Sonntagsblick. 2019 organisierte Sina den Klimastreik, heute marschiert sie mit der Jungen Tat. Der Fall zeigt, wie die Propaganda der Rechtsextremen verfängt. Die Geschichte einer politischen Kehrtwende.
Sina* (20) mag Alltagsweisheiten. «Tue, was sich in deinem Herzen richtig anfühlt, kritisiert wirst du so oder so», schreibt sie auf Instagram. Oder: «Die schönste Zeit im Leben sind die kleinen Momente, in denen du spürst, du bist zur richtigen Zeit am richtigen Ort.»
Einer dieser Momente dürfte für Sina der Dienstag vor einer Woche gewesen sein. Fotos zeigen, wie sie mit ihren Freunden durch Seegräben ZH marschiert. Mit dabei ein Transparent: «Abschieben schafft Wohnraum.» Demonstrieren gegen Flüchtlinge. Sina lächelt.
Die junge Baslerin gehört zum harten Kern der Jungen Tat, der aktivsten rechtsextremen Gruppierung der Schweiz. Das war nicht immer so. Bis 2020 demonstrierte sie mit der Klimajugend, initiierte den Basler Klimastreik, trat in den Medien auf.
«Tue, was sich in deinem Herzen richtig anfühlt»? 2019 sagte die damalige Jungsozialistin der «Schweizer Illustrierten»: «Es darf keine Gratisplastiksäckli mehr in den Läden geben. Das sollte doch eigentlich logisch sein.» Im Blick erzählte Sina, wie sie mit anderen Klimaaktivisten einen Streiksong geschrieben habe – zur Version von «Bella ciao», dem italienischen Partisanenlied, einer Hymne gegen den Faschismus.
Rechtsextreme Freunde wurden bereits verhaftet
Vergessene Zeiten. Seit einem Jahr umgibt sich die ehemalige Klimaaktivistin selbst mit Neofaschisten. «Bella ciao», sagt sie heute, sei «ganz unabhängig von seinem Ursprung ein sehr schönes Lied». Sina, aufgewachsen in einer Anthroposophen-Familie, gläubig, marschiert nun mit der Jungen Tat.
In den sozialen Medien verfolgen Tausende die professionell produzierten Propagandavideos der Gruppe. Jugendlich, hip, rechtsextrem. Den Sicherheitsbehörden macht das Sorgen. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schrieb im Hinblick auf die Aktivitäten der Jungen Tat: «Der Mut, sich zu zeigen und die Auseinandersetzung zu suchen, steigt.»
Die Anführer, zu denen Sina eine freundschaftliche Beziehung pflegt, wurden bereits mehrfach verhaftet. 2021 verurteilte die Staatsanwaltschaft sie wegen Rassendiskriminierung, Vergehen gegen das Waffengesetz und Sachbeschädigung. Laut dem Strafbefehl haben die jungen Männer «die Ideologie des Nationalsozialismus» verbreitet und «die Gruppe der Juden und diejenige dunkelhäutiger Menschen» diskriminiert.
In einem kürzlich über Telegram verbreiteten Video distanzierten sich zwei der Strippenzieher der Jungen Tat von ihren Straftaten. In einem Interview bezeichneten sie diese als Fehler, getrieben von «jugendlichem Leichtsinn». Geführt hat das Interview: Sina.
Es ist nicht das erste Mal, dass die ehemalige Klimaaktivistin in einem Video der Jungen Tat auftritt. Im April 2022 wanderte sie mit der Gruppe durch die Wälder von Winterthur ZH. Im Dezember führte sie ein Strassentheater gegen Islamisten in Schaffhausen auf. Laut dem von Linksradikalen betriebenen Onlineportal Nazifrei, das kürzlich über Sina und ihre rechtsextremen Machenschaften schrieb, war die Baslerin auch dabei, als die Junge Tat im Oktober vermummt und mit Rauchpetarden eine Vorlesestunde von Dragqueens für Kinder am Zürcher Tanzhaus störte.
Wie kommt es, dass sich eine junge Klimaaktivistin innerhalb kurzer Zeit um 180 Grad dreht und bei militanten Rechten landet? «Ich würde meine bisherigen politischen Aktivitäten nicht als Wandel, sondern vielmehr als stetige politische Weiterentwicklung bezeichnen», sagt Sina. Den Ausschlag, den Klimastreik zu verlassen, hätte die «Genderthematik» gegeben und die diesbezügliche «diskussionsverweigernde Haltung» ihrer ehemaligen Mitstreiter. Heute ziehe sie es vor, sich «im Bereich der Familienpolitik und bei Lösungsansätzen der momentanen Migrationskrise» zu engagieren.
Naturschutz sei ihr noch immer wichtig, betont Sina. Tatsächlich hat sich mittlerweile auch die radikale Rechte des Themas angenommen. In einem Video stellen zwei Anführer der Jungen Tat ein Ökomagazin aus dem Umfeld der rechtsextremen Identitären Bewegung vor. «Nachhaltigkeit, Naturschutz und Ökologie sind zentrale Pfeiler einer patriotischen Weltanschauung», sagt einer der beiden in die Kamera. Als Ursache für die Umweltprobleme ortet die Junge Tat den Liberalismus, die Marktwirtschaft und vor allem: die «übermässige Migration».
