daher nicht zulassen, dass die Bewegung weiter wachse. «Das ist eine extremistische und demokratiezersetzende Bewegung, die wir nicht unterschätzen dürfen.»
*Namen der Redaktion bekannt