Republik.
Die Stadt Zürich hat jahrelang alle Forderungen nach Provenienz-Abklärungen der Bührle-Sammlung abgeblockt. Und macht weitere Versuche, ihre Verantwortung kleinzureden.
Der Bührle-Skandal am Kunsthaus in Zürich ist ein politisches Erdbeben. Er hat Positionen und Frontlinien durcheinandergewirbelt, zum grössten globalen PR-Desaster in der Geschichte Zürichs geführt, Empörung ausgelöst, öffentlichen Druck aufgebaut.
Der Skandal hat aber auch viel Positives bewirkt: Eine intensive Debatte ist in Gang gekommen. Und jetzt wird gehandelt.
In kürzester Zeit hat sich erstaunlich viel bewegt, auch wenn der Epochenwechsel noch nicht ganz überall angekommen ist: Die Bührle-Stiftung und die bisherige Kunsthausdirektion demonstrierten am 15. Dezember 2021 an einer Medienkonferenz auf eindrückliche Weise, dass sie nicht bereit sind, sich der historischen Verantwortung mit neuer Ernsthaftigkeit zu stellen. Allerdings lassen die empörten Reaktionen der Öffentlichkeit wenig Zweifel daran, dass die Zeiten, in denen ein solches Agieren ohne Folgen blieb, an ein Ende kommen dürften.
Entscheidend ist, dass die Politik einen Kurswechsel vollzogen hat. Stadt und Kanton Zürich haben sich auf eine Reihe von Massnahmen verpflichtet, die noch vor kurzem undenkbar erschienen.
Eine neue Ära
Dazu gehört, dass die politisch Verantwortlichen eine unabhängige Überprüfung der Bührle-Provenienzforschung angeordnet haben. Sie unterstützen die Einrichtung einer beratenden Kommission für die Restitution von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstwerken. Der Leihvertrag zwischen Kunstgesellschaft, Bührle-Stiftung und Bührle-Familie soll offengelegt und neu verhandelt werden. Zudem soll der Subventionsvertrag zwischen der Stadt Zürich und dem Kunsthaus Provenienzforschung nun zur Pflicht erheben (der neue Vertrag wurde schon vor der Eröffnung des Erweiterungsbaus aufgegleist, konnte aus nicht kommunizierten Gründen bis heute jedoch nicht unterzeichnet werden).
Auch vom Krisenmanagement des Kunsthausdirektors Christoph Becker und des Bührle-Stiftungsdirektors Lukas Gloor haben sich die politischen Instanzen inzwischen merklich distanziert.
Findet also ein Paradigmenwechsel statt?
Die Republik hat als erste öffentliche Stimme im Zusammenhang mit dem Bührle-Skandal die Institutionalisierung einer beratenden Kommission gefordert. Sie ist bereits im November zum Schluss gekommen, dass ein zügiger Rücktritt von Direktor Becker in der heutigen Lage hilfreich wäre. Auch für die Offenlegung des Leihvertrags hat die Republik plädiert. Zahlreiche Medien und Exponenten der Wissenschaft vertreten heute diese Positionen.
Stadtpräsidentin Corine Mauch betont zum einen, dass sie die öffentliche Debatte sehr begrüsse und schon immer unbedingt fördern wollte, beklagt sich andererseits aber darüber, dass die Auseinandersetzung so «heftig» geworden sei. Diese Haltung ist nicht widerspruchsfrei: Erst nachdem sich die öffentliche Kritik mit grosser Heftigkeit artikuliert hatte, sind die heutige Debatte und die politische Handlungsbereitschaft überhaupt entstanden.
Allerdings ist es richtig, dass in der Berichterstattung auch Fehler passiert sind – wovon die Republik nicht ausgenommen ist.
In Teil 1 der Serie «Bührle-Connection» kamen wir zum Schluss, dass es im Leihvertrag eine Klausel geben müsse, welche es der Stadt untersagen soll, aus eigener Initiative die Provenienzen der Bührle-Stiftung untersuchen zu lassen. Diese Schlussfolgerung kann wohl nicht zutreffen, dafür entschuldigen wir uns. In der aufgeladenen komplexen Debatte um den Skandal sollten sich alle darum bemühen, so präzise wie möglich zu sein. Und Falsches offen zu korrigieren.
