Wie es zum Zürcher Kampf zwischen Antifaschisten und Neonazis kam

Tages-Anzeiger.

Vergangene Woche überforderten Demonstrationen von Neonazis und Linksextremen die Polizei. Was Zürich nun erwartet.

Als sich am vergangenen Samstag in Zürich Neonazis ankündigten und Tausende dem Aufruf zur Gegendemonstration folgten, war das aus mehreren Gründen bemerkenswert: dass die Gegendemonstranten so zahlreich waren – und dass die Nazis überhaupt erschienen sind.

Sinnbildlich für den Tag ist eine Szene kurz nach 14 Uhr beim Alfred-Escher-Brunnen in der Bahnhofstrasse. Eine Gruppe von rund 30 mehrheitlich jungen Neonazis geht auf die linken Demonstrierenden los, die sich vor dem Hauptbahnhof versammeln. Die beiden Gruppen prügeln einige Sekunden aufeinander ein, bis die etwas überfordert wirkende Polizei dazwischengeht und die Gruppen trennt. Die Neonazis können danach zuerst unbehelligt weitergehen, bis sie schliesslich im Niederdorf verhaftet werden. Man habe sie «lagebedingt» nicht schon vorher festhalten können, heisst es auf Anfrage bei der Stadtpolizei. Eine Person führt die Polizei wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte der Staatsanwaltschaft zu, die anderen werden verzeigt.

Später ziehen Tausende schwarz gekleidete Antifaschisten in zwei unterschiedlichen Demonstrationszügen durch das Limmatquai beziehungsweise das Langstrassenquartier. Ein kleiner, militanter Teil von ihnen sucht die Konfrontation mit Neonazis sowie der Polizei und randaliert.

Ein weiterer Demonstrationszug von sogenannten Corona-Massnahmen-Gegnern will am Limmatquai demonstrieren. Sie hatten all die Demonstrationszüge – von denen keiner bewilligt war – ausgelöst. Ob sich unter ihnen Neonazis befinden, ist nicht bekannt. Mindestens zwei Personen werden hier verhaftet und müssen sich wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte bei der Zürcher Staatsanwaltschaft verantworten.

Die Stadtpolizei beschreibt die Situation auf Anfrage als «grosse Herausforderung», weil sie zeitgleich mehrere mobile «Brennpunkte» habe kontrollieren müssen und ein Teil der Demonstrierenden auf beiden Seiten zum Teil gewalttätig oder gewaltsuchend gewesen sei. Es sei der Polizei aber gelungen, ein Aufeinandertreffen der verschiedenen Demonstrationszüge zu verhindern.

Die Bilanz am Ende des Tages: 41 Festnahmen (davon nach Polizeiangaben mindestens 33 aus der rechten Szene), drei leicht verletzte Polizisten, mehrere beschädigte Polizeifahrzeuge sowie Sprayereien.

Neonazis treten offen in Erscheinung

Dass so viele Menschen in die Zürcher Innenstadt gereist sind, hat vor allem mit den Neonazis zu tun, die in den vergangenen Monaten vermehrt wieder öffentlich aufgetreten sind. So traten die Männer der Jungen Tat, einer Gruppierung, die aus der Winterthurer Eisenjugend hervorgegangen ist, am 8. Januar in Zürich in Erscheinung. Sie kaperten damals eine Demonstration der Gruppe «Bildung für alle», die gegen Corona-Massnahmen demonstrieren wollte. 

Für viel Aufsehen sorgten Mitglieder der Jungen Tat zwei Wochen später in Bern, als sie sich mit einem Transparent mit der Aufschrift «Jetzt ist Schluss!» an die Spitze des Demonstrationszugs setzten und diesen vereinnahmten. Der Auftritt erinnerte an ähnliche Aktionen von Neonazis in Deutschland und Österreich. Die Junge Tat stehe auch in einem engen Kontakt mit sogenannten Identitären in Österreich, Belgien und Deutschland, zitiert das Onlinemagazin «Republik» die Recherchegruppe Antifa Bern. Mitglieder der Jungen Tat vermischten sich an der Demo in Bern mit älteren, einschlägig bekannten Neonazis aus der ganzen Schweiz. Verschiedene Medien berichteten darüber.

