SRF. Nach Razzien im deutschen Reichsbürger-Milieu hat es Mitte Woche in St. Gallen Hausdurchsuchungen gegeben. Die Bundesanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren gegen zwei Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft. Extremismus-Forscher Dirk Baier rät, die potenzielle Anhängerschaft in der Schweiz nicht zu einfach als «Spinner» abzutun.
SRF News: Reichsbürger sind ein deutsches Phänomen. Wie verbreitet ist die Szene in der Schweiz?
Dirk Baier: Die Reichsbürger-Szene mit dem Deutschen Reich als Bezugspunkt ist in der Schweiz eher selten. Es sind meist deutsche Übergesiedelte, die von der Schweiz aus aktiv sind. Eine deutlich grössere Gruppe sind die Staatsleugner, die mit irgendwelchen Motiven das Schweizer Rechtssystem und die politische Ordnung infrage stellen. Davon gibt es nicht wenige in der Schweiz.
Die Nachrichtendienste Deutschlands und der Schweiz stufen Reichsbürger als gefährlich ein. Was ist an ihnen gefährlich?
Einerseits die demokratiefeindliche Haltung. Man ist bereit, an einer Alternative mitzuwirken. In Deutschland hat eine Zelle einen Putsch geplant. Dazu kommt anderseits die Affinität zu Schusswaffen. Es wird aufgerüstet – als Vorbereitung auf einen Konflikt mit dem Staat. Bei Hausdurchsuchungen wurden Waffen gegen Polizeikräfte eingesetzt, vor ein paar Jahren gab es in Deutschland Tote.
In Deutschland wird die Zahl der Reichsbürger auf ungefähr 23’000 beziffert. Wie viele sind es in der Schweiz?
In Deutschland stehen die Reichsbürger unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, womit die Grösse der Szene relativ gut bekannt ist. Der Schweizer Nachrichtendienst hält den Bezug zu einer gewaltbereiten Gruppe noch nicht für gegeben und beobachtet die Reichsbürger noch nicht näher. So schwanken die Schätzungen zwischen 300 Personen und mehreren Tausend. Relativ viele Menschen in der Schweiz stimmen Verschwörungstheorien zu. Es gibt also durchaus eine grosse Gruppe, die dieses Gedankengut in sich tragen könnte.
Schätzt die Schweiz das Gewaltpotenzial richtig ein?
Die Schweizer Szene ist nicht ganz so gewaltbereit und organisiert wie in Deutschland. Dort gesellen sich hochrangige Personen aus ehemaligen Militärs und ehemalige Polizistinnen und Polizisten dazu. Das sieht man in der Schweiz so noch nicht. Aber es ist grundsätzlich besorgniserregend, wenn sich einzelne Menschen bewaffnen und Polizei und Staat ablehnen.
Hat Sie die Hausdurchsuchung in St. Gallen überrascht?
Nachdem im Dezember in Deutschland eine Gruppe ausgehoben wurde, ist nicht überraschend, dass auch in der Schweiz einige Personen aufs Radar gekommen sind. Es zeigt, dass auch in der Schweiz Personen leben, die den Staat ablehnen und möglicherweise noch weiter gehen und vielleicht Kontakte nach Deutschland knüpfen. Solche Leute sollte man nicht als «einzelne Spinner» abtun, sondern wachsam bleiben. Da ist ein gewisses Gefahrenpotenzial vorhanden.
Ist nur die Ostschweiz betroffen, oder auch die Zentral- und die Westschweiz?
Bis vor drei bis vier Jahren war es auf die Ostschweiz begrenzt. Seit der Corona-Pandemie ist die Staatsleugnerszene ein schweizweites Phänomen. Sie stehen miteinander in Kontakt, fahren teilweise auf Schulungen. Wachsamkeit ist also überall geboten. Auch die Gesellschaft ist gefordert und sollte Behörden informieren, wenn sich Menschen eigenartig entwickeln und immer aggressiver werden.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.