Von Wutbürgern und Trittbrettfahrern

 

Neue Luzerner Zeitung vom 11.11.2011

Seit Wochen protestieren Menschen weltweit gegen die Macht der Finanzindustrie. Ihre Wut hat Sogwirkung.

 

Nelly Keune nelly.keune@luzernerzeitung.ch

Es fühlt sich an, als wären sie aus dem Nichts gekommen, die Protestierenden, die weltweit gegen die Finanzsysteme und die Politiker auf die Strasse gehen. Doch es ist nicht nichts, was die Menschen in über 1000 Städten der Welt so wütend macht, dass sie nicht mehr zu Hause auf dem Sofa sitzen wollen. Warum die Proteste gerade an diesem Tag – dem 17. September – und an diesem Ort – in New York – begonnen haben, wird sich vermutlich nie erklären lassen. Die Gründer und Ursprünge jedoch schon. Der Arabische Frühling, die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo über Wochen Zehntausende von Menschen gegen die Regierung des gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak demonstrierten, können als Anfangspunkt gesehen werden. Es wurde eine Facebookseite installiert, ein Tahrir-Platz-iPhone und eine Blackberry App kreiert. So konnten die Ägypter der staatlichen Zensur entgehen und sich ungehindert austauschen und organisieren. Doch auch schon bei den Protesten im Iran hatten die neuen Medien eine zentrale Rolle eingenommen. Am 15. Mai gingen dann die Bürger in Spanien auf die Strasse. Sie protestierten gegen die Politiker, die den desolaten Zustand der Staatsfinanzen billigend in Kauf genommen hatten. Gleichzeitig kam es in verschiedenen anderen Ländern zu Protesten. In Israel zelteten wütende Bürger im Zentrum von Tel Aviv, in Griechenland besetzten sie den Syntagma-Platz in Athen. Das kanadische Magazin «Adbusters» rief dann im Juli zu Protesten gegen das Finanzsystem auf und nannte den Arabischen Frühling als Vorbild. Nach und nach gingen auch die Bürger in den USA und Kanada auf die Strasse. Seit dem 17. September zelten Demonstranten im Zuccotti-Park in New York, und regelmässig finden Kundgebungen im New Yorker Finanzzentrum statt. Am 15. Oktober gingen dann erstmals Bürger in der Schweiz auf die Strasse, die erste Kundgebung auf dem Zürcher Paradeplatz fand statt und seit Wochen campieren Anhänger der Occupy-Bewegung auf dem Lindenhof.

Für eine andere Demokratie

Auch wenn die Rahmenbedingungen in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind, haben die Demonstrationen doch einen gemeinsamen Hintergrund: Alle richten sich gegen Regierungen, von denen sich die Bürger nicht mehr repräsentiert fühlen. Es geht um soziale Ungleichheit. Immer wieder nennen die Protestierenden die 99 Prozent der Bevölkerung, die zusammen so viel besitzen wie die reichsten 1 Prozent (siehe Box). Sie kritisieren den starken Einfluss der Reichsten auf die Politik und die Gesetzgebung sowie eine zu banken- und wirtschaftsfreundliche Politik. «Es geht darum, dass es keine Alternativen mehr gibt zu den bestehenden politischen Parteien», erklärt der Luzerner Soziologe und Protestforscher Oliver Marchart. «Aus Sicht der Protestierenden dienen die Politiker nicht mehr dem Wohl der Bevölkerungen, sondern verfolgen meist nur noch eigene Interessen.»

Parteien springen auf

Umso mehr wundert es, dass in der Schweiz die politischen Parteien versuchen, die Occupy-Bewegung für sich zu benutzen. So haben die Jusos auf dem Paradeplatz die Fahne geschwungen, und bei einer Demonstration vor dem Wohnhaus von Novartis-Chef Daniel Vasella in Risch ZG haben sie sich als Wortführer ins Spiel gebracht. Aktionen, die bei vielen Protestierenden nicht gut ankommen. Auf der Internetseite von Occupy Paradeplatz äussert sich ein Anhänger besorgt über die Nähe zu politischen Parteien. Auch auf dem Paradeplatz ist Unwillen gegenüber den Politikern vor Ort zu spüren gewesen. Es gehe jedem um etwas anderes bei den Protesten, erklärt Student Stephan Stock. «Gemeinsam ist uns aber das Gefühl der Ohnmacht. Die Demokratie ist nicht mehr das, was sie sein sollte.» Sie seien aber keine Anarchisten oder arbeitslose Krawallmacher. Ihre Kritik richte sich auch gegen die Parteien. «Deshalb finden wir es auch etwas unpassend, dass die Jusos hier ihre Fahnen schwingen.»

