«Weder übertreiben noch vergessen»

Bieler Tagblatt.

Biel Vor einem Jahr ist die jüdische Gemeinde von einem antisemitischen Vorfall erschüttert worden, der die Synagoge betraf. Charlotte Schnegg erzählt, was die Gemeinde heute bewegt.

Zwei Einlagen aus dunklem Eichenholz bestücken das rostfarbene Metalltor, vor dem Charlotte Schnegg von der jüdischen Gemeinde Biel steht. Die reliefartige Oberfläche ist von Furchen geprägt. Dass diese Holzeinlagen in der Tür sind, ist kein Zufall. Noch vor einem Jahr hat es hier anders ausgesehen. Am 18. Januar 2021 wurden antisemitische Botschaften in die Synagogentür eingeritzt, unter anderem ein Hakenkreuz. Die Türe musste damals behelfsmässig überdeckt werden. Nun ist sie von einem Künstler neu gestaltet worden. Aber wie geht es den Menschen, die sich hinter dieser Türe treffen, um zu beten und Zeit in der Gemeinschaft zu verbringen?

Davon, was die Gemeinde derzeit bewegt, erzählt Charlotte Schnegg in der Synagoge. Die jüdische Gemeinde in Biel begleitet sie schon ihr Leben lang. Es war ihre Grossmutter, die wegen des Kriegs aus Deutschland in die Schweiz geflüchtet ist. Heute ist sie in Begleitung ihres Enkels da. Im Vorstand der jüdischen Gemeinde Biel kümmert sich die ehemalige Grafikerin um die Synagoge. Bis Ende Jahr gehörte noch die Betreuung des Gemeindesaals zu ihren Aufgaben. Doch diesen hat man aufgegeben – gezwungenermassen.

Denn die Mitgliederzahl ist geschrumpft auf 50 Personen. Zu Spitzenzeiten waren es zehn Mal mehr, damals, als die Bieler Synagoge Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und nach 1918 aufgrund von Pogromen eine grosse Fluchtbewegung aus Osteuropa einsetzte. Heute sei die Gemeinde überaltert, weil viele der jungen Generation in die USA oder nach Israel auswandern, sagt Charlotte Schnegg. Entsprechend schwierig gestalte sich die Partnersuche innerhalb der Gemeinde in Biel.

In der Synagoge stehen Kisten, die aus dem Gemeindesaal geräumt wurden. Man plant, Archivmaterial an ein Museum zu übergeben. In Biel ist das Neue Museum interessiert, wo bisher nichts zur Geschichte der Bieler Juden vorhanden ist. Auch das Jüdische Museum Basel käme in Frage.

Die Ideologie stirbt nicht aus

Zur jüngsten Geschichte gehört die Synagogenschändung vom letzten Jahr. Es war noch früh an diesem Januarmorgen, als das Telefon bei Charlotte Schnegg und den Gemeindemitgliedern klingelte. Die Polizei holte sie mit dieser Nachricht aus dem Bett. Der Schock war gross. «Besonders, als wir sahen, um was es geht, welche Worte dort stehen», erzählt Charlotte Schnegg. Ein Hakenkreuz, «Sieg Heil» und «Juden Pack» waren eingeritzt. Sie sagt dazu: «Meine Grossmutter musste unter diesen rechtsextremen Parolen aus Deutschland flüchten – und auf einmal finde ich dieselben Parolen hier auf unserer Synagoge.»

Manche Mitglieder der Gemeinde hätten nach dem Vorfall Angst gehabt, und seien der Synagoge eine Zeit lang ferngeblieben, berichtet Charlotte Schnegg. Damit sind sie nicht allein: Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2020 verspürt in der Schweiz fast jede dritte befragte jüdische Person eine «subjektive Unsicherheit», und vermeide es deshalb sogar, gewisse Örtlichkeiten aufzusuchen. Die Bieler Gemeinde hat Strafanzeige erstattet, doch die Polizei konnte keine Täterschaft ausfindig machen. Ende Jahr hat die Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland das Verfahren mangels Indizien sistiert.

In der multikulturellen Stadt Biel sei das Zusammenleben ansonsten ruhig, erzählt Charlotte Schnegg. Auch in der gesamten Deutschschweiz sind Vorfälle dieses Ausmasses eher selten (siehe Zweittext). Was Angriffe auf Synagogen angeht, war Biel ein Einzelfall im letzten Jahr. Dennoch hat gemäss dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund die Anzahl weiterer antisemitischer Vorfälle in der Deutschschweiz im Jahr 2021 zugenommen. Zudem ist es in der Romandie (Genf und Lausanne) ebenfalls zu Vorfällen bei Synagogen gekommen. Die Vertreterin der jüdischen Gemeinde Biel sagt: «Man sollte den Vorfall nicht übertreiben, aber auch nicht vergessen.»

Spenden für die Reparatur

An den Vorfall erinnert die neue Holzkunst auf dem Tor. Die Eichenholz-Elemente sind vom Künstler Beat Breitenstein aus Ins gestaltet. Dieser hat das Holz zu einer unruhigen Oberfläche bearbeitet, die an Schnitte erinnert. Das Holz wirkt bewegt und stehe für Wandel, sagt Charlotte Schnegg. Etwas roh und nie fertig – denn so sei es im Leben. «Bewusst nicht perfekt» wollte man es haben.

