Tages-Anzeiger.
In einer Schwyzer Berghütte trafen sich letzte Woche Dutzende Rechtsextreme. Die Behörden waren im Bild, wollten die Feier aber nicht stören.
Filmreife Szenen ereignen sich am letzten Freitag auf einer Schnellstrasse in der Nordostschweiz. Ein Kastenwagen des Grenzwachtkorps fängt ein Auto aus Deutschland mit drei Passagieren ab und geleitet es auf einen Rastplatz. Bald trifft ein zweiter Kastenwagen ein. Dieser bringt die Gäste zurück zum Grenzposten bei Schaffhausen, wo die Reisenden in Einzelzellen gesteckt werden und sich zur Leibesvisitation splitternackt ausziehen müssen. So schildert es einer der Betroffenen in einem im Internet veröffentlichten Video.
Frank Kraemer heisst der Mann. Als er am Freitag festgesetzt wird, ist er gerade unterwegs zu einem der grössten Neonazi-Treffen, das in den letzten Jahren in der Schweiz stattfand. In einer idyllischen Berghütte oberhalb von Galgenen SZ versammeln sich an jenem Wochenende gegen hundert Rechtsextreme zu einem munteren Anlass. Es gibt Vorträge, Verpflegung – rechte Geselligkeit.
Das Treffen ähnelt jenem rechtsextremen Festival, das 2016 in Unterwasser SG stattfand und dann wochenlang die Schlagzeilen beherrschte, weil die St. Galler Polizei den Hass-Event schulterzuckend geduldet hatte. Im Toggenburg spielten Rechtsrockbands, ein grosser Teil der Besucher kam aus Deutschland. In Galgenen dagegen gibt es nur Lieder mit Klavierbegleitung, und die meisten Teilnehmer sind Schweizer. Aber auch hier wissen die Behörden Bescheid. Und sie schauen einfach zu.
«Wie wärs mit kastrieren?»
Drei Stunden verbringt Frank Kraemer an jenem Freitag am Schaffhauser Grenzposten. Dass sich die Zöllner für ihn interessieren, kommt nicht von ungefähr: Kraemer ist in der Neonazi-Szene bestens bekannt als Gitarrist der Gruppe Stahlgewitter. Ihre Texte sind berüchtigt. Da heisst es zum Beispiel: «Es gibt diese Leute, die in ferne Länder fliegen, um schwitzend in der heissen Mittagssonne rumzuliegen. Die Typen schwarz wie Neger (…), wissen die denn nicht: Gesunde Bräune kommt von innen.» Und zu Schwulen singt die Band: «Für mich bist du ein perverses Schwein (…), pervers und abnormal – wie wärs denn mit kastrieren? Wenn ihr nicht kapiert, dass wir so etwas hassen. Keiner hindert euch, Deutschland zu verlassen.»
Während in Deutschland der Verfassungsschutz gefährliche Hetzer genau unter die Lupe nimmt, hat Kraemer in Schaffhausen nichts zu befürchten. Die Kontrolleure beschlagnahmen Bücher und Neonazi-Pamphlete des Gitarristen, dann aber lassen sie ihn seine Reise fortsetzen. Am Samstag erreicht Kraemer schliesslich die Neonazi-Feier in der Schwyzer Berghütte. Er hält dort einen Vortrag, wie er später auf Instagram berichtet. Zusammen mit einem zweiten deutschen Neonazi, Nikolai Nerling, der sich «der Volkslehrer» nennt und in seinen Internetvideos gern den Holocaust relativiert.
Nur ein Schweizer Referent: Flyer für das «Völkische Forum». Foto: PD
Verschiedene Quellen lassen erahnen, worüber die beiden referierten: Die «Nationale Aktionsfront» (NAF), eine Schweizer Neonazi-Gruppierung, veröffentlicht nach der Veranstaltung ein Foto von Kraemer und Nerling vor einer «Nationale Aktionsfront»-Fahne. Gemäss NAF trug das Treffen den Titel «völkisches Forum». In einer Einladung wurde Kraemers Vortrag mit dem Titel «Authentisches Leben als Nationalist» angepriesen. Ausserdem wurde ein anonymer deutscher Zeitzeuge angekündigt, bei dem es sich – wie wir jetzt wissen – um den «Volkslehrer» handelte.
Warum die Schweizer Neonazis Referenten und ihre Ideologie aus Deutschland importieren müssen? In der kleinen Schweizer Szene gibt es keine vergleichbar charismatischen Köpfe und Redner. Gemäss dem Flyer trat am «völkischen Forum» in Galgenen nur ein Schweizer Referent auf: Es handelt sich um Adrian Segessenmann von der rechtsextremen Avalon-Gemeinschaft. Er sprach zum Thema «Nationaler Sozialismus im 21. Jahrhundert».
Niemand fühlt sich zuständig
Warum aber unternahmen die Schweizer Behörden nichts, um die Feier der Rechtsextremen und die Verbreitung einer rassistischen Ideologie in Galgenen zu verhindern? Warum wurde Kraemer an der Grenze nicht einfach zurück nach Deutschland geschickt?