Ein Teil dieser Neonazis, laut Augenzeugen erneut angeführt von der Jungen Tat, kam am vergangenen Samstag auch nach Zürich. Jahrelang waren Rechtsextreme in der Stadt Zürich kaum mehr in Erscheinung getreten. Dass sie nun in so grosser Zahl Gegendemonstranten wie am Samstag beim Hauptbahnhof direkt angreifen, ist eine neue Dimension. 

Grosse Mobilisierung auf linker Seite

Sehr viel zahlreicher waren die Gegendemonstrierenden, die fast alle schwarz gekleidet durch die Strassen zogen. Unter den mehreren Tausend Menschen waren verschiedene organisierte Gruppierungen aus linken und linksextremen Kreisen zu sehen. Die allermeisten Teilnehmenden waren aber unorganisiert dem Aufruf gefolgt, Zürich «nazifrei» zu halten. Mobilisiert hatten vor allem das Bündnis gegen Rechtsabbiegen, das sich als «überregionales Netzwerk der ausserparlamentarischen Linken» beschreibt, sowie der linke Zusammenschluss «Wir tragen eure Krise nicht», welcher während der Pandemie in Zürich schon mehrere Demonstrationen durchgeführt hatte. 

So mobilisierten vom Revolutionären Aufbau über die Bewegung für Sozialismus und die Juso bis hin zur gemässigten Linken. Und dies nicht nur in Zürich, sondern in vielen anderen Schweizer Städten und im Ausland auch. Dass dem Aufruf so viele gefolgt sind, hat im Wesentlichen drei Gründe, wie sich aus Recherchen in der Szene ergibt:

  1. Antifaschismus als kleinster gemeinsamer Nenner: Manche Teilnehmende sagen, Ihnen sei spätestens nach der Corona-Demonstration in Bern klar geworden, dass Neonazis wieder vermehrt offen und zahlreich in der Schweiz demonstrieren würden. Unter den zahlreichen linken Gruppierungen und Bewegungen ist «Antifa» der gemeinsame Nenner, hinter dem alle einhellig demonstrieren können.
  2. Es gibt neue Bewegungen: In den vergangenen Jahren sind in Zürich mit der Bewegung um den Frauenstreik 2019 sowie der Klimajugend eine Reihe von kleineren und grösseren – zum Teil militanten – Gruppierungen entstanden. Ein Teil der jungen Zürcher Bevölkerung ist politischer und aktivistischer geworden, was zu einer breiten Mobilisierung für eine antifaschistische Demonstration führen kann.
  3. Die «500k»-Kampagne: Im November 2018 demonstrierten in Basel rund 2000 Personen gegen einen Aufmarsch der mittlerweile aufgelösten rechtsextremen Partei National Orientierter Schweizer. Für zahlreiche Gegendemonstranten hatte dies ein juristisches Nachspiel: Sie mussten sich vor Gericht verantworten. Um die Prozesse zu bezahlen, starteten Aktivisten in Zürich eine breit angelegte Crowdfunding-Kampagne. Mit zahlreichen Aktionen, Kleider- und Bierverkäufen sowie Festen wurde schliesslich eine halbe Million Franken gesammelt. Die Kampagne hat zahlreiche Menschen mit dem Thema Antifaschismus in Kontakt gebracht.

Nächste Demonstration am Samstag

Noch ist unklar, ob die Demonstrationen und Zusammenstösse am vergangenen Samstag ein einmaliges Ereignis waren oder ob sich das Aufeinandertreffen von Neonazis und Antifaschisten in Zürich häufen wird. Am kommenden Samstag findet in Oerlikon bereits die nächste Demonstration von sogenannten Massnahmengegnern statt. Das Aktionsbündnis Urkantone hat zu einer bewilligten Kundgebung aufgerufen. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass die Stadtpolizei am Samstag wieder einen so grossen Einsatz leisten muss. Linke Kreise verzichteten bisher darauf, zu einer Gegendemonstration aufzurufen, und eine breite Mobilisierung braucht eine gewisse Vorlaufzeit. Und auch das Aktionsbündnis sagt: «Links- wie Rechtsextremisten sind auf unserer Kundgebung nicht willkommen, werden nicht toleriert und falls notwendig von der Kundgebung weggewiesen.»

Klar ist aber: Sowohl Neonazis als auch Antifaschisten werden versuchen, die Demonstrationen am vergangenen Samstag zu nutzen und weitere Menschen für ihre Anliegen zu gewinnen. Ob ihnen das – auch angesichts des nahenden Endes der Pandemie – gelingt, wird sich zeigen.