Die jüdische Gemeinde Biel hat nach dem Vorfall Unterstützung von verschiedenen Seiten erhalten: So hat nicht nur die Stadt Biel Geld gesprochen, auch christliche Gemeinschaften aus Biel haben sich finanziell an der Tür beteiligt.

Die Sicherheitskosten bleiben für alle jüdischen Gemeinden ein Thema. An Sicherheitsmassnahmen beteiligen sich mittlerweile der Bund, der Kanton und manche Städte. Seit 2019 unterstützt der Bund die Sicherheit von Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen. 2020 hat der Kanton Bern nachgezogen. Diese Unterstützung hat auch die jüdische Gemeinde in Biel in Anspruch genommen, wobei sich die Stadt Biel ebenfalls beteiligte.

Gemeinsam in die Synagoge kommen die Bielerinnen und Bieler meist nur noch an den Feiertagen, wie beispielsweise an Jom Kippur. Monatliche oder gar wöchentliche Sabbat-Gottesdienste gibt es in Biel aufgrund des fehlenden gemeindeeigenen Rabbiners seit 2019 nicht mehr. Dafür ist jetzt Rabbiner Michael Kohn von der Gemeinde in Bern ebenfalls für Biel zuständig.

Aufklären in Schulen

Wie lebt es sich abgesehen vom Vorfall des letzten Jahres als Jüdin oder Jude in Biel? Antisemitische Erfahrungen macht Charlotte Schnegg in der Gegenwart wenige. Gemeindemitglieder erhalten aber immer wieder anonyme antisemitische Briefe. Doch heutzutage werde immer seltener nach der Religion gefragt, so Schnegg. Und die Kippa werde nur von wenigen Bieler Juden am Samstag getragen. Klar ist: Die Kleidung hat einen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl und auf erlebte Angriffe. In Zürich beispielsweise gibt es viele Orthodoxe, die sich entsprechend kleiden. Gemäss der Studie der ZHAW verspüren jene, die aufgrund von Kleidungsstücken als jüdisch erkennbar sind, die meisten Unsicherheiten, ebenso wie junge Jüdinnen und Juden, und Orthodoxe. Diese Gruppen sind zudem am meisten von antisemitischen Übergriffen wie Belästigungen betroffen.

Als Charlotte Schneggs Enkel sieben Jahre alt war, lernte er, dass Juden verfolgt wurden, und hat zu seiner Grossmutter gesagt: «Wie kannst du jüdisch sein, das ist doch gefährlich?» Das musste sie zuerst verdauen. Um gegen Antisemitismus vorzugehen, leistet die jüdische Gemeinde Biel Aufklärungsarbeit in Schulen. Früher waren es Konzentrationslager-Überlebende aus der Umgebung, die Klassen besucht haben. Heute bietet Schnegg Führungen durch die Synagoge an. Dass dies nötig ist, zeigt sich gerade, wenn man hört, was ihr zwölfjähriger Enkel plötzlich erzählt: Dass manche an seiner Schule «als Witz» ein Lied singen würden und den Hitlergruss dazu machen. Solche Schüler würden alles glauben, was auf Sozialen Medien zu finden sei, sagt der Junge. Hass im Netz ist ein immer grösseres Problem, das zeigen auch die neuen Zahlen aus dem Antisemitismusbericht für 2021.

Charlotte Schnegg bedauert, dass die Bieler Gemeinde so klein geworden ist. Sind keine zehn Männer da, werden die Thorarollen nicht aus ihren bestickten Stoffhüllen hervorgeholt. Nun ruhen die grossen Schriftrollen weiter im Thoraschrein und werden einzig zum gemeinsamen Gebet an Feiertagen hervorgeholt.

Antisemitismus hat zugenommen

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) gibt jährlich mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) einen Antisemitismusbericht heraus. Im heute veröffentlichten Bericht für 2021 sticht die Synagogenschändung von Biel als einzige Sachbeschädigung und als einer der gravierendsten Fälle in der Deutschschweiz heraus.

Insgesamt hat die Zahl an Vorfällen zugenommen auf gesamthaft 859. Zählt man jene im Internet nicht dazu, sind es 53 Meldungen, die der SIG registrierte. Unter anderem die Sachbeschädigung in Biel, Beschimpfungen, Schmierereien und antisemitische Aussagen.

Ein eklatanter Anstieg der Vorkommnisse um 66 Prozent ist im Netz zu verzeichnen: Ganze 806 Vorfälle sind dem SIG bekannt. Dazu gehörte beispielsweise die Störung einer Online-Veranstaltung einer jüdischen Gemeinde mit «Hitlerbildern und obszönen Schmierereien».

Der SIG hält fest, dass die Pandemie als Auslöser für Antisemitismus wirkt. Im Zuge dieser haben Verschwörungstheorien Auftrieb erhalten. Und als im letzten Frühling die Auseinandersetzungen im Nahostkonflikt aufflammten, kam es gemäss Bericht zu mehr israelbezogenem Antisemitismus.

Der Bericht stützt sich auf Fälle, die der Antisemitismus-Meldestelle gemeldet wurden; es müsse aber von einer Dunkelziffer ausgegangen werden. Weiter wird die Medienberichterstattung beobachtet und auf Sozialen Medien oder in Kommentarspalten recherchiert.

Politisch aktuell ist die jüngste Antwort des Bundesrats Anfang Februar auf einen parlamentarischen Vorstoss, der Nazi-Symbolik verbieten wollte: Der Bundesrat erteilte einem solchen Verbot eine Absage. Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus setzt sich weiter dafür ein, und lancierte eine Petition.

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