Zwar gab es eine vertragliche Vereinbarung zur Zuständigkeit für Provenienzforschung zwischen der Kunstgesellschaft und der Bührle-Stiftung, aber nicht mit der Stadt. Trotzdem schien sich die Stadtregierung eisern an ein Agreement zu halten – das offenbar nur informell geblieben ist. Was bedeutet das genau für den Kunsthaus-Deal? Dazu später mehr.
Jetzt, da die Dinge sich bewegen, sollte primär um adäquate Lösungen gerungen werden. Allerdings wird man aus dem Versagen vor der Geschichte – für welches die ungenügende Aufarbeitung der Entstehungsbedingungen der Bührle-Sammlung steht – die richtigen Lehren erst dann ziehen, wenn auch die Geschichte dieses Versagens wirklich erzählt ist.
Mauch vs. Mauch
Wie ist es gekommen, dass eine öffentliche Investition von gegen 150 Millionen Franken in ein Reputationsdesaster mündet? Warum steht 20 Jahre nach Abschluss der Bergier-Berichte erneut der Verdacht im Raum, erinnerungspolitische Verantwortung bleibe hierzulande ein ewiges Lippenbekenntnis?
Das Vertrauen muss wiederhergestellt werden: das Vertrauen in den Aufklärungswillen der politischen Instanzen; das Vertrauen in die Bührle-Provenienzforschung; das Vertrauen in das Kunsthaus Zürich. Das kann nicht geschehen, ohne zu klären, wie die Stadt Zürich den erinnerungspolitischen GAU produziert hat.
Dass Stadtrats- und Gemeinderatswahlen anstehen, macht die Sache nicht einfacher. Die Bührle-Stiftung im Kunsthaus ist momentan das Thema, welches das grösste Potenzial hat, die Stadtpräsidentin, die für das Dossier zuständig ist, politisch zu beschädigen. Für Wahrheitsfindung ist das keine optimale Ausgangssituation.
Allerdings gibt es einen Umstand, der die Aufarbeitung des Bührle-Skandals begünstigen sollte: Corine Mauch ist vollkommen ungefährdet. Ihre Nicht-Wiederwahl in den Stadtrat ist undenkbar, für das Amt der Stadtpräsidentin existiert noch nicht einmal ein Gegenkandidat. Diese Unantastbarkeit sollte für Entspannung sorgen. Mauch könnte sich hinstellen und sagen: Wir haben schwere Fehler gemacht. Wir wollen einen klaren Kurswechsel vollziehen, der Sache zuliebe. Vorderhand ist davon nicht sehr viel zu spüren.
Das führt zu einer seltsamen Situation. Heute hat Corine Mauch eigentlich nur noch eine ernst zu nehmende Gegnerin: die Corine Mauch von gestern.
Ihre Handlungen und Aussagen von gestern, die immer wieder in so auffallendem Gegensatz stehen zu vielem, was sie heute für richtig erklärt – und die dennoch immer angemessen und richtig gewesen sein sollen. Es wäre wichtig, dass die erinnerungspolitische Glaubwürdigkeit der Stadtregierung wieder hergestellt wird. Der Versuch, das Bührle-Desaster zu beschönigen, wird diesen Prozess nicht voranbringen.
In zwei grossen Interviews in der NZZ und im «SonntagsBlick» hat die Stadtpräsidentin nach dem Jahreswechsel zu den Vorgängen um die Bührle-Stiftung Stellung genommen. Es wird ein Bild gezeichnet, das sich gegenüber den Tatsachen beträchtliche Freiheiten herausnimmt.
Schauen wir noch einmal zurück.
Die nicht gehörte Kritik
«Die Sammlung ist ins Kunsthaus übergeführt worden, wie von uns geplant und vom Volk genehmigt.» So lautet der erste Satz des NZZ-Interviews. Er blendet zurück an den Ursprungsmoment des heutigen Bührle-Skandals. Doch er macht bereits eine zwar nicht falsche, aber irreführende Aussage.
