20 Minuten. Ein Zürcher Lehrer verbannt das Standardwerk wegen rassistischer Passagen aus dem Unterricht. Lehrerverbände halten das für falsch.
Darum gehts
- Philippe Wampfler, Deutschlehrer in Zürich, verlangt vom Diogenes-Verlag eine Anpassung von Friedrich Dürrenmatts «Die Physiker». Das N-Wort müsse gestrichen werden.
- Solange dies nicht passiert, liest er das Buch im Unterricht nicht mehr.
- Auf Social Media, von Lehrerverbänden und Politikern bekommt er dafür Kritik.
- Literaturwissenschaftler Caspar Battegay sagt, es gebe so viele andere Texte, auch von Dürrenmatt, die für Jugendliche eventuell viel lohnenswerter seien als «Die Physiker».
Es ist eines der bekanntesten Schweizer Werke und wird heute noch fleissig im Schulunterricht behandelt: «Die Physiker» von Friedrich Dürrenmatt, uraufgeführt 1962 im Zürcher Schauspielhaus. Der Zürcher Gymilehrer Philippe Wampfler verbannt es jetzt aus dem Unterricht wegen der rassistischen Passagen. Darüber berichtete Watson.
Wampfler erntet auf Social Media dafür einen veritablen Shitstorm. Hunderte hätten seine Entlassung gefordert, schreibt er auf Twitter. «Das Thema provoziert offenbar viele ältere Männer», sagt Wampfler auf Anfrage von 20 Minuten. Ein Twitter-User schreibt: «Wissen Sie was!? Wir canceln Sie, aber niemals Dürrenmatt!»
Das sagen die Lehrerverbände
Auch von den Lehrerverbänden kommt Kritik. Ein Boykott sei «meist nicht der richtige Weg», sagt Dagmar Rösler, Präsidentin von Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Stattdessen könne man Werke mit rassistischen Elementen zum Anlass nehmen, zu erklären, wie die Umstände damals waren.
Daniel Kachel, Präsident des Zürcher Sekundarlehrverbands, hält Wampflers Vorgehen gar für kontraproduktiv. «Man kann solche Wörter nicht aus der Welt schaffen. Mit Tabuisieren bekommen sie einen noch grösseren Reiz, gerade für Jugendliche im pubertären Alter.» Wegschauen heisse auch, einen Teil der Geschichte zu streichen. «Das kann und soll man aber nicht.» Auch die persönliche Betroffenheit müsse thematisiert werden, sagt Kachel. «Wenn ein dunkelhäutiger Schüler in meiner Klasse ist, beziehe ich ihn mit ein und frage, was er dazu meint und wie das für ihn ist.»
Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerverbands und Mitglied der LCH-Geschäftsleitung, sagt: «Ich habe mir diese Frage auch schon gestellt. Bei Werken wie Pipi Langstrumpf oder Jim Knopf dachte ich auch: Lese ich das jetzt so vor?» Entscheidend sei vor allem das Alter der Schülerinnen und Schüler sowie die Bedeutung des Werks.
«Was zumutbar ist, entscheiden Betroffene»
Herr Wampfler, «Die Physiker» ist für Sie unzumutbar. Andere Werke mit rassistischen Passagen sind es nicht. Wo ist die Grenze?
Was zumutbar ist, entscheiden Betroffene. Als weisse Person kann ich das nicht beurteilen. Als Lehrer unterscheide ich zwischen Darstellungen, die Rassismus aus pädagogischen Gründen sicht- und kritisierbar machen, und anderen.
Erfolgt der Boykott des Buches «Die Physiker» nach der Intervention einer Schülerin, die als Person of Color selber betroffen ist?
Betroffene machen in Gesprächen und im Unterricht immer wieder auf Rassismus aufmerksam. Das lief auch hier so.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Ausgrenzung. Sollten Schülerinnen und Schüler nicht die Vergangenheit kennen, um auf die Gegenwart gefasst zu sein?
Mit diesem Argument kann man Schülerinnen und Schülern den krassesten Formen von Rassismus aussetzen und sagen, das sei eine Auseinandersetzung mit Rassismus. Mein Kriterium ist: Braucht es diese Darstellung wirklich, um Literatur oder Geschichte zu verstehen? Bei Dürrenmatt braucht es sie nicht – er hätte den Begriff selber ersetzt, wenn er heute noch leben würde.
Das sagt der Sprach- und Literaturwissenschaftler
Caspar Battegay ist Privatdozent für Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Er finde es erstaunlich, dass an Gymnasien offenbar immer noch so oft Dürrenmatts «Die Physiker» gelesen werde. Es gäbe so viele andere Texte von Dürrenmatt und der modernen Schweizer Literatur, die ebenfalls literarisch bedeutsam und für Jugendliche eventuell auch viel lohnenswerter seien. Insofern hält Battegay «Die Physiker» im Gymi-Unterricht für verzichtbar. Er sei jedoch strikt gegen das Umschreiben von literarischen Texten. Die Verwendung des N-Worts in «Die Physiker» sei zwar nicht absichtlich rassistisch, aber zweifellos rassistisch, sagt Battegay. Der Begriff sei schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren herabsetzend gewesen.
«Die deutschsprachige Literatur sowie die ganze europäische Kultur ist von Anfang an immer wieder krass antisemitisch und rassistisch. Ein Text kann aber literarisch interessant, relevant und bedeutsam sein, auch wenn er rassistische Stereotype und Motive enthält», so Battegay. «Vom ‹Boykott› literarischer Texte halte ich nichts, ich möchte auch gerne Texte von Autorinnen und Autoren lesen, deren Haltung oder deren Texte ich strikt ablehne.»
Das sagen Politikerinnen und Politiker
SP-Nationalrätin und Lehrerin Sandra Locher Benguerel unterstützt ihren Berufskollegen Philippe Wampfler. «Kommt eine Lehrperson nach der Beurteilung eines Werks zum Schluss, dass es etwa eine rassistische oder sexistische Grenze überschreitet, die nicht mit dem historischen Kontext relativiert werden kann, ist es ihr gutes Recht, im Unterricht auf das Werk zu verzichten.» Sie findet es gut, dass Wampfler diese Diskussion angestossen hat und hofft, dass diese in Fachkreisen weitergeführt werde.
Anderer Ansicht ist SVP-Nationalrat und ehemaliger Gymnasiallehrer Peter Keller: «Diese Forderung sagt vor allem viel über Herrn Wampfler aus.» Offenbar sei Wampfler «nicht fähig», einen Text in der Zeit und in dem Kontext, in dem er geschrieben wurde, zu lesen und zu verstehen. «Das finde ich tragisch für einen Deutschlehrer und Autoren», so Keller. Gute Literatur sei ambivalent und auch die Sprache wandle sich: Eine Autorin oder ein Autor aus dem 21. Jahrhundert würde nun mal anders schreiben als einer aus dem 19. Jahrhundert. «Es geht aber auch darum, dass jemand ein Kunstwerk erschaffen hat – an diesem soll nicht so kleinkariert rumgewerkelt werden.»
Kritisch ist auch Mitte-Nationalrat Philipp Kutter. «Solche Passagen in der Literatur sind doch die perfekte Ausgangslage, um mit den Schülerinnen und Schülern über Rassismus und andere Diskriminierungen zu diskutieren», sagt er. Man könne ihnen so beibringen und vermitteln, wieso solche Begriffe heute nicht mehr verwendet und geduldet werden.