Neue Zürcher Zeitung. Anders als Frankreich oder Deutschland führt die Schweiz keine offizielle Statistik zu antisemitisch motivierten Straftaten. Warum eigentlich?
Zwei Männer spazieren durchs Berliner Viertel Prenzlauer Berg, beide tragen eine Kippa. Kurz nach 21 Uhr greift sie ein Mann aus einer Dreiergruppe an. Er schreit «Yahudi», arabisch für Jude, und schlägt sie mit einem Gürtel. Dann flieht er zusammen mit seinen Begleitern. Es ist einer von mehreren Vorfällen innert kurzer Zeit, die in Deutschland publik geworden sind. In linken wie konservativen Medien ist die Meinung gemacht. Die Schlagzeilen ähneln sich: Der Antisemitismus erstarkt. Wie konnte das geschehen?
In der Schweiz kehrte das Thema bereits nach den Anschlägen auf «Charlie Hebdo» und einen jüdischen Supermarkt in Frankreich auf das politische Parkett zurück. Die Frage, wie Synagogen oder andere Einrichtungen der jüdischen Gemeinden geschützt werden sollen – und wer dafür bezahlen soll –, beschäftigt seither Bundesrat, Parlament und Kantone. Bund und Nachrichtendienst kommen in ihren Berichten zum Schluss, dass die Bedrohungslage für Juden weiterhin akut sei. Und in seinem Antisemitismusbericht stellt der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) fest: Die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle sei 2017 auch in der deutschen Schweiz gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
Das klingt dramatisch. Müssen sich auch Schweizer Juden – wie in Deutschland – künftig genau überlegen, ob sie in der Öffentlichkeit die Kippa tragen? Wie viel Hass schlägt ihnen heute entgegen – und wie sehr hat dieser in den letzten Jahren zugenommen?
Diese Fragen wären in der gegenwärtigen Situation wichtig zu beantworten. Denn in Deutschland und Frankreich verwandelte sich die Antisemitismusdebatte in eine Diskussion über die Integrationsfähigkeit von muslimischen Flüchtlingen, von denen der «neue Antisemitismus» ausgehen soll. Nur: Kann man die Fragen für die Schweiz überhaupt beantworten?
Anruf beim Bundesamt für Polizei: Wissen Sie, wie viele antisemitisch motivierte Straftaten in der Schweiz im vergangenen Jahr begangen wurden und ob deren Zahl zugenommen hat? Die Antwort ist kurz: Nein. Dafür sei das Fedpol nicht zuständig. Schliesslich ermittelten in diesen Fällen die lokalen Polizeikorps. Vielleicht wüssten diese weiter. Oder das Bundesamt für Statistik (BfS).
Das BfS ist der zentrale Speicher all dessen, was in der Schweiz zähl- und messbar ist. Doch auch hier bleibt die Suche erfolglos. Das BfS verfüge nicht über diese Daten. Denn: «Wir können nur aggregieren, was auch erhoben wird.»
Hinter der Antwort verbirgt sich die Geschichte eines Sonderwegs. Anders als etwa deutsche Polizisten sind Schweizer Polizisten bei der Aufnahme des Tatorts nicht dazu verpflichtet, festzuhalten, ob ein Verbrechen rassistisch, antisemitisch oder generell diskriminierende Hintergründe gehabt haben könnte. Deshalb fliesst das mögliche Tatmotiv nicht in die Statistik ein. In der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird jeweils nur ausgewiesen, gegen welche Straftatbestände im Vorjahr verstossen wurde. Wendet ein Antisemit gegen einen Juden Gewalt an, erscheint dies in der PKS in der Kategorie «Körperverletzung». Aus welchem Motiv eine bestimmte Tat begangen wurde, bleibt aber im Dunkeln.
Einen Spezialfall stellt der umstrittene Artikel 261bis des Strafgesetzbuches dar, besser bekannt unter dem Namen Antirassismusstrafnorm. Die Schweiz hat damit die Diskriminierung aufgrund rassistischer Motive als eigene Straftat definiert. Doch auch hier bleibt vieles unbekannt: Ob eine Tat nach 261bis aus antisemitischen, antimuslimischen oder anderen rassistischen Gründen ausgeübt wurde, weist die Statistik nicht aus. Die OECD schlägt für dieses Problem vor, dass jede beliebige Straftat auch als Hassverbrechen klassifiziert werden kann, sofern diskriminierende Motive festgestellt werden.
Vor zwei Jahren wurde über diese Thematik auch in der Schweiz diskutiert. Die BDP wollte vom Bundesrat wissen, wieso die Schweiz keine Daten über Hassverbrechen gegen Homo- und Transsexuelle verfüge. Der Bundesrat zeigte sich in der Debatte nicht grundsätzlich abgeneigt: Das BfS begann die polizeiliche Kriminalstatistik zu evaluieren.
Zur Diskussion stand, ob die Polizisten bei der Erfassung jeder Tat obligatorisch feststellen sollen, ob eine politisch-ideologische oder rassistische Motivation vorliegen könnte. Doch das Projekt wurde nicht weiterverfolgt, weil es als zu aufwendig erachtet wurde: Befürchtet wurde ein Papierkrieg mit zehnseitigen Formularen.
Doch für Rosmarie Quadranti, Nationalrätin der BDP, sind das vorgeschobene Argumente. «Die heutige Situation ist nicht akzeptabel. Wir brauchen Grunddaten zu den Tatmotiven. Wie soll zielgerichtete Prävention erfolgen, wenn nicht bekannt ist, wo und wie gross die Probleme sind.» Auch SP-Nationalrätin Nadine Masshardt, sieht dies ähnlich: «Es ist mir nicht klar, weshalb eine einheitliche Erhebung aus rechtlichen und finanziellen Gründen in der Schweiz nicht möglich ist. Andere Länder kennen und können dies ja auch.»
Heute muss man auf verschiedene Berichte abstellen, um ein Bild davon zu erhalten, wie verbreitet Antisemitismus in der Schweiz ist – und wie er sich entwickelt. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) pflegt eine Sammlung von Urteilen zu rassistischer Diskriminierung. Seit 2016 veröffentlicht zudem die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) einen Bericht zum Antisemitismus in der Schweiz. Doch auch dieser fasst vor allem die genannten Datenquellen zusammen.
Am zuverlässigsten ist da noch der jährliche Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). In der Romandie veröffentlicht die NGO Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation (Cicad) einen äquivalenten Bericht. 39 antisemitische Vorfälle verzeichnet der SIG für 2017, in der Westschweiz weist die Cicad 150 Fälle aus. Doch was sagen solche Zahlen aus? Daraus abzuleiten, dass die Romands viermal so antisemitisch sind wie die Deutschschweizer, wäre unzulässig, denn die Zahlen basieren nicht auf Verurteilungen oder Anzeigen, sondern auf Vorfällen, die den beiden Organisationen gemeldet wurden. Zudem rechnet die Cicad Vorfälle im Internet dazu. Belastbare Zahlen, die einen Vergleich mit anderen Ländern zulassen, fehlen in der Schweiz weiterhin.