Über die Überführung der Bührle-Stiftung ins Kunsthaus ist nie abgestimmt worden, lediglich über den Kredit für den Kunsthaus-Erweiterungsbau. Zwar hätte damals aus Anlass der Abstimmung eine breite Debatte über die Sammlung der Bührle-Stiftung und ihren Transfer ins öffentlich subventionierte Kunsthaus stattfinden können und stattfinden müssen. Es erhoben sich im Vorfeld auch zahlreiche kritische Stimmen, die über dieses Thema eine Debatte in Gang bringen wollten. Die Stadtregierung jedoch hat grosse Anstrengungen unternommen, um diese Diskussion so marginal wie möglich zu halten. Die Behauptung, man habe von Anfang an die erinnerungspolitische Auseinandersetzung aktiv gesucht und «diese auch gewünscht», wie Corine Mauch in der NZZ behauptet, ist nicht zutreffend.
Sehr beredt legt von dieser Tatsache bereits die Vorlage des Stadtrats Zeugnis ab, mit welcher der Gemeinderat den 88-Millionen-Franken-Kredit plus eine Erhöhung der jährlich wiederkehrenden Betriebskosten um 7,5 Millionen Franken für den Erweiterungsbau abgesegnet hat. Das Dokument umfasst 17 Seiten, zahlreiche Planungs-, Budget- und Termindetails, aber auch Äusserungen wie diese: «Das kulturelle Angebot trägt wesentlich zur Standortattraktivität der Stadt Zürich bei. Das Kunsthaus nimmt dabei eine zentrale Funktion ein.»
Der standortpolitische Ehrgeiz, der mit der Kunsthaus-Erweiterung verbunden war, schien kaum noch Grenzen zu kennen: «Zahlreiche Städte in der Schweiz und in Europa vermochten sich durch herausragende Museumsbauten zu profilieren», heisst es weiter in dem Dokument. «Erwähnt werden können hier etwa die Fondation Beyeler in Riehen, das Kleezentrum in Bern, die Tate Modern in London oder das Guggenheim-Museum in Bilbao. Mit der geplanten Erweiterung kann das Kunsthaus Zürich seine internationale Bedeutung festigen.»
Und die Bührle-Sammlung? Sie wird nur ganz am Rand erwähnt, unter anderem in dem Satz: «Ohne Erweiterungsbau mit neuen Sammlungsräumen fehlt der notwendige Raum, um die Kooperation mit der bedeutenden privaten Sammlung E. G. Bührle einzugehen und der Öffentlichkeit den Schwerpunkt der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts zu präsentieren.» Von historischer Vorbelastung, von Raubkunst, vom Willen zur Auseinandersetzung, vom Wunsch, die Bührle-Sammlung zu integrieren, um sich der historischen Verantwortung zu stellen, steht im Antrag jedoch keine Silbe.
Zu erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen ist es im Zürcher Gemeinderat allerdings trotzdem gekommen, wenn auch nicht auf Betreiben der Stadtregierung. Mit bemerkenswerter Klarsicht hat die Linkspartei Alternative Liste (AL) sämtliche Fragen, welche heute die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzen, schon damals explizit zur Debatte gestellt. In einem Postulat der Fraktion AL vom November 2012 zum Beispiel steht zu lesen:
Solange nicht einwandfrei erwiesen ist, dass sich weder Raub- noch Fluchtkunst im Kunsthaus befindet, setzt sich das Zürcher Kunsthaus, grossem – auch internationalem Druck aus. […] Es reicht nicht, dass die Sammlung Bührle die Provenienzabklärungen in eigener Sache, intern durchführt. Es braucht eine unabhängige Expertise. Tatsache ist, dass auf der Website der Kunstsammlung Bührle zwar akribisch alle Handänderungen zu den Bildern aufgeführt werden, jedoch die Umstände, die zu den Handänderungen geführt haben, im Dunkeln bleiben.Postulat GR Nr. 2012/438 der AL vom 21.11.2012.
Besser als mit diesem Postulat von 2012 könnte man den heutigen Diskussionsstand kaum zusammenfassen.
In der Antwort auf das Postulat tut die Stadtregierung jedoch, was sie in der Folge so häufig tun sollte: sich mit Verve zur «historischen Wahrheitsfindung» bekennen – und den Forderungen ausweichen. «Es ist bekannt, dass die Provenienzforschung, welche die Stiftung Sammlung Bührle betreibt, in Fachkreisen als vorbildhaft gilt», so die Stadtregierung. «Wissenschaftliche Ergebnisse – und als solche ist Provenienzforschung zu betrachten – gewinnen an Wert und Aussagekraft, wenn sie von aussenstehenden Fachleuten überprüft werden können. In diesem Sinne hat die Stiftung Sammlung Bührle ein ureigenes Interesse an einer aussenstehenden Überprüfung ihrer bisherigen Forschung.» Hier wird atemberaubende Argumentationsakrobatik betrieben: Die Bührle-Stiftung soll ein ureigenes Interesse an einer aussenstehenden Überprüfung haben – und genau deshalb muss eine aussenstehende Prüfung offenbar nicht stattfinden.
