Eine angebliche Abrechnung in der rechtsextremen Szene als Motiv für die Schüsse im Niederdorf hat das Bezirksgericht als «mediale Phantasie» bezeichnet.
Zum Geburtstag gab es die Verwahrung: Einen Tag vor seinem 27. Geburtstag ist Sebastien N. vom Bezirksgericht Zürich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu 12 Jahren Freiheitsstrafe mit anschliessender Verwahrung verurteilt worden. Der Geschädigte erhielt eine Genugtuung von 18 000 Franken zugesprochen. In den Medien waren Bilder vom Täter mit Tätowierungen von Adolf Hitler und einem Hakenkreuz auf seiner entblössten Brust kursiert. Als Beschuldigter vor Gericht erklärte er aber, schon 2007 aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen zu sein. Im Saal trug er ein T-Shirt mit dem Text «Don’t mess with the big red machine» und den Zahlen «1312», was in der Szene ein Code für den Spruch «All Cops are Bastards» ist. Vom Vorsitzenden Richter auf die Bedeutung der Zahlen angesprochen, erklärte er aber: «Es sind einfach Zahlen.»
Aufgrund von zwei Schüssen auf einen Kontrahenten am 5. Mai 2012 im Niederdorf wurde er am Mittwochabend wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und mehrfacher Vergehen gegen das Waffengesetz verurteilt. Es wurde eine ambulante Therapie während des Strafvollzugs angeordnet. Da der Beschuldigte selber eine stationäre Therapie ablehnt, wie sie das Gericht für dringend notwendig erachtet hätte, sei nur noch die Verwahrung nach dem Strafvollzug geblieben, erklärte der Vorsitzende. In einem psychiatrischen Gutachten war dem zur Gewalt neigenden Beschuldigten, der in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen ist, eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit eingeschränkter Impulskontrolle bescheinigt worden. Das Gutachten sprach von einer hohen Rückfallgefahr.
Schüsse aus direkter Nähe
Anhaltspunkte für eine Abrechnung unter Gesinnungsgenossen in der rechtsextremen Szene, wie im Vorfeld des Prozesses immer wieder berichtet worden war, gebe es nicht, erklärte der Vorsitzende. Dies scheine eine «mediale Phantasie» zu sein. Die Tat sei nicht geplant gewesen. Es habe sich wohl um eine zufällige Begegnung gehandelt. Die Waffe habe der Mann wegen seines Selbstwertgefühls mitgetragen. Das Gericht sah auch keine Notwehr. Die Tat sei nur mit der Gewaltbereitschaft und Affektivität des Täters zu erklären. Ihm wurde deshalb eine leichte Verminderung der Schuldfähigkeit zugebilligt.
Am 5. Mai 2012 schoss Sebastien N. im Niederdorf auf einen zwei Jahre älteren Bekannten, mit dem er zuvor in einer Bar Alkohol getrunken hatte. Das Opfer überlebte mit einem Lungendurchschuss. Opfer und Täter kannten sich aus der Neonazi-Szene. Beide machen aber geltend, mittlerweile «ausgestiegen» zu sein. Gemäss Anklage zog Sebastien N. an jenem Morgen gegen 2 Uhr 10 vor der Double-U-Bar nach einem Streit seine durchgeladene Kleinkaliber-Pistole aus dem Hosenbund, entsicherte die Waffe und schoss sofort in Richtung des Kontrahenten, der nur 60 bis 80 Zentimeter von ihm entfernt stand. Der Täter ergriff die Flucht und wurde später in Hamburg verhaftet.
Vor Gericht erzählte der Beschuldigte, er habe den Bekannten zufällig in der Bar getroffen. Dieser sei aggressiv gewesen und schon in der Bar ausfällig gegen ