UNTERSEEN / Am Sonntag vor einem Jahr sind 1000 Menschen mit Glocken und Blumen durch das Städtchen Unterseen und durch Interlaken gezogen, um ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. Zwei Monate zuvor war Marcel von Allmen bei einer Abrechnung unter Rechtsextremisten getötet worden. Heute ist in Unterseen die Normalität wieder eingekehrt – zumindest oberflächlich.
? CHRISTINE BRAND
«Ich bin überzeugt – wenn man von weit aussen hierher nach Unterseen schaut, meint man, alles sei wieder normal.» Simon Margot, Lehrer und Gemeindepräsident in Unterseen, überlegt einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. «Wenn man aber aus der Nähe auf unser Stedtli blickt, dann merkt man, dass dies nicht so ist.» Vor einem Jahr haben ganz viele hergeschaut: Am 31. März gingen in der Gemeinde mit 5200 Einwohnern um die 1000 Menschen auf die Strasse, um ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. Zwei Monate zuvor hatten vier 17 bis 22 Jahre alte Mitglieder des «Ordens der arischen Ritter» den 19-jährigen Marcel von Allmen brutal zu Tode geschlagen (siehe Kasten). Damals konnten jene, die hinschauten, egal ob aus der Ferne oder aus der Nähe, nicht begreifen, was im kleinen Stedtli im Berner Oberland passiert war. Begriffen wird das Geschehene in Unterseen immer noch nicht, aber langsam wird es verarbeitet.
Mode, Kleider, Ausgang
«In der Schule ist der Alltag weitgehend zurückgekehrt», sagt Matthias Zürcher, Koschulleiter in Unterseen. Die wenigen Schmierereien rechtsextremen Inhaltes aussen am Schulhaus sind längst weggeputzt. «In den Gängen sind wieder die Kleider, Musik oder der Ausgang die Gesprächsthemen.» Trotzdem hat sich etwas verändert. «Es ist eine gewisse Sensibilität vorhanden», sagt Matthias Zürcher. «Plötzlich bringen wir es fertig, zusammen zu reden», erklärt Simon Margot. Tabuthemen werden zu Gesprächsthemen. Und man ist vorsichtiger geworden in Unterseen: Zweimal wurde auf dem Pausenplatz des Steindlerschulhauses jener junge Mann gesehen, der unmittelbar nach dem Tod Marcel von Allmens mit der rechtsextremen «Befreiungsfront Bödeli» in die Fussstapfen des «Ordens der arischen Ritter» zu treten versuchte. Auch Flugblätter soll er im Stedtli an die Wände geklebt haben. Zweimal haben Lehrer den ehemaligen Schüler mit Oberstufenschülern im Gespräch gesehen – und ihn schliesslich weggewiesen. Dies ist neuerdings möglich: Seit letztem Sommer gilt auf der Schulanlage in Unterseen ein richterliches Verbot. Unbefugte dürfen den Platz nicht betreten, können weggewiesen oder gar angezeigt werden. «Das Verbot haben wir eigentlich aus anderen Gründen erlassen», sagt Margot. Erwachsene hätten den Platz immer wieder beansprucht, Müll sei liegen geblieben. Jetzt hat sich das Verbot aus anderem Grund als praktisch erwiesen.
Brief an die Eltern
Doch bei der Wegweisung des einstigen Schülers blieb es nicht. «Die Lehrerschaft ist aufmerksam», sagt Zürcher. «Wir sind bereit, hinzuschauen – und wir wollen den Eltern weitermelden, was wir sehen.» Aus diesem Grund hat die Schulleitung den Eltern unlängst einen Brief zugestellt: «Rechtsextremismus in unserer Schule – gibt es das?» Es sei bereits ein Jahr her, seit das Stedtli mit einer schrecklichen Bluttat von rechtsextremen Jugendlichen an einem ehemaligen Schüler der Schule konfrontiert worden sei, schreibt die Schulleitung. «Dass auch die Täter zum Teil unsere Schüler waren, bleibt für uns alle unverständlich, unfassbar.»