Die Aktivistinnen und Aktivisten vom Klimastreik Schweiz lehnen solche Theorien ab. Anfang März veröffentlichten sie eine Medienmitteilung, in der sie sich vehement von jeder Form von Ökofaschismus distanzierten. Der Grund für die öffentliche Stellungnahme waren gefälschte Sticker mit dem Klimastreik-Logo, die in mehreren Städten an Wänden klebten. Darauf stand: «Save the bees not refugees» («Rettet die Bienen, nicht die Flüchtlinge»). Vieles deutet darauf hin, dass die Kleber von der Jungen Tat stammen.
«Sie war nett und sehr engagiert»
Leute vom Klimastreik Basel, die 2019 mit Sina für Klimagerechtigkeit demonstrierten, sind irritiert über ihren Wandel. «Wir haben uns eigentlich gut mit ihr verstanden», sagt ein Aktivist, der anonym bleiben möchte. «Sie war nett und sehr engagiert.» Und doch: «Im Rückblick» komme ihre Abkehr nicht völlig überraschend. Sie habe sich zwar nie offen diskriminierend geäussert, ihr Weltbild hätte aber schon damals esoterische und teils antifeministische Tendenzen gehabt. Dafür gebe es keinen Platz beim Klimastreik. «Wir sind solidarisch mit Menschen aus dem globalen Süden und schieben keine Schuld auf Individuen ab.»
Angeeckt ist Sina auch in der Basler Mädchenkantorei, wo sie viele Jahre gesungen hat. 2021 verliess sie den Chor aus politischen Gründen. Sina: «Durch das engstirnige, ideologische Verhalten meiner Mitsängerinnen fühlte ich mich nicht mehr wohl.»
Eine ehemalige Chorfreundin – auch sie will anonym bleiben – erinnert sich: «Sina war sehr offen und extrovertiert. Sie stand gerne im Mittelpunkt.» Wenn es Solorollen zu besetzen gab, habe sie diese oft übernehmen wollen.
Sinas Hinwendung zur Jungen Tat ist mehr als die blosse Identitätsfindung einer Teenagerin. Sie ist auch ein Indiz dafür, dass die Propaganda der Gruppierung verfängt. Mit ihren instagramtauglichen Aktionen und professionellen Videos hat es die Junge Tat geschafft, den Rechtsextremismus für junge Leute wieder attraktiv erscheinen zu lassen. Sina räumt denn auch ein, dass ihr erster Anknüpfungspunkt mit der Gruppe ein «Aktionsvideo» war.
Das Hirn hinter den Filmen ist Manuel C.** (22). Der Winterthurer studierte wissenschaftliche Visualisierung an der Zürcher Kunsthochschule, bis ihn die Leitung 2020 rausschmiss. Grund: Er störte eine Onlinevorlesung und schrie: «Heil Hitler!»
Im selben Jahr scharte C. eine Handvoll junger Männer hinter sich und gründete die Neonazi-Zelle «Eisenjugend». In deren Telegram-Kanal teilte er das Manifest des Rechtsterroristen von Christchurch, der 51 Musliminnen und Muslime erschoss. Zu Hause hortete C. Waffen.
Heute agiert er als Anführer der Jungen Tat. Von der Eisenjugend distanziert er sich: «Jugendsünden». Noch immer schafft er es aber, junge Leute für seine fremdenfeindlichen Fantasien zu gewinnen. Sina ist nur das jüngste Beispiel.
Vor kurzem verteilte sie mit C. Flyer am Bahnhof in St. Gallen: «Sichere Strassen durch sichere Grenzen.» Auf Instagram präsentiert sie sich in einem selbst gestrickten Pullover, auf dessen Rückseite die Tyr-Rune prangt, das Erkennungszeichen der Jungen Tat – und der früheren Reichsführerschulen unter Adolf Hitler. In Deutschland ist das Symbol verboten. Sina sagt, die Rune sei für sie ein altgermanisches Symbol für Kraft und Veränderung. Vom Nationalsozialismus distanziert sie sich.
Sina verlor ihren Job
Es ist das übliche Spiel der Jungen Tat mit neonazistischer Rhetorik. Anführer Manuel C. hat verstanden: Zu offensichtlich rechtsextreme Propaganda schreckt die Jungen ab. Auch deshalb hat er sich von der traditionellen Neonazi-Szene abgewendet. Mit der Jungen Tat bewegt er sich im Dunstkreis der aktionsorientierten Identitären Bewegung. Hippe Patrioten gegen aussen, hinter den Kulissen aber weiterhin militante Rechtsextremisten.
Viele Mitglieder der Jungen Tat spüren im Alltag trotzdem Konsequenzen für ihren Aktivismus. Auch Sina. Anfang Jahr verlor sie ihren Job als Klassenassistenz an einer Sonderschule. Abgehalten von ihrem Weg nach rechts aussen hat sie die Kündigung nicht. Neu bezeichnet sie sich als Künstlerin. «Tue, was sich in deinem Herzen richtig anfühlt, kritisierst wirst du so oder so.»