Doch nicht nur in der AL, auch in der Gemeinderatsfraktion der SP gab es vereinzelte Stimmen, insbesondere diejenige von Christine Seidler, welche die Stadt schon 2010 mit Vorstössen auf ihre Aufarbeitungspflichten festlegen wollten. Auch Seidler wird beschwichtigt mit dem Argument, eine Prüfung der internen Bührle-Forschung sei gar nicht nötig aufgrund der Tatsache, «dass sowohl die Stiftung Sammlung E. G. Bührle wie das Kunsthaus Zürich kein Interesse daran haben, Fakten zu verbergen. Sollten prekäre Fakten auftauchen, schadet das der Stiftung und dem Kunsthaus Zürich selber.» Aus heutiger Sicht bestätigt sich dieses Argument, wenn auch etwas anders als damals intendiert: Der Schaden ist inzwischen eingetreten.
Zu den bitteren Pointen der Bührle-Saga gehört im Übrigen auch, dass Christine Seidler vor einem Monat, auf dem Höhepunkt des Bührle-Skandals, definitiv aus dem Zürcher Gemeinderat ausgeschieden ist. Die einzige SP-Gemeinderätin, die sich über lange Jahre konsequent für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Bührle-Sammlung engagiert hat und keine Hemmungen zeigte, den Stadtrat immer wieder herauszufordern, wurde von der Stadtzürcher SP für die kommenden Wahlen nicht mehr aufgestellt.
Unter Ausschluss der Vergangenheit
So weit der politische Prozess im Zürcher Stadtparlament. Aber, so kann man einwenden, die Debatte definiert sich weniger durch das Tauziehen im Gemeinderat als durch die öffentliche Auseinandersetzung. Diese hat durchaus stattgefunden, es kam im Vorfeld des Urnengangs sogar zu einer abgewiesenen Stimmrechtsbeschwerde und schliesslich mit einem Ja-Anteil von 53,9 Prozent zu einer relativ knappen Annahme des Erweiterungsbaus. Schon im damaligen Abstimmungskampf (und bei der Stimmrechtsbeschwerde) stand jedoch die Frage im Vordergrund, ob der Stadtrat seinen Informationspflichten angemessen nachgekommen war. Die offizielle, von der Stadt herausgegebene Abstimmungszeitung für die Kunsthaus-Erweiterung wirft auch aus heutiger Perspektive ein paar Fragen auf.
Erste Überraschung: In der Kurzzusammenfassung der Vorlage kommt in der Abstimmungszeitung der Reizbegriff «Bührle» erst gar nicht vor. Die Rede ist lediglich von «namhaften Privatsammlungen», für die mit dem Neubau Platz geschaffen werden soll. Zweite Überraschung: Im Text der Broschüre finden sich zum historischen Belastetsein der Bührle-Stiftung exakt zwei Sätze. Es lohnt sich, sie zu zitieren:
Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat sich in den vergangenen Jahren intensiv in der Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte ihrer Sammlung engagiert. Die Präsentation der Werke der Stiftung in der Kunsthaus-Erweiterung wird von den Erkenntnissen dieser Provenienzforschung flankiert und informiert die Besucherinnen und Besucher über die historischen Zusammenhänge auf angemessene Art.Abstimmungszeitung Stadt Zürich, 19. September 2012.
Kein einziges Wort dazu, worauf diese Provenienzforschung sich bezieht, um welche historischen Zusammenhänge es sich handelt, wie Bührle sein Vermögen gemacht hat, in welchem Kontext er die Kunstwerke erstand. Nichts.
