Wir müssen die freie Rede verteidigen

Facts

Rütlikommission-Präsidentin Judith Stamm über die Mutter aller Wiesen, rechtsextreme Provokateure am 1. August und das Demokratieverständnisvon Innerschweizer Politikern.

FACTS: Frau Stamm, wann waren Sie das erste Mal auf dem Rütli?

Judith Stamm: In der sechsten Klasse, 1945. Es war damals üblich, mit der Schule aufs Rütli zu gehen.

FACTS: Hat die Reise einen bleibenden Eindruck hinterlassen?

Stamm: Patriotische Gefühle kamen nicht auf. Ich erinnere mich, dass uns der Lehrer eingeschärft hat, beim Picknick ja keinen Abfall zu hinterlassen.

FACTS: Welche Bedeutung hat das Rütli für Sie heute?

Stamm: Es ist ein Kleinod. Erst kürzlich ist mir klar geworden, dass die Schweiz als nationales «Heiligtum» eine gewöhnliche Wiese hat. Es ist kein Palast und kein Triumphbogen. Dies brauchen die Schweizerinnen und Schweizer nicht. Wir haben ein «Mätteli». Deshalb kann man auch so viel hineininterpretieren.

FACTS: 2007 wird es mit der Frauenfeier einen ganz speziellen Anlass geben.

Stamm: Frauen mit Familien werden die Gäste sein. Es stimmt allerdings nicht, dass das von mir geplant wurde. Wenn man mir das zutraut, nehme ich es als Kompliment. Ich habe loyal zu den Innerschweizern diese Idee lange nur zaghaft vertreten.

FACTS: Von wem stammt die Idee dann?

Stamm: Von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey. Ihr Umfeld hatte bereits im August 2006 signalisiert, dass sie gerne auf dem Rütli reden würde. Ich erwähnte dies in verschiedenen Gremien immer wieder, bin aber nie auf Begeisterung gestossen. Hingegen haben fast alle Menschen, mit denen ich über die Idee sprach, positiv reagiert. Die Idee kam dann plötzlich im welschen Radio.

FACTS: Was nicht zu Ihrem Nachteil war.

Stamm: Im ersten Moment bin ich erschrocken. Nach der gestörten Rede von Samuel Schmid im Jahr 2005 hatte ich jedoch das Bedürfnis, die nächste Feier wieder mit einem Bundespräsidenten zu begehen. Ich wollte das Debakel reparieren, das die Rechtsextremen angezettelt hatten. Das war ein Ereignis, das wir so nicht stehen lassen durften. 2006 fragte ich Moritz Leuenberger an. Er antwortete mir, der Bundesrat sei der Meinung, dass er eher nicht als Redner auftreten solle. Man wolle keine Tradition mit Rednern aus dem Bundesrat begründen.

FACTS: Nun bringen Micheline Calmy-Rey und Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi 2007 die verspätete Reparatur?

Stamm: Genau. Als ich Calmy-Rey vom Widerstand der Innerschweiz erzählte, sagte sie wiederholt, es könne doch nicht sein, dass die Bundespräsidentin am 1. August nur wegen der Angst vor den Rechtsextremen nicht auf dem Rütli sprechen könne. Diese Meinung teile ich. Ich sagte ihr aber auch, dass ich die Skepsis in der Rütlikommission allein nicht überwinden könne. Das könnten nur die Frauen. Dann hat sich der Frauendachverband Alliance F eingeschaltet.

FACTS: Dann ging der Sturm erst recht los.

Stamm: In der Rütlikommission gab es Turbulenzen. Aber sie sagte, eine Bundesfeier mit den zwei höchsten Schweizerinnen passe auf das Rütli. Jetzt fehlt noch ein Element: Der Gemeinderat von Ingenbohl-Brunnen hat beschlossen, dass die Besucher nicht von Brunnen aufs Rütli fahren sollen. Ich kann nicht nachvollziehen, welche Gefahr von Frauen mit ihren Familien ausgeht, die vom Bahnhof zum Schiffssteg spazieren. Wir werden hier noch das Gespräch suchen.

FACTS: Manchen Innerschweizer Politikern würde auf dem Rütli ein Cervelat-Fest reichen. Tut Ihnen das weh?

