Wie ein Auschwitz-Tagebuch den prügelnden Neonazi Marc F. veränderte

 

Newsnetz vom 20.04.2009

Marc F.* hat als Rechtsextremer vor fünf Jahren wahllos Passanten verprügelt. Heute hat er mit der Szene nichts mehr zu tun – und würde sich selbst eine härtere Strafe geben.

 

Sie kamen mit Baseballschlägern, Eisenketten und Nagelkeulen. Die vermummten Skinheads, die sich am Abend des 30. April 2004 auf dem Liestaler Bahnhofplatz versammelten, waren zu allem bereit. Den Ausländern, mit denen sich die Skins seit Wochen kleinere Schlägereien geliefert hatten, wollten sie eine Abreibung verpassen. Doch es kam alles anders. Die gesuchten Ausländer waren nicht da. Ihren Zorn liessen die Skins trotzdem aus: Sie stürmten den Coop-Pronto-Shop, schlugen wahllos und brutal auf Kunden und Passanten ein. Sie verletzten drei unbeteiligte Männer und demolierten den Laden. Dann flüchteten sie.

Einer der Vermummten war Marc F.* (24). Mit einem Gummiknüppel schlug er im Pronto-Shop auf einen Mann ein. Jetzt sitzt er in einem Café, lehnt sich im Stuhl zurück und zieht langsam an seiner Zigarette. In seinen Jeans, im blauen Poloshirt und mit kurzen blonden Haaren fällt er nicht besonders auf. Er spricht ruhig und überlegt und sagt: «Ich verstehe heute nicht, weshalb ich das getan habe.»

Überzeugter Rechtsextremer

Marc sah sich nicht bloss als Mitläufer. Er war überzeugter Rechtsextremer. «Ich trug die Ideologie voll mit», sagt er. Er hasste Ausländer, Schwule, Kiffer. Als «Anwärter» der Skinheadgruppe «Warriors» engagierte er sich in der braunen Szene. Im Baselbiet rekrutierte er «Jungglatzen». Marc verfasste Propagandatexte und Hetzschriften, schrieb auch die Flugblätter, die vor und nach dem Pronto-Überfall in Lies tal kursierten. Auch äusserlich entsprach er mit Springerstiefeln, Bomberjacke und Glatze ganz dem Szenebild.

Begonnen hatte Marcs Weg in den Rechtsextremismus an der Schule. «Ich hatte oft Stress mit Ausländern», sagt er. Irgendwann trug er zum ersten Mal eine Bomberjacke, wurde darauf von Mitschülern als «Nazi» angesprochen. Dabei habe er anfangs «gar nicht gewusst, was das alles bedeutete». Über seinen älteren Bruder knüpfte er die ersten Kontakte zur rechtsradikalen Szene, und als er die Handelsschule besuchte, war er bereits tief ins Milieu hineingerutscht. Seine alten Freunde und Bekannten wandten sich von ihm ab.

Neue Kameraden

Den Ersatz fand er bei seinen neuen Kameraden. «Auch wenn vieles bloss Fassade war: Der Zusammenhalt faszinierte mich», sagt er. Die Skins trafen sich in Liestal, wo sie sich regelmässig mit jungen Ausländern prügelten. Immer häufiger, immer brutaler. Die Situation spitzte sich zu, bis es zum Überfall kam. Und obwohl die «Abrechnung» mit den Ausländern misslang, waren die Skins «froh, endlich den Frust und Hass ablassen zu können», sagt Marc und überlegt lange. «Danach waren wir alle ziemlich stolz.»

Langer Weg

Der Ausstieg aus der Szene begann nicht gleich nach der Tat. «Als die Polizei uns schnappte, sahen wir uns als Opfer», sagt Marc. «Ich wurde extremer als je zuvor.» Der Überfall schweisste die Baselbieter Skins für kurze Zeit noch enger zusammen. Trotzdem schaffte Marc die Wende. Eine genaue Antwort darauf, wann und weshalb er sich zum Ausstieg entschloss, hat er nicht. Es habe kein bestimmtes Schlüsselerlebnis gegeben, sagt er. «Es waren viele kleine Schritte in einem langen Prozess, und es brauchte Zeit.»

Auschwitz-Tagebuch hinterlässt Spuren

Da waren zum einen der neue Job und die Wohnung in Zürich, die Distanz zur Szene schafften. Da waren die vermehrten positiven Erfahrungen mit Ausländern, die er bei der Arbeit und in der Freizeit machte. Und da waren grundsätzliche Fragen, die er sich zu stellen begann. «Verbaue ich mir nicht zu viel, wenn ich Ausländer kategorisch ablehne?» Er befasste sich vertieft und «auf eine andere Weise» mit der Ideologie und der Geschichte des Nationalsozialismus, wie er sagt. Besonders das Tagebuch einer jungen Auschwitz-Überlebenden habe bei ihm starke Spuren hinterlassen. «Ich realisierte, dass ich eine rechtsextreme Haltung nicht vertreten kann.»

«Keine Toleranz»

Zwei Jahre nach dem Pronto-Überfall begann vor dem Baselbieter Strafgericht der Prozess gegen die sechs Hauptangeklagten. Marc sagt, er sei zu diesem Zeitpunkt «praktisch vollständig» aus der Szene ausgestiegen. Vor dem Gericht habe er nichts beschönigt. «Viele meiner Mitangeklagten behaupteten, gar nie Nazis gewesen zu sein. Ich bin dazu gestanden.» Das Gericht verurteilte ihn wegen schwerer Körperverletzung zu einer Strafe von zweieinhalb Jahren Gefängnis, die zugunsten einer Therapie aufgeschoben wurde. Findet er die Strafe gerechtfertigt? «Würde ich heute dieses Urteil sprechen müssen, würde wohl niemand mit einer Haft von unter fünf Jahren davonkommen», sagt Marc. Er habe erlebt, was Gewalt anrichten könne. Dafür dürfe es keine Toleranz geben.

Heute FDP-Wähler

Zur braunen Szene hat Marc, der heute als Applikationsentwickler arbeitet und sich als FDP-Wähler bezeichnet, den Kontakt abgebrochen. Zwei der Mitangeklagten, die ebenfalls ausgestiegen seien, zählt er aber zu seinen besten Freunden. Mit seiner rechtsextremen Vergangenheit habe er abgeschlossen, sagt er. Nach dem Überfall habe er den Liestaler Pronto-Shop gemieden. Noch einmal zündet er sich eine Zigarette an und sucht nach Worten. «Als ich das erste Mal wieder im Pronto-Shop stand, habe ich mich geschämt.»

* Name der Redaktion bekannt.