Neonazi wird, wer schlechte Aussichten auf ein gutes Leben hat. Dieses Bild kultivieren nicht nur filmerische und schriftstellerische Annäherungen an Rechtsradikale, sondern auch Ideologen der Glatzenszene selbst: Rechtsradikale sehen sich gerne als Underdogs im Kampf gegen das Übel der Welt. Doch Fremdbilder wie edle Selbstüberhöhung sind – bezogen auf die Schweiz – falsch. Ein Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds (NF) zeigt, dass sich hierzulande «keine Modernisierungsverlierer» im ultrarechten Milieu tummeln.
Der Einstieg: In der Waldhütte
Was aber bewegt Schweizer Jugendliche aus Lebenswelten mit einem «hohen Mass an Normalität» dazu, rechtsextrem zu werden? Der Einstieg in die Szene erfolgt oft über einschlägige Waldhüt- tenfeste oder klandestine Konzerte von Rechtsrockbands. Skinheadgruppierungen wie Blood and Honour organisieren solche Anlässe bewusst zur Werbung neuer Mitstreiter. Kollegen und Bekannte schleppen Teenager dorthin.
Die Gründe für den Szeneeintritt liegen jedoch tiefer: Die NF-Forscher nennen als «erste Verlaufsform» eine «Überanpassung an das Herkunftsmilieu»: D.* beispielsweise ist 20, kaufmännischer Angestellter, stammt aus einem kleinen Dorf und lebt bei seinen Eltern. Sein Vater betreibt ein Sanitärgeschäft, seine Mutter arbeitet dort. D., Selbstbezeichnung «Nationalsozialist», idealisiert das Familienleben und sieht die heile Welt durch die Moderne und durch Ausländer bedroht. Rechtsextreme wie er verstehen sich laut den NF-Autoren als «Exekutive einer breit verankerten Gesinnung». Wo Eltern und Grosseltern die Faust im Sack machen, wollen sie handeln – radikal, wenn nötig mit Gewalt. Darin bestärkt fühlen sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die rechten Ansichten älterer Generationen. Die Angst vor Überfremdung, das Verlangen nach einem autoritären Staat und die Gewaltbereitschaft sind verbreitet: Die NF-Wissenschafter bezeichnen 4 Prozent der Schweizer Bevölkerung als «potenziell rechtsextrem».
Von befragten Jugendlichen ordnen sie sogar 10 Prozent den «patriotisch-national orientierten, Gewalt befürwortenden Partyjugendlichen» zu. Jeder Dritte bezeichnet sich selbst als «rechtsextrem».
In der Szene: Auseinandersetzungen
«Gewalt, Missachtung und Suche nach Anerkennung» in Elternhaus und Freizeit können laut den NF-Forschern ebenfalls eine Rolle spielen für den Eintritt in die Szene. Bei einem Teil der Jugendlichen ist die Radikalisierung ein unbeholfener Schrei nach Liebe. Mit ihrem Auftreten, beispielsweise mit Glatze, Bomberjacke und nationalsozialistischen Symbolen, wollen sich Neo-Skinheads Aufmerksamkeit, Annerkennung und Respekt verschaffen.
Viele der Eltern stören sich nicht so sehr an der Gesinnung ihrer Kinder, sondern am Outfit: Der Vater von D. beispielsweise fürchtete einzig, dass die Kleidung des Sohnemanns dem Sanitärgeschäft nicht förderlich sei.
In der Szene erfahren die Neuen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, gerade im Dauerkampf gegen andere Jugendsubkulturen. Dem Feindbild der Rechtsradikalen entsprechen nicht nur Ausländer, sondern auch «Hiphopper», «Kiffer» und «Linksalternative». Konfrontationen und Übergriffe sind häufig: Jeder zehnte Jugendliche in der Schweiz hat in seinem Leben rechtsextremistische Gewalt erfahren. Über die Hälfte der Opfer wurde verletzt, bei der anderen Hälfte blieb es bei verbalen Drohungen. «Mit der Zeit gewöhnst du dich daran, dass dir das völlig egal ist, wenn einer am Boden liegt und aus dem Mund blutet», sagt Täter N.*, «dann kannst du ohne mit der Wimper zu zucken noch ein paar Mal reintreten.»
Der Ausstieg: Freundin statt Glatze
Mit zunehmendem Alter erfolgt bei den meisten der Austritt – was nicht zwingend linksum kehrt heisst. Viele legen zwar die Bomberjacke ab, die Ideologie jedoch nicht. Oft stellt auch die Freundin ihren nach rechts abdriftenden Partner vor die Wahl: Hakenkreuz und Springerstiefel oder ich.
Zum Abgang motivieren zudem gute Erfahrungen mit Repräsentanten von «Feindgruppierungen» – also mit Ausländern und Linken. Weitere Ausstiegsfaktoren sind laut der Nationalfondsstudie «Übersättigung aufgrund ausgelebter Bedürfnisse», «Burnout» und «als belastend wahrgenommene Strafverfahren». Die meisten Rechtsextremen distanzieren sich zwar räumlich, aber nicht im Kopf von ihren Cliquen oder Kameradschaften.
* Die Beispiele stammen aus der Broschüre «Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger», herausgegeben von der Eidgenössischen Fachstelle für Rassismusbekämpfung.