Harmlose Schweizer Kreuze?
Ein Jahr danach stellen sich die beiden Schulleiter Matthias Zürcher und Mark Kohler die Frage, «wie es heute um das rechtsextreme Gedankengut» steht. Denn die Lehrer haben festgestellt, dass «solche Gedanken und Symbole» vor ihrer Schule nicht halt machten. «Beobachtungen in der Schule liessen bei unseren Lehrkräften die Vermutung aufkommen, dass einzelne Schüler versuchen, sich wie ihre Vorbilder der rechtsextremen Szene zu benehmen, zu kleiden oder wie sie zu sprechen», schreiben Kohler und Zürcher im Brief an die Eltern. «Vereinzelt tauchen scheinbar harmlose Schweizer Kreuze auf, Köpfe werden selbst im Winter kürzer als üblich geschoren, mit der Kleidung versuchen sich Einzelne von den übrigen Schülern abzugrenzen.» Auch berichten die Lehrer, dass der «ehemalige Schüler und Initiant einschlägiger Internetseiten in eindeutig rechtsextremer Kleidung» auf dem Pausenplatz aufgetaucht ist. «Die rechtsextreme ,Befreiungsfront Bödeli‘ ist wieder aktiv geworden.»
Nicht nur abschreckend
Für Marcel A. Niggli, Strafrechtler und Rechtsextremismus-Experte, ist es «nur schwer vorstellbar, dass das Tötungsdelikt in Unterseen eine rein abschreckende Wirkung» hat. «Für manche sicher schon, für andere aber eben gerade nicht – denn Gefährliches ist reizvoll.» Es könne aber auch eine Abgrenzung stattfinden. «Klar, es ist ein Tötungsdelikt passiert – der Jugendliche muss dieses aber nicht unbedingt mit Rechtsextremismus in Zusammenhang bringen.» Möglicherweise hätte sich gleiches auch in einer Sekte abspielen können. Es könne eine Grenze zwischen der Tat und den Ideologien des Rechtsextremismus gezogen werden – das erstere also verurteilt, das zweite aber für gut befunden werden. «Bei den Jugendlichen ist fast alles möglich», sagt Niggli. Es werde oft fälschlicherweise über die Sektenproblematik oder die Problematik des Rechtsextremismus referiert – «Fakt ist, dass wir ein Problem mit unserer Jugend haben.»
«Zu vieles ist noch unklar»
Für Sabina Stör, letztes Jahr Präsidentin des regionalen Jugendparlaments und heute Mitarbeiterin der Jugendarbeit Bödeli, sind die Probleme in Unterseen nicht grösser als andernorts – «man nimmt sie hier aber besser wahr, weil genauer hingeschaut wird». Und auch, weil das Geschehene noch nicht verarbeitet und immer noch Thema sei. «Viele sind zerrissen, weil sie sowohl Täter als auch Opfer gekannt haben.» Sabina Stör hat beobachtet, dass gerade rechts denkende Jugendliche zwischen der Tat und dem Rechtsextremismus differenzieren. «Für sie passt zum Beispiel nicht ins Bild, dass die Angeklagten mit Drogen gehandelt haben sollen.» Für etliche habe die Tat nichts mit Rechtsextremismus, sondern eher etwas mit Gruppendynamik zu tun. «Es ist zu vieles noch unklar, Gerüchten kann nichts entgegengehalten werden.» Mit der Uno-Abstimmung habe das rechte Gedankengut auf dem Bödeli Auftrieb erhalten, sagt Sabina Stör.«Es gibt hier aber keinen grösseren Nährboden für Rechtsextremismus als anderswo.»