Statt der Begriffe «Zweiter Weltkrieg», «Raubkunst», «NS-Verfolgung», «Waffenhändler», «jüdische Sammler» findet man in der städtischen Informationsbroschüre Formulierungen wie «Positionierung Zürichs als Kulturstadt», «das grösste Kunstmuseum der Schweiz», «dynamisches Wettbewerbsumfeld», «wichtigster europäischer Standort für den Impressionismus nach Paris». Bereits ein flüchtiger Blick auf diese amtliche Publikation bestätigt auf erdrückende Weise die These, die Erich Keller in seinem Buch «Das kontaminierte Museum» so überzeugend entwickelt hat: Für die Stadtregierung hatte das Standortmarketing absolute Priorität. Alles andere war sekundär – und wurde deshalb so weit als irgend möglich aus der öffentlichen Debatte herausgehalten.
Die Erinnerungspolitik sollte nicht zu einem zentralen Thema werden. Obwohl es Beobachterinnen gab, die einen luziden Blick auf die belastete Sammlung hatten und bereits damals vor unbedachten Abenteuern warnten. Und obwohl eigentlich allen Beteiligten hätte klar sein müssen, dass die Sammlung des Waffenhändlers Bührle – des mit Abstand stärksten Symbols für das moralische Versagen der Schweiz im Zweiten Weltkrieg – nur dann in ein öffentlich finanziertes Museum überführt werden kann, wenn eine schonungslose Aufarbeitung gemacht und eine intensive Debatte geführt wird. Allerdings können auch Gründe geltend gemacht werden, die das damalige Verhalten der Stadtregierung mindestens nachvollziehbar werden lassen.
Die Bührle-Provenienzforschung war in den vorangehenden Jahren von der Stiftung mit beträchtlichem Aufwand betrieben worden und erfüllte einen höheren Standard, als man das von den meisten öffentlichen Sammlungen in der Schweiz im Jahr 2012 hätte behaupten können. Ihre Defizite waren zwar schon damals offenkundig, aber im Vergleich zum Stand der Erforschung anderer Sammlungen erschien sie dennoch äusserst fortschrittlich. Der vollständig publizierte Katalog der rekonstruierbaren Handänderungen setzte neue Standards. Die Stadt hat sich deshalb immer auf die Behauptung gestützt, dass die Provenienzforschung bei Bührle den höchsten Ansprüchen gerecht wird. Das war zwar schon 2012 eine gewagte Hypothese, doch es gab Argumente für diesen Vertrauensvorschuss.
Hinzu kam, dass auch die Haltung der Öffentlichkeit damals eine andere war.
Es war leichter, die historische Belastung der Bührle-Stiftung aus der öffentlichen Debatte ein Stück weit herauszuhalten – ganz einfach, weil sie die Bürger weniger stark beschäftigte. «Ich stelle fest, dass eine gesellschaftliche Debatte nicht stehen bleibt. Wir befinden uns heute, zehn Jahre später, an einem anderen Punkt», gibt Stadtpräsidentin Mauch im «SonntagsBlick»-Interview zu bedenken. Es ist unbestreitbar, dass sich gesellschaftliche Erwartungen verändern, und es ist normal, dass während eines politischen Prozesses, der mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch nimmt, sich die Beurteilungsgrundlagen verschieben.
Allerdings gibt das noch keine Antwort darauf, wofür rot-grüne Erinnerungspolitik in Zürich stehen soll. Will man vorangehen und das Geschichtsbewusstsein stärken? Nimmt man die Wissenschaft ernst? Ist historische Verantwortung für die eigene Agenda relevant? Oder begnügt man sich damit, immer dann, wenn die öffentliche Meinung sich gewandelt hat, die unausweichlich gewordenen Konzessionen zu machen?
Ein unzweideutiger Positionsbezug wäre wichtig, gerade weil die Debatte im Fluss bleibt. Nach der Abstimmung über den Erweiterungsbau änderte sich die Lage jedenfalls rasch.
Das unbelehrbare Zürich
2014 ging das Gurlitt-Legat – der schwer kompromittierte Nachlass des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt – ans Kunstmuseum Bern, und 2015 erfolgte die Publikation des «Schwarzbuch Bührle». Die Problematik des Nazi-Kunstraubs begann, in der öffentlichen Wahrnehmung einen grösseren Platz einzunehmen.
