Wie man sie aus der Szene holt

NeueZürcherZeitung

Seit fünf Jahren spricht die «Aktion Kinder des Holocaust» rechtsextreme Jugendliche im Internet an und versucht sie zum Ausstieg zu bewegen. Der Erfolg ist beachtlich – und auf eine weitherum einzigartige Vorgehensweise zurückzuführen. Die Basler Gruppe meldet das Treiben der Jugendlichen diskret den Eltern, dem Lehrmeister oder der Justiz und unterstützt sie danach beim Ausstieg.

Mit welcher Frage sich der 17-jährige Armin* im Juli 2000 im Forum des jüdischen Online-Magazins «haGalil.com» in Deutschland zu Wort meldete, weiss Samuel Althof heute nicht mehr genau. Der 49-jährige gelernte Psychiatriepfleger aus Basel weiss nur noch, dass Armin provokativ fragte, ob eine bestimmte Aussage als antisemitisch betrachtet werden müsse. Gegen den Rat der Betreiber des Online-Magazins schrieb Althof dem rechtsextremen Provokateur zurück. Und als dieser die E-Mail erwiderte, griff Althof erneut in die Tasten, und wieder und wieder – insgesamt über zwanzigmal. Es entstand ein Dialog, in dessen Verlauf der unter Pseudonym schreibende Althof zwei weitere fiktive Figuren auftreten liess. Die vier Gesprächspartner diskutierten im Forum von Armins eigener rechtsextremer Internetsite über die Definition von Rassismus, gewalttätige Ausländer, Armins indischen Kollegen und das Verhältnis zu seinen Eltern. Gleichzeitig meldete Althof den jungen Neonazi der Polizei. «Zu Beginn hatten wir etwas Angst. Erst recht, als unsere Recherchen ergaben, dass Armin ausgerechnet in der Region Basel wohnt», sagt Althof. Doch mit der Zeit bröckelte das Bild des beinharten Skinheads.

Virtuelle Gassenarbeit

Heute studiert der 22-jährige Armin Wirtschaft an einer Schweizer Universität. Er wurde wegen Verstosses gegen die Antirassismus-Strafnorm verurteilt. Aufgrund von Althofs Intervention distanzierte er sich vollständig von der Szene. Die zufällige Begegnung mit Samuel Althof bedeutete für Armin einen Neuanfang.

Dasselbe gilt für die Aktion Kinder des Holocaust (AKdH), deren Sprecher Althof ist. Die 1991 gegründete gemeinnützige Vereinigung von Nachkommen von Naziopfern hat sich der Extremismus-Prävention, der Bekämpfung des Antisemitismus und der Aufklärung verschrieben. «Der Dialog mit Armin brachte die Erkenntnis, dass man Rechtsextreme in Symptomatische und Programmatische unterteilen muss», sagt Althof. Fortan war klar: Ob die Chance besteht, einen Rechtsextremen zum Ausstieg aus der Szene zu bewegen oder nicht, lässt sich aufgrund seines Auftretens – zum Beispiel im Internet – erkennen.

Symptomatische Rechtsextreme, so Althofs Theorie, suchen nach Identität. Sie können dazu animiert werden, der Szene den Rücken zu kehren, weil ihr Auftreten nur Mittel zum Zweck ist. Oft sind es Mitläufer, auf deren Homepages Fotos, justiziable rassistische Sprüche und Witze voller Schreibfehler, aber keine eigenen politischen Statements zu finden sind. «Solche Sites sind wie Poesiealben», sagt Althof. «Wenn einer so etwas ins Internet stellt, ist das meist ein Hilferuf.»

Wird ein symptomatischer irgendwann zum programmatischen Rechtsradikalen, ist ein Ausstieg indes nahezu unmöglich. Das Gedankengut ist jetzt Lebensinhalt, wie etwa Vertreter der «Partei National Orientierter Schweizer» zeigen. Homepages wie jene dieser Partei kommen übersichtlicher daher, in geschliffener Sprache, meist ohne strafbare Inhalte. Gegen programmatische Rechtsradikale hilft nur politischer Druck – oder die Justiz.

Althof und sein dreiköpfiges Team haben aus dieser Erkenntnis heraus im Jahr 2001 eine neue Vorgehensweise entwickelt: das «Internet-Streetworking», Gassenarbeit im virtuellen Raum. Die AKdH hat den Begriff rechtlich schützen lassen und mit dem entsprechenden Konzept seither über 30 Rechtsextreme zum Ausstieg bewegt. Auf rund 900 Personen wird die Szene der Schweizer Neonazis geschätzt. Die AKdH steht gleichzeitig jeweils mit bis zu 20 von ihnen in Kontakt. Für diese Arbeit investiert alleine Althof pro Woche 30 bis 40 Stunden. Der Bund subventioniert das Projekt – dieses Jahr mit 80 000 Franken.

Täglich suchen zwei Internet- Streetworker das weltweite Netz nach neuen rechtsextremen Inhalten ab. Monitoring-Programme melden ihnen jede Veränderung auf den Homepages von Extremisten im deutschsprachigen Raum; rund 200 Sites behalten sie so gleichzeitig im Auge. Tritt ein bisher unbekannter Nutzer in Erscheinung, versucht Althof herauszufinden, ob es sich um einen Symptomatischen oder einen Programmatischen handelt. Ist es ein symptomatischer Rechtsradikaler, macht sich Althof auf die Suche nach der Identität des meist unter Pseudonym auftretenden angehenden Klienten. «Das gelingt oft, weil die Jugendlichen unbewusst Spuren hinterlassen», sagt Althof. Einer gab beispielsweise zu Spendenzwecken seine Postkontonummer an, anhand deren sich die Adresse eruieren liess.