Die Eidgenössische Zollverwaltung teilt mit, sie habe die Weiterfahrt nicht verhindern können, weil gegen Kraemer kein gültiges Einreiseverbot verhängt worden war. Zuständig für Einreiseverbote wäre das Bundesamt für Polizei (Fedpol). Dieses schreibt, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip stets gewahrt werden müsse. «Die Interessen der Fernhaltung werden gegenüber den Interessen der Meinungsäusserungsfreiheit jeweils sorgfältig abgewogen.»
Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) wusste schon Wochen vor dem Anlass vom Neonazi-Treffen der Nationalen Aktionsfront und von Kraemers Vortrag. Auf die eigens dazu angereisten deutschen Neonazis angesprochen, antwortete der NDB schriftlich: Solange kein konkreter Gewaltbezug feststellbar sei, würden Personen, die sich politisch radikalisieren, nicht ins Aufgabengebiet des NDB fallen. Der NDB selbst könne auch keine Veranstaltungsverbote aussprechen. Man analysiere aber fortlaufend die Sicherheitslage und stehe in engem Kontakt mit den zuständigen Kantonen. Defensiv äussert sich schliesslich auch die Schwyzer Kantonspolizei zur Neonazi-Feier in Galgenen: Sie habe in enger Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden Massnahmen getroffen.
Diese Massnahmen bestanden offenbar darin, dass man die knapp hundert Neonazis gewähren liess, ihre Autonummern notierte und sie aus der Ferne beobachtete.
Anhand der Autokennzeichen liessen sich die Namen der meisten Teilnehmer eruieren. Eine starke Abordnung kam zum Beispiel von dem in Deutschland verbotenen, in der Schweiz aber legalen Blood-&-Honour-Netzwerk und von Combat 18 – C18, wobei die Zahl 18 für «Adolf Hitler» steht. Vertreten war auch das vor allem im Zürcher Oberland aktive «Stallhaus Schweiz» (SS). Den Vorträgen lauschten ausserdem einige Mitglieder der «Division Schweiz», die mit den in der Ukraine gegen russische Rebellen kämpfenden Rechtsextremisten des Azov-Bataillons verbandelt sein soll. Darüber hinaus waren einige Vertreter der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) anwesend, unter ihnen der Basler Neonazi Tobias Steiger. Seit längerem hat Steiger Strafverfahren wegen antisemitischer Rassendiskriminierung am Hals, die aber von der Basler Staatsanwaltschaft wegen «Überlastung», wie sie selbst schreibt, nicht prioritär behandelt werden.
Zu den Organisatoren der Neonazi-Feier in Galgenen gehört der im Aargau lebende Marc S., der auch bei den Ausschreitungen zwischen Linksextremisten und Neonazis in Schwyz vom April 2019 zugegen war. Beteiligt war auch der 55-jährige Otto Rölli aus dem Kanton Zug. Er gehört zur rassistischen «Heimatbewegung», die sich unter anderem für die Abtrennung der romanischen Schweiz vom deutschsprachigen Landesteil einsetzt. Rölli schreibt gern Leserbriefe und durfte auch schon in der «Neuen Zürcher Zeitung» vor den Gefahren des Multikulturalismus warnen. Er wurde 1990 wegen mehrerer Anschläge auf Asylunterkünfte zu einer bedingten Gefängnisstrafe von acht Monaten verurteilt.
«Volkslehrer» Nikolai Nerling besuchte in der Schweiz auch das Altdorfer Tell-Denkmal. Der Schweizer Nationalheld inspirierte ihn zu einem Selfie-Video. Zu den Klängen von Rossinis Oper «Wilhelm Tell» sagt Nerling: «Verbeugt hat sich Tell nicht 1307. 2017 habe ich nicht geschwiegen.» 2017 fing Nerling an mit seinen rechtsextremen Aktivitäten in den sozialen Medien, was zu seiner fristlosen Entfernung aus dem öffentlichen Dienst als Grundschullehrer in Berlin führte.
Infobox: Die Pnos stellt die Gretchenfrage
Die Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) ist mit mehr als 700 Mitgliedern die grösste rechtsextreme Organisation der Schweiz. Unter der Führung ihres neuen Präsidenten Flo Gerber befragt sie nun ihre Mitglieder zum Parteikurs. In der internen Umfrage ist auch eine Frage nach der persönlichen politischen Ausrichtung enthalten. Ankreuzen kann man «patriotisch», «nationalistisch», «nationalsozialistisch», «eidgenössisch-sozial» und «keine Angabe». Ausserdem wird die Frage gestellt, ob die Pnos «historische Sachen wie den Nationalsozialismus» beleuchten soll. «Sollen wir solche Themen aus strategischen Gründen ganz weglassen oder gerade deswegen mit einbeziehen?» Hintergrund der Frage ist ein parteiinterner Richtungsstreit zwischen Lagern mit mehr und weniger Sympathie für die nationalsozialistische Ideologie. (kp)