Stamm: Wehtun ist gar kein Wort. Meine Welt steht auf dem Kopf, wenn auf dem Rütli keine freie Rede gehalten werden darf. Von mir aus kann man dort 364 Tage im Jahr Cervelats bräteln. Aber nicht an Stelle einer Bundesfeier.

FACTS: Was darf denn an der Feier auf dem Rütli auf keinen Fall fehlen?

Stamm: Die Feier ist ein Ritual. Es ist gleichzeitig zeitlos und aktuell, dass man sich auf dieser Wiese trifft. Wir sollen über die Gegenwart und die Zukunft unseres Landes nachdenken und sprechen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es am 1. August einen harmlosen Redner brauche.

FACTS: Sondern?

Stamm: Der Redner, die Rednerin muss frei sprechen können, die Gäste hören zu. Wenn sie nicht einverstanden sind, können sie nachher darüber diskutieren. So funktioniert Demokratie. Gerade am Nationalfeiertag müssen wir das wichtige Gut der freien Rede verteidigen. Es ist absurd zu verlangen, es dürfe weder über die Uno noch die EU oder die Integration gesprochen werden.

FACTS: Solche Forderungen kommen von gestandenen Innerschweizer Politikern.

Stamm: Sie haben eine ganz andere Auffassungen von einer 1.-August-Feier.

FACTS: 364 Tage im Jahr keine Kontroverse, und am 1. August erst recht keine.

Stamm: Ja. Vielleicht hängt diese Haltung mit der mangelnder Streitkultur hier zu Lande zusammen. Man hat Angst, dass das Fundament wackelt, sobald man für einmal nicht gleicher Meinung ist.

FACTS: Auch die Bundesräte Moritz Leuenberger und Christoph Blocher wurden schon bei Reden gestört.

Stamm: Moritz Leuenberger musste am 1. Mai in Zürich von der Rednerbühne flüchten, und Christoph Blocher musste an der Uni Bern zweimal den Saal wechseln. Mich beunruhigt, wie wenig Empörung das nach sich zog.

FACTS: Wieso ist es so weit gekommen?

Stamm: Die politische Kultur hat in den letzten Jahren enorm gelitten. Die «Classe politique» wurde attackiert und das Vertrauen in die Institutionen untergraben. Heute werden höchste Magistraten niedergeschrien oder von der Bühne verjagt, ohne dass das Wellen wirft.

FACTS: Es waren vor allem die SVP und Christoph Blocher, die die «Classe politique» angegriffen haben. Damit wären sie letztlich mitverantwortlich für die rechtsextremen Störaktionen.

Stamm: Die SVP als Ganzes sicher nicht, aber gewisse Exponenten der Partei tragen eine Mitverantwortung.

FACTS: Sie werden immer wieder angefeindet. Wie viel Kraft kostet das?

Stamm: Das bin ich bestens gewohnt. Schon als Nationalrätin habe ich schwierige Themen durchgetragen. Es hängt mit meinem Naturell zusammen. Wenn ich mich für etwas einsetze, dann ziehe ich es durch. Ich fühle mich zwar nicht mehr als Mutter Helvetia, wohl aber als Vertreterin eines Werts, der Meinungsäusserungsfreiheit. Wenn es heute noch nicht alle begreifen, dann begreifen sie es vielleicht später. Es ist sehr wichtig, was auf der Rütliwiese passiert. Das Rütli ist ein Hort der Freiheit und darf von niemandem eingenommen werden, weder von rechts noch links.

FACTS: Mal ehrlich: Sind Sie auch ein bisschen froh über den Rütli-Konflikt? Sie können ein Exempel statuieren und sich als Heldin feiern lassen.

Stamm: So ist das sicher nicht. Wie gesagt, ich bin nicht Mutter Helvetia.

FACTS: Es gefällt Ihnen aber, Ihren politischen Ruhestand noch ein bisschen mit Konflikten anzureichern.

Stamm: Konflikte nicht zu scheuen, ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Hier geht es ums Prinzip.

FACTS: Es gab schon Stimmen, die Ihren Rücktritt forderten.