Das Berner Museum begriff, dass es nur mit einer Strategie der offensiven Aufklärung und Restitution die Gurlitt-Sammlung in die eigenen Bestände aufnehmen konnte. Das «Schwarzbuch» schliesslich bestätigte die Zweifel an der Qualität der Bührle-Provenienzforschung. Hauptsächlich in dem von Guido Magnaguagno beigesteuerten Kapitel wird eindrücklich vorgeführt, dass die katalogisierten Handänderungen zwar nützlich, aber bei weitem nicht ausreichend sind, um die hinter den Gemälden sich verbergenden Biografien und Zwangslagen zu erfassen. Spätestens nach der Publikation des «Schwarzbuchs» hätte man sich auch bei der Stadt ein paar Fragen stellen müssen zur Qualität der Bührle-Provenienzforschung.
Das tat man nicht.
Wiederum war es die bereits erwähnte SP-Gemeinderätin Christine Seidler, welche die Präsidialabteilung herausforderte. In einem Vorstoss vom Dezember 2015 wollte sie im Anschluss an das «Schwarzbuch» Auskunft über «Möglichkeiten zur Aufarbeitung und Darstellung der historischen Verantwortung der Sammlung sowie Hintergründe zur Provenienzen-Forschung der Kunsthaus-Sammlung». Seidler forderte eine «aktive Provenienz- und/oder Restitutionspolitik».
In einer ersten Phase lässt die Antwort des Stadtrats dann tatsächlich hoffen, dass die Zeichen der Zeit erkannt worden sind. Im Oktober 2016 sagte Corine Mauch gemäss Ratsprotokoll in der Debatte zur Interpellation von Seidler:
Der Stadtrat begrüsst eine aktive und transparente Provenienzforschung. Er fordert sie auch ein und beteiligt sich aktiv daran. Dies gilt auch für die Entstehungsgeschichte der Sammlung Bührle. Wir wollen mit externen Experten und Expertinnen zusammenarbeiten.Protokoll der 121. Ratssitzung, Gemeinderat Stadt Zürich, 26. Oktober 2016.
Das war eine starke Reaktion, die einen klaren Kurswechsel versprach, ein offensives Engagement gar. Das Problem ist nur: Getan wurde das Gegenteil.
Als nämlich im darauffolgenden Sommer das Mandat jener unabhängigen Forschungsgruppe veröffentlicht wurde, welche die Stadt in Reaktion auf das «Schwarzbuch» und den Seidler-Vorstoss lancierte, war alles wieder anders. Die damals ins Leben gerufene Forschungsgruppe um Matthieu Leimgruber sollte zwar unabhängige Forschungen anstellen – ein Anspruch, dem man in der Folge nicht gerecht geworden ist –, aber die Bührle-Provenienzforschung wurde explizit aus dem Forschungsauftrag ausgeschlossen.
Selbst für die Verhältnisse der Zürcher Bührle-Wirrungen ist das ein verblüffender Vorgang: Kritik an der Provenienzforschung wird von der Stadtpräsidentin mit der verständnisvollen Zusicherung von unabhängiger Provenienzforschung aufgefangen. Und dann wird zu diesem Zweck eine Forschungsgruppe ins Leben gerufen, die Provenienzforschung explizit nicht betreiben darf. Was wurde hier gespielt?
Es ist ein mysteriöser Vorgang, der nicht nur als Fehlleistung der Stadt erscheint, sondern eben auch die Republik zu einem Fehlschluss verleitet hat. Wir haben behauptet, die bisherige Weigerung der Stadt Zürich, sich eigenständig um Provenienzforschung zu kümmern beziehungsweise die Leimgruber-Forschungsgruppe zu Provenienzforschung zu autorisieren, könne sich nur daraus erklären, dass es im Leihvertrag eine Bestimmung gebe, welche es der Stadt untersage, eigenständige Provenienzforschung zu betreiben, bis die Bührle-Säle im Kunsthaus eröffnet sind. Diese Aussage ist, wie schon angemerkt, aller Voraussicht nach nicht zutreffend.
Letzte Gewissheit wird sich zwar erst schaffen lassen, wenn der Leihvertrag endlich offengelegt ist – seine Veröffentlichung ist schon länger angekündigt, scheint aber auf nur schwer zu überwindende Hindernisse zu stossen –, doch nach heutigem Kenntnisstand dürfte die Stadt vertraglich nicht gebunden gewesen sein. Sie ist nämlich nicht Vertragspartnerin des Leihvertrags, und ein privatrechtlicher Vertrag kann dritten Parteien keine rechtsverbindlichen Vorschriften machen. Nur die Kunstgesellschaft, die Bührle-Familie und die Bührle-Stiftung unterzeichneten den gemeinsamen Vertrag, in dem auch die Zuständigkeit für Provenienzforschung geregelt ist.