Verunsicherung der Lehrer
Trotzdem: Die beiden Schulleiter sind aufgrund ihrer Beobachtungen verunsichert. Sowohl Lehrer als auch Eltern stünden der Entwicklung zu einem gewissen Teil hilflos gegenüber, schreibt Zürcher. «Selbst wenn wir das Gefühl nicht loswerden, dass Ansätze solchen Verhaltens vorhanden sind, können wir zu wenig tun; weil wir eben kaum Konkretes zu wissen bekommen.» Nicht direkt betroffene Schüler schwiegen; «Angst hindert sie am Weitererzählen ihrer Beobachtungen.» In dem Brief (der den Eltern per Post zugeschickt wurde, damit er nicht auf dem Schulweg verschwand) kündigt die Schule an, dass die Eltern ab sofort über alles, was bei ihrem Kind im Zusammenhang mit rechtsextremem Verhalten auffällt, informiert werden. «Wir wollen die Eltern ein wenig in die Pflicht nehmen», sagt Simon Margot. «Der Brief ist auch als Signal zu verstehen, beiderseits die Augen offen zu halten und genau hinzuschauen.» Dies will auch Margot tun. «Es ist gut, wenn die Szene weiss, dass sie beobachtet wird.» Trotz der Beobachtungen der Lehrer teilt er den Eindruck der Kantonspolizei, dass die rechte Szene auf dem Bödeli nicht gewachsen ist. Aber: «Wir haben gewisse Missstände, wie alle anderen Orte auch – früher haben wir einfach nicht geglaubt, dass es sie gibt.» Dass sich in Unterseen eine Entwicklung ein zweites Mal so lange aufbauen könnte, bis es zum Eklat komme, glaubt Margot nicht. «Die Chance ist gross, dass wir heute die Zeichen früher erkennen würden.»
Warten auf den Prozess
Vergessen will man das Geschehene in Unterseen nicht. Simon Margot vergleicht den Verarbeitungsprozess mit dem Trauern: «Wenn jemand stirbt, den man gern hat, kann man irgendeinmal wieder an ihn denken, ohne dass es nur weh tut. Irgendwann können wir das Geschehene in einen Speicher hineintun, so parkieren, dass es nicht mehr schmerzt. Aber wir werden immer noch daran denken.» Heute sei man in seiner Gemeinde noch nicht so weit. «Das kann erst passieren, wenn der zweite Gerichtsprozess vorbei ist.» Beim Prozess gegen die jungen Männer werde alles noch einmal hochkommen. Angst davor hat Simon Margot nicht. «Der Prozess ist nötig, damit wir verarbeiten und abschliessen können.»
Das Verbrechen
cbb. In der Nacht auf den 28.Januar 2001 verschwand Marcel von Allmen, 19-jährig, aus Unterseen. Er habe noch mit jemandem abgemacht, hatte er seiner Freundin damals erzählt, um Mitternacht wollte er wieder zurück sein. Doch er kam von seinem Treffen nicht zurück: Angeblich weil er das Schweigegelübde des «Ordens der arischen Ritter» gebrochen hatte, wurde er von den anderen vier Ordensmitgliedern, seinen angeblichen Freunden, bei der Ruine Weissenau zu Tode geschlagen und anschliessend mit einem Gewicht versehen im Thunersee versenkt.
Tötung gestanden
Innert weniger Wochen konnte die Berner Kantonspolizei vier junge Männer festnehmen. Sie haben die Tat kurz darauf gestanden. Die Kantonspolizei selber sprach von einer neuen Dimension der Gewaltbereitschaft. Eine weitere Hemmschwelle sei gefallen. Die Ermittlungen der Polizei haben ergeben, dass die Tötung Marcel von Allmens bereits eine Woche früher geplant, aber zuerst gescheitert war. Und sie haben noch weitere Delikte an den Tag gebracht: Die drei älteren Ordensmitglieder hatten bereits ein Jahr und wenige Monate vor ihrer Festnahme Tötungen geplant. Ein 18-jähriger Jugoslawe und ein 19-jähriger Schweizer sollten aus dem Weg geräumt werden. Die Taten wurden geplant, aber nicht ausgeführt.