Stecken Rechtsextreme dahinter?

Laurent Moeri, einer der Sprecher der Zürcher Occupy Bewegung, betont, dass es ihnen bewusst ist, dass sich nun viele als Trittbrettfahrer versuchen. Man habe zwar Sympathie für die Juso, zumal die Gründe für die Proteste auf der Parteilinie lägen, aber «uns ist es wichtig, dass sich ganz normale Menschen zu Wort melden und sagen können, was sich ändern muss. Wenn sich viele einbringen, können wir ein Gegengewicht zu den bestehenden politischen Parteien bilden.» Jeder kann mitmachen, jeder kann sich äussern – einmal im Internet oder regelmässig bei Demonstrationen. Eine gute Idee, die auch Gefahren birgt. Das zeigt die Verwirrung um einen Occupy-Protest in Zug, der heute stattfinden soll. Auf dem Internet-Portal Youtube ruft eine Gruppe, die sich Occupy Zentralschweiz nennt, zu den Protesten auf. Wer hinter der Gruppe steckt, ist unklar. Die antifaschistische Aktion Antifa prangert auf ihrer Webseite an, dass hinter diesem Aufruf rechtsextreme Gruppierungen stecken würden. Auch bei der ersten Kundgebung auf dem Paradeplatz hätten rechtsextreme «Trittbrettfahrer» versucht, ihr Gedankengut zu verbreiten. «Wir sind uns der Gefahr bewusst, dass es Leute gibt, die von der Bewegung profitieren wollen», sagt Laurent Moeri. «Wir werden das aber nicht zulassen.» Auch Politiker der Jungen FDP in Zürich versuchten sich im Fahrwasser der Occupy-Bewegung zu profilieren. Nachdem die Occupy-Bewegung auf Druck der Stadt Zürich ein Gesuch für ihr Camp auf dem Lindenhof eingereicht hatte, reichten sie auch ein Gesuch für ein Camp ein.

«Wir sind uns der Gefahr bewusst, dass es Leute gibt, die von der Bewegung profitieren wollen.»

Laurent Moeri, Occupy Paradeplatz

 

Aufstand der 99 Prozent

ny. Während Tausende auf die Strassen gehen, um gegen die Finanzindustrie und die Politik ihrer Länder zu protestieren, geben hundert Personen der Bewegung im Internet ein Gesicht. Auf dem Blog «We are the 99 Percent» erzählen Amerikaner von ihrem ganz persönlichen Alptraum, von hohen Krediten, die sie für ihr Studium aufgenommen haben, von Arbeitslosigkeit, zahlreichen Nebenjobs, von Krankenversicherungen, die sie nicht versichern wollen. Der Slogan richtet sich gegen einen zu starken Einfluss der reichsten Amerikaner (1 Prozent), die zusammen so viel besitzen wie die restlichen 99 Prozent der Bürger zusammen.

Schweiz entwickelt sich ähnlich

Die Autoren der einzelnen Beiträge fotografieren sich mit handgeschriebenen Zetteln, auf denen sie ihr Leben beschreiben. Ein junger Mann ist zu sehen, er hält ein Blatt Papier hoch: «Ich musste die Uni verlassen, um meine blinde Mutter zu versorgen. Wegen medizinischer Kosten habe ich 35 000 Dollar Schulden.» Eine Frau schreibt: «Ich bin 57 Jahre alt, habe 18 000 Dollar Schulden wegen einem Studienkredit, keinen Job, keine Rente und keine Krankenversicherung.» Als geistiger Vater des Schlachtrufs «Wir sind die 99 Prozent» wird der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz gehandelt. Er hatte im Mai 2011 in seinem Artikel «Wegen den 1 Prozent, von den 1 Prozent, für die 1 Prozent» in der «Vanity Fair» die wachsende Kluft zwischen Ober- und Mittelschicht heftig kritisiert. Ein Prozent der US-Bevölkerung, so seine Kernaussage, verfügen über 40 Prozent des gesamten nationalen Reichtums. Ausserdem seien die Spitzensaläre in den letzten Jahren um durchschnittlich 18 Prozent gestiegen. Auch in der Schweiz hat sich die Vermögensverteilung zu Gunsten des wohlhabenden Teils der Bevölkerung verändert. Laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund konnte das reichste Prozent der Bevölkerung seinen Anteil am gesamten Vermögenskuchen seit 1997 um 6,1 Prozent steigern. Die weniger gut betuchten 90 Prozent verloren im gleichen Zeitraum um 5,6 Prozent.