Trotzdem berief sich die Präsidialabteilung, wie ein Schreiben belegt, das der Republik vorliegt, explizit auf den Leihvertrag, als sie Maeva Emden mitteilte, dass die Stadt Zürich für Restitutionsforderungen nicht zuständig sei. Maeva Emden ist eine Nachfahrin des jüdischen Kunstsammlers Max Emden, trug für ihre Familie den Anspruch auf Rückgabe eines Monet-Gemäldes aus der Bührle-Sammlung im September 2020 an die Präsidialabteilung heran – und wurde empathielos abgeschmettert. Corine Mauch liess ausrichten, ihrer Verantwortung unterliege diese Angelegenheit nicht.
Das Antwortschreiben der Stadt hält zwar korrekt fest: «Die Stadt Zürich als Subventionsgeberin ist nicht Partei dieser Vereinbarung [des Leihvertrags]». Aber dennoch soll sich aus der vertraglichen Regelung der Zuständigkeiten ergeben, dass die Stadt sich nicht mit dem Emden-Fall zu befassen hat: «Wir bitten Sie deshalb, sich direkt an die Sammlung E. G. Bührle zu wenden.»
Dass die Stadtregierung agierte, als wäre sie Teil des Deals zwischen Kunstgesellschaft und Bührle-Stiftung, ist zwar insofern absolut sinnfällig, als Corine Mauch und ihr damaliger Kulturdirektor im Vorstand der Kunstgesellschaft sassen. Aber rein juristisch hätte die Präsidialabteilung wohl jederzeit die Möglichkeit gehabt, eigenständige Provenienzforschungen anzustellen. Sie hätte gekonnt – aber sie wollte nicht.
Zwischen Bührle-Stiftung, Kunsthaus und Stadtregierung bestand demnach kein vertraglicher, sondern ein informeller Deal. Fest steht jedenfalls, dass die politischen Instanzen an die Provenienzzuständigkeit der Stiftung nicht rühren wollten, auch nicht, als die Eröffnung des Erweiterungsbaus bereits in grosse Nähe gerückt war. Auch nicht, als die Nachkommen eines jüdischen Flüchtlings direkt um Hilfe baten. Warum, bleibt ungeklärt.
Plötzlich alles anders?
Der mangelnde Wille zu erinnerungspolitischer Intervention ist jedenfalls der rote Faden des stadträtlichen Regierungshandelns in allen Phasen des Bührle-Skandals. Mochte man in einer frühen Phase noch geltend machen, die vermeintliche Qualität der Bührle-internen Provenienzforschung habe die Stadtpräsidentin davon überzeugt, dass weitergehende Anstrengungen ganz einfach überflüssig seien, so wurde dieses Argument in späteren Phasen immer unglaubwürdiger.
Diese Tatsachen sind insbesondere mit Blick auf die heutige Entwicklung relevant. Einen radikalen Kurswechsel vollzogen Stadt und Kanton Zürich, als sie am 10. November letzten Jahres eine Medienmitteilung veröffentlichten und sich plötzlich dazu bekannten, dass die Provenienzforschung der Bührle-Stiftung unabhängig überprüft werden müsse. Der Positionswechsel muss sehr abrupt erfolgt sein.
In einem Interview, das die SRF-Sendung «Kulturplatz» kurz vor der Eröffnung der Bührle-Sammlung im neuen Erweiterungsbau, also Anfang Oktober, durchführte, sagte Corine Mauch jedenfalls noch: «Das ist nicht die Aufgabe der Stadt, von einer privaten Sammlung die Provenienzforschung durchzuführen oder zu überwachen.» Einen Monat später, nur ein paar Tage nachdem die ehemaligen Mitglieder der Bergier-Kommission eine unabhängige Überprüfung der Bührle-Provenienzen fordern, ist alles anders.