«Von nichts gewusst»
Den «Orden der arischen Ritter» haben die Jugendlichen angeblich gegründet, um sich gegen die Pöbeleien von Ausländern auf dem Bödeli zur Wehr zu setzen. Um den «Orden» finanzieren zu können, wurden Diebstähle begangen, Haschisch verkauft und Hehlerei mit Schmuckgegenständen betrieben. Auch Erpressungen werden nicht ausgeschlossen. Der Anführer der Gruppe hat zugegeben, vom Nationalsozialismus des dritten Reiches geprägt zu sein. In Unterseen wurde nicht erkannt, dass sich eine rechtsextreme Gruppe gebildet hatte. «Bei uns in Unterseen gab es keine Probleme», erklärte Gemeindepräsident Simon Margot wenige Wochen nach der Tat im «Bund». Rechtsextremismus sei zuvor kein Thema gewesen. Margot: «Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich etwas nicht habe kommen sehen, das man hätte kommen sehen müssen.» Und er ist zum Schluss gekommen: «Nein, wir haben von nichts gewusst.»
Aktionstag gegen Gewalt
cbb. «Brücke» heisst die Arbeitsgruppe, bestehend aus Lehrern, Eltern, Jugendlichen, Politikern und Jugendarbeitern, die sich dem Thema Gewalt widmet und Präventionsprojekte lanciert. Eigentlich war auf den 31.März, den Jahrestag des Glockenmarschs, eine neue, «stille» Aktion geplant. «Sie liess sich aber nicht realisieren», sagt der Lehrer Matthias Zürcher. Stattdessen wird nun am 6. Mai ein grosser Aktionstag gegen Gewalt organisiert. Im Kirchgemeindehaus Matten werden die neunten Klassen der Region Bödeli verschiedene Workshops durchführen – unter anderem zu den Themen «Sexuelle Gewalt» und «Waffen». Es werden Diskussionsrunden mit Politikern stattfinden und Informationsanlässe der Kantonspolizei in Biel, welche seit längerem eine Anlaufstelle für Jugendliche anbietet. Zudem werde gemeinsam der Film «Das Schweigen der Angst» angeschaut und diskutiert, erklärt Zürcher. Das Programm wird derzeit noch im Detail ausgearbeitet. Während am Tag die Schulen zum Zug kommen werden, sind am Abend auch die Eltern und die Öffentlichkeit eingeladen.
Der zweite Prozess
cbb. Die vier Männer, die im Januar 2001 Marcel von Allmen getötet haben, waren damals 17 bis 22 Jahre alt. Bereits vor Gericht gestanden ist der damals 17-Jährige: Er wurde vom Jugendgericht Oberland wegen Mordes und unvollendet versuchten Mordes schuldig gesprochen. Das Gericht hat sich bei der Sanktion für eine Massnahme und eine ambulante Psychotherapie entschieden: Der Verurteilte ist in einem Erziehungsheim untergebracht, die Massnahme wird in einer Arbeitserziehungsanstalt vollzogen. Sie wird mindestens zwei Jahre, längstens bis zum zurückgelegten 25. Altersjahr des Verurteilten dauern – über das Ende der Massnahme entscheidet das Gericht. Der Prozess vor dem Kreisgericht Interlaken gegen die drei volljährigen Angeklagten steht noch aus. «Wir warten nur noch auf die psychiatrischen Gutachten», sagt Staatsanwalt Hans-Peter Schürch. Diese sollten im Frühling fertig gestellt sein. Schürch: «Wir hoffen, die Akten im Sommer ans Gericht überweisen zu können.» Wenn es zu keinen Verzögerungen komme, könne der Prozess gegen Ende dieses Jahres durchgeführt werden.