Stamm: Als die Forderungen neu waren, sprach ich mit dem Schwyzer Landammann Alois Christen. Ich sagte ihm: Wenn es der Entspannung dient, könnte ich das in Erwägung ziehen. Christen sagte mir damals, das müsste ich mir überlegen. Er könne im Hauptort Schwyz mit niemandem sprechen, der nicht über mich klage. Vor drei Wochen besuchte ich das traditionelle Japanesenspiel in Schwyz. Ich war überrascht, wie liebenswürdig mich viele Menschen begrüssten. So tief war offenbar der Unmut nicht gegangen.

FACTS: Vielleicht ein Indiz dafür, dass die Bevölkerung nicht mehr bereit ist, den Rechten das Rütli zu überlassen?

Stamm: Ich hoffe es. Meistens gibt es irgendwann eine Wende. Ich glaube nicht, dass die Innerschweizer so weit gehen, dass sie vor den Rechten kuschen.

FACTS: Widerstand gibt es auch, weil man hohe Sicherheitskosten fürchtet.

Stamm: Ich habe nachgeschaut, wie hoch die Kosten für den Ordnungsdienst anderswo sind. In Luzern kann ein Match des FCL schnell mit 240 000 Franken zu Buche schlagen. Natürlich sind die letztjährigen Rütli-Sicherheitskosten von 1,5 Millionen hoch. Mich erstaunt aber, dass alle nur noch über die Kosten sprechen. Den Aufmarsch der Rechtsextremen von 2005 scheinen die meisten vergessen zu haben.

FACTS: Gibt es bei der Sicherheit einen Mittelweg zwischen 2005 und 2006?

Stamm: Es war immer klar, dass die Sicherheitsmassnahmen dieses Jahr heruntergefahren werden müssen. Calmy-Rey und Egerszegi versicherten mir, dass sie keine aussergewöhnlichen Vorkehrungen wollen. Wir sagten ihnen, dass sie in diesem Fall mit Störungen rechnen müssen. Sie meinten, das sei ihnen egal.

FACTS: Finden Sie es richtig, dass der Bundesrat die Feier als lokale Angelegenheit bezeichnet und nichts bezahlen will?

Stamm: Richtig ist es nicht, aber ich kann es nachvollziehen. Für 1.-August-Feiern waren immer die Gemeinden zuständig. Nur die Feier auf dem Rütli war seit 1949 national und hat Gäste aus der ganzen Schweiz angezogen.

FACTS: Uri und Schwyz wollen die Kosten auf die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft überwälzen. Verfügt sie über die Mittel?

Stamm: Als Organisatorin trägt die Gesellschaft die Kosten der Feier, des Ticketings, des privaten Sicherheitsdienstes. Die Kosten, die entstehen, um Veranstaltungen vor Störungen Dritter zu schützen, müssen die Kantone tragen. Das gilt ja nicht nur für die Rütlifeier. «

Judith Stamm: «Ich kann nicht nachvollziehen, welche Gefahr von Frauen mit ihren Familien ausgeht, die vom Bahnhof zum Schiffssteg spazieren.»

Die gebürtige Zürcherin sass zwischen 1983 und 1999 für die CVP Luzern im Nationalrat. Seit ihrem Rücktritt organisiert sie die 1.-August-Feierlichkeiten auf dem Rütli. Mit ihrem Einsatz für ein Fest mit nationaler Ausstrahlung hat sich die Präsidentin der Rütlikommission in der Innerschweiz viele Feinde geschaffen.

Judith stamm erteilt der Pfadi eine Absage

Nur eine Feier

Die Pfadi Luzern kann anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums der Pfadfinder am 1. August nicht auf dem Rütli feiern. Die Jugendbewegung wollte an diesem Morgen auf der Rütliwiese bei Sonnenaufgang ihr Pfadiversprechen wiederholen – der so genannte Scouting’s Sunrise findet weltweit statt. Judith Stamm begründete ihre Absage mit den Sicherheitsvorkehrungen an diesem Tag.

Unklar ist immer noch, wie die Gäste auf die Rütliwiese gelangen – Brunnen will an diesem Tag den Hafen sperren. Die Rütlikommission ist diesbezüglich mit der Gemeinde im Gespräch, eine Lösung ist nicht in Sicht.