Allerdings halten Stadt und Kanton in ihrer gemeinsamen Medienmitteilung vom 10. November auch fest, dass sie nicht primär sich selber, sondern die Kunstgesellschaft für zuständig erachten. Sie stehen weiterhin auf dem Standpunkt, es sei generell nicht an der Politik, sich für weitere Forschung starkzumachen. Und wenn schon nicht die Kunstgesellschaft, so sollen sich die Universitäten engagieren: «Stadt und Kanton sehen hier in erster Linie die staatlich getragenen Wissenschaftsinstitutionen in der Verantwortung. Diese sind dafür kompetent und grundsätzlich auch für die Finanzierung zuständig», heisst es in der Medienmitteilung. Stadt und Kanton würden sich lediglich mit punktueller Anschubfinanzierung beteiligen wollen.
Die grundsätzliche Nicht-Zuständigkeit scheint also weiterhin die Haltung der Zürcher Politik zu bestimmen. Kann man auf dieser Basis die Bührle-Stiftung überhaupt überprüfen lassen? Mit der ständigen Ansage, dass man im Prinzip gar nicht involviert werden will? Soll das die Leitvorstellung bleiben, wie in Zürich erinnerungspolitische Verantwortung übernommen wird?
Wie gross der Unwille ist, sich zu engagieren, zeigt auch der Budgetprozess im Gemeinderat, der dazu führte, dass 500’000 Franken für die Überprüfung der Bührle-Provenienzforschung gesprochen wurden. Im NZZ-Interview sagt die Stadtpräsidentin: «Wir haben immer gesagt, dass die Stadt Zürich bereit ist, sich finanziell zu beteiligen. Das Parlament hat uns nun in der Budgetdebatte eine halbe Million Franken bereitgestellt.» Stadtpräsidentin Mauch sendet das Signal aus: Wir verhalten uns proaktiv, wir wollen die kritische Auseinandersetzung, wir nehmen Geld in die Hand. Und wieder einmal sind die faktischen Vorgänge etwas anders gelagert. Dieser Kredit wurde nicht bloss «bereitgestellt». Er musste vom Gemeinderat durchgesetzt werden – wie es den Anschein hat, gegen den Willen der Stadtregierung.
So vermerkt es das Gemeinderatsprotokoll der zweiten Lesung des Budgets 2022 im letzten Dezember. Die Grüne Fraktion hat in der Rechnungsprüfungskommission den Antrag auf Bewilligung der 500’000 Franken eingebracht und schliesslich im Rat dafür eine Mehrheit bekommen. Der Gemeinderat Markus Knauss, der die Begründung für den Antrag im Rat vortrug, machte folgende Bemerkungen: «Wir haben via Rechnungsprüfungskommission die Frage [an den Stadtrat] gestellt, ob Geld für die Forschungsvorgaben eingestellt ist, die Antwort war ‹Nein›. Es hiess weiter, dass Stadt und Kanton im Austausch mit dem Kunsthaus seien. […] Weiter wurde in dieser Antwort ausgeführt, dass Stadt und Kanton in erster Linie die staatlich getragenen Wissenschaftsinstitutionen in der Verantwortung sehen. Diese seien nicht nur kompetent, sondern auch für die Finanzierung zuständig.»
Offenbar hätte es Mauch auch noch Mitte November, als diese Anfrage erging, vorteilhafter gefunden, wenn die Stadt die unabhängige Überprüfung der Bührle-Provenienzforschung nicht selber hätte aufgleisen, finanzieren und politisch verantworten müssen. Dennoch sagt die Stadtpräsidentin im NZZ-Interview: «Ich stehe auch hin und übernehme für die Stadt Zürich die Verantwortung in diesem Geschäft.» Der Begriff von erinnerungspolitischer Verantwortung scheint weiterhin von enormer Dehnbarkeit zu sein.
Es gibt jetzt Spielraum für neue Lösungen, für die Überprüfung der Bührle-Provenienzen, für eine eidgenössische beratende Kommission in Restitutionsfragen, für einen personellen Neuanfang in der Kunsthausdirektion, der Kunstgesellschaft und vielleicht ja auch der Bührle-Stiftung. Ob die Stadtregierung ein weiteres Mal beschwichtigen will oder endlich den ehrlichen Willen aufbringt, für «faire und gerechte Lösungen» einzutreten – auch dann, wenn es etwas kosten könnte, auch dann, wenn sie sich exponieren müsste, auch dann, wenn ein politischer Preis zu zahlen wäre –, das muss sich erst noch zeigen.