Neue Zürcher Zeitung. Auch in der Schweiz sind Reichsbürger-ähnliche Kreise aktiv. Sie erkennen die Justiz nicht an und behindern die Behörden. Doch sie schaffen es bis anhin nicht, Netzwerke mit einem gemeinsamen Ziel zu bilden, sagt der Extremismusexperte Dirk Baier. Dennoch ist er besorgt.
Das Verfahren vor einem Bezirksgericht im Kanton Thurgau betraf nur eine Bagatelle – einen simplen Verstoss gegen die Maskenpflicht. Doch vor dem Gerichtsgebäude war an diesem Tag im Januar 2022 die Hölle los: Eine Menschenmenge jubelte dem angeklagten Maskenverweigerer frenetisch zu, die Polizei fuhr mit Mannschaftswagen auf. Der Beschuldigte griff zum Megafon und setzte zu einer minutenlangen, konfusen und aggressiven Schmährede an. Unverblümt forderte er die anwesenden Polizisten dabei auf, Staatsanwalt und Richter zu verhaften.
Bald stellte sich heraus, dass der bizarre Pseudo-Putschversuch kein Zufall war. Der Beschuldigte erwies sich als Anhänger eines geheimnisumwitterten Gebildes, das sich «Global Court of the Common Law» (GCCL) nennt. Der GCCL ist eine Art Phantasie-Gerichtshof und eine sektenartige Gruppierung zugleich. Seine Unterstützerinnen und Unterstützer anerkennen weder das Gesetz noch den Staat. Der Eklat vor dem Bezirksgericht war deshalb kein Einzelfall: GCCL-Anhänger machten den Behörden im Kanton Thurgau zu dieser Zeit regelmässig das Leben schwer. Ein Thurgauer Staatsanwalt sprach gegenüber der NZZ von einem erheblichen Gewaltpotenzial. Auch in anderen Kantonen war die Gruppe aktiv.
Fedpol mit Behörden im In- und Ausland im Austausch
Auch wenn sich solche Aktionen nicht mit den Umsturzplänen der terroristischen Reichsbürger-Gruppierung vergleichen lassen: Sie dokumentieren, dass sich seit der Corona-Krise Staatsverweigerer auch hierzulande vermehrt aus dem Schatten wagen und von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen werden. In Deutschland wurden am vergangenen Mittwoch bei einer Grossrazzia im ganzen Bundesgebiet 25 Personen aus dem Reichsbürger-Milieu festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, einen Umsturz der Regierung geplant zu haben, dafür bereits Ausrüstung beschafft und Schiesstrainings durchgeführt zu haben.
Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) konnte in der Schweiz zwar bisher keine gewalttätigen Aktivitäten vergleichbarer Organisationen feststellen. Zu Einzelfällen oder Gruppierungen nimmt er nicht Stellung. Das Phänomen «Reichsbürger» trete vor allem in Deutschland und Österreich auf, während in der Schweiz bisher nur einzelne Aktivitäten verzeichnet worden seien, heisst es auf Anfrage. Beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) klingt es ähnlich: Ermittlungen seien derzeit auf Bundesebene keine im Gange. Das Thema ist aber auf dem Radar: Das Fedpol ist deswegen mit Behörden im In- und Ausland im Austausch, wie ein Sprecher erklärt. Zuständig sind aber vor allem die Kantone.
Für Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) sind die Vorgänge in Deutschland dennoch aufschlussreich: Bisher seien die Reichsbürger in Deutschland ein Sammelbecken für unterschiedlich motivierte Personen gewesen. Es schlossen sich vor allem Leute zusammen, die sich vom System abwenden. Rechtsextremen sei es dagegen schon immer um die Schaffung eines völkisch homogenen und autoritären Staates gegangen. Nun zeige sich, dass Teile der Reichsbürger genau darauf hinarbeiteten, erklärt Baier: «Die beiden Gruppen sind näher zusammengerückt.»
Er forderte die Armee auf, den Bundesrat festzunehmen
Eine solche Entwicklung ist laut Baier in der Schweiz bis anhin noch nicht feststellbar. Hier sei die Staatsleugner-Szene «noch immer extrem heterogen», beobachtet er. Tatsächlich finden sich ganz unterschiedliche Organisationen und Personen, die die Existenz des Staates und die Legitimation von Regierungen und Gerichten mit absurden Theorien bestreiten. Teilweise kommen sie auf eine stattliche Anhängerzahl. So zählt die Telegram-Gruppe «PERSON wird :mensch» fast 6000 Abonnenten. Dahinter steckt Christian Frei, einer der Mitbegründer der Restaurantkette Tibits. Er geriet während der Pandemie in die Schlagzeilen, weil er einen Systemumsturz gefordert haben soll, wie die «Republik» damals berichtete.
Frei forderte den Vizearmeechef auf, den Gesamtbundesrat festzunehmen, und schrieb Bundesrätin Simonetta Sommaruga, sie «werde sich vor Gott und dem internationalen Volkstribunal mit Leben und Privatvermögen verantworten müssen». Tibits hatte sich von Christian Frei umgehend distanziert. Bekanntgeworden ist auch der Fall des Thurgauer Unternehmers Daniel Model, der im Januar von einem österreichischen Gericht wegen Unterstützung des staatsfeindlichen «International Common Law Court of Justice Vienna» verurteilt wurde. Model hat das Urteil in der Zwischenzeit angefochten.
«Stärkere Wachsamkeit ist wichtig»
Für Medienecho sorgten zudem Schulgründungen von angeblich Reichsbürger-nahen Kreisen, beispielsweise im zürcherischen Rikon. Viele Gruppierungen sind aber kaum bekannt und wirken vor allem im Verborgenen. In teilweise kostenpflichtigen Kursen führen sie «Ausbildungen» durch, in denen kaum nachvollziehbare Theorien verbreitet werden. Auch Personalausweise und Phantasiedokumente werden auf Telegram angeboten, nicht selten ebenfalls zu hohen Preisen. Wie viel Geld damit umgesetzt wird, ist unbekannt.
Für Baier sind solche Aktivitäten typisch für die schweizerische Szene: Das Terrain sei vor allem von Querulanten besetzt, die die Behörden zwar enorm beschäftigten. Doch sie schafften es nicht, Netzwerke mit einem gemeinsamen Ziel zu etablieren. Es handle sich «nicht um ein konspiratives Kollektiv». Tatsächlich ist es um den GCCL wieder ruhiger geworden. Die Schweiz scheint auch in diesem Bereich von der Zufriedenheit mit der Demokratie zu profitieren. Dieser Faktor trug schon während Corona dazu bei, dass verschwörungstheoretische Kreise Mühe hatten, Publikum längerfristig zu binden. Anders als in Deutschland fehlen den Staatsverweigerern zudem die Verbindungen ins Parteiensystem, wie dies mit der AfD der Fall ist.
Wie gross die Szene hierzulande ist, ist weitgehend unbekannt. Anders als der deutsche Verfassungsschutz, welcher der dortigen Szene 23 000 Personen zuordnet, gibt der NDB keine Zahlen bekannt. Baier geht von einigen hundert Personen aus. Letztlich sage die Grösse aber wenig über die Gefährlichkeit einer Szene aus, meint er: «Sorge bereitet mir, dass das in Deutschland offengelegte Reichsbürger-Netzwerk zur Nachahmung motiviert.» Einzelne Personen könnten sich ein Vorbild nehmen, weil deutlich werde, dass sie mit ihren wirren Umsturzplänen nicht alleine seien, so Baier. «Ich denke daher, dass auch in der Schweiz eine stärkere Wachsamkeit wichtig ist.»