Sind die Recherchen beendet, geht es ans Werk. «Hallo junger Mann im 3. Lehrjahr von der www.xy-bank.ch*. Es ist besser, Du löschst Deine Seite sehr schnell. Ich gebe Dir genau 24 Stunden dafür. Solltest Du Deine Seite nicht löschen, könnte dies Deine Lehrstelle kosten + Strafanzeige! Abu Adam – warnt nur einmal!» Diese Mitteilung fand der Banklehrling und Betreiber der Site www.sturmfront.com am 21. März 2001 um 22 Uhr 10 im elektronischen Briefkasten. Er löschte seine Site, und im folgenden schriftlichen Dialog mit «Abu Adam» alias Samuel Althof entpuppte sich das angebliche Mitglied der berüchtigten Hammerskins als hilfloser, verunsicherter Jugendlicher.

«Es ist wichtig, eine Situation zu schaffen, in der sich der Ausstieg für den Jugendlichen lohnt», sagt Althof. Oft informiert die AKdH vor dem ersten Kontakt die Eltern – bei Minderjährigen ohnehin -, den Lehrmeister oder die Justiz. Der so entstehende Druck wirkt unterstützend. Im Fall des Informatikerlehrlings Andreas*, in dessen Zimmer vor wenigen Monaten noch Fahnen mit Reichsadler und Hakenkreuz hingen, half ein Artikel des «Sonntags-Blicks» vom 16. Januar 2005, in dem der 17-jährige als Lehrling der Nationalbank geoutet wurde. «Es war enorm wichtig, dass die Nationalbank in die Präventionsarbeit einstieg und ihm die Grenzen aufzeigte, ohne ihn zu entlassen», sagt Althof. Auch die Mithilfe der Eltern sei wichtig.

Treffen im Bahnhof

Erst sah Andreas den anonymen Internet-Streetworker als Feind. «Dann begriff er, dass er sich irrt, weil ich den Eltern die Hintergründe seiner Situation verständlich machte», sagt Althof. Als der junge Neonazi seine Homepage vom Internet nahm, willigte Althof in ein Treffen im Bahnhof Zürich ein. «Wir redeten über alles Mögliche, nur nicht über Rechtsextremismus», sagt Althof. Nach dem Gespräch glaubte er die Ursache für Andreas‘ Abdriften in die braune Szene zu kennen: Ein Vater, der keine Zeit für ihn hatte, und eine Mutter, die ständig alles kontrollieren wollte, hatten beim Jugendlichen den Wunsch nach Abschottung ausgelöst; ein oft beobachtetes Muster.

«Ich bin immer no rechtspolitisierend. Sprich, au hüt wür ich nüt mit ere Brasilianerin aafange», schrieb Andreas vor wenigen Wochen in einer Erklärung im Internet, in der er auf seine Zeit als Neonazi zurückblickt. «Aber ich han denn mit em Sämi [Althof] sehr viel gredet, und konstruktivi Lösige gsuecht, und mir hend das super anebracht, und ich han mich vom einte uf de anderi Tag vo all dene Lüüt trennt, wo i dere Szene sind.» Kontaktabbruch sei eines der grundlegenden Zeichen eines gelungenen Ausstiegs, sagt Althof dazu. «Von entscheidender Tragweite sind aber auch Gefühle von Trauer und Scham zu den vergangenen Einstellungen und Handlungen.»

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Langzeitstudie mit 45 Aussteigern oder ausstiegswilligen Rechtsextremen der Universität Basel im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms 40+. «Unsere Studie führt zu einem ernüchternden Resultat», sagt indes der Erziehungswissenschafter und Ko-Leiter Wassilis Kassis. «Viele rechtsextreme Jugendliche steigen aus der Szene aus, ohne sich zugleich auch vom entsprechenden Gedankengut zu distanzieren.» Als aktives Mitglied der Szene würden sie mit Accessoires wie Bomberjacken oder Springerstiefeln auflaufen, zum Beispiel im Lehrbetrieb. Als unscheinbarer Sympathisant hätten sie weniger Probleme.

Das Internet-Streetworking ist als Kurzzeit-Intervention angelegt: Es soll einem Jugendlichen den Anstoss für eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Problemen – womöglich mit professioneller Hilfe – geben. Der Erfolg des Projekts ist denn auch nicht genau bezifferbar. Die Arbeit stützt sich heute mehr denn je auf Althofs Person. «Das Treffen mit einem Juden hat für einen Rechtsextremen eine besondere Bedeutung», sagt Samuel Althof. Der Rechtsextreme schreite dabei über seine eigenen Wertvorstellungen hinaus.

Beschimpfungen im Internet und Virenattacken auf die eigene Homepage nimmt Althof in Kauf. «Jude, hau ab nach Israel», stand einmal auf einem mit Kot verschmierten Zettel, der an seine Praxis für psychologische Beratung geschickt wurde. Seiner Motivation tut das keinen Abbruch. «Ich weiss, was Ausgrenzung bedeutet», erklärt er. Seine Mutter floh 1933 vor den Nazis aus Deutschland; zwei Schwestern seines Grossvaters wurden in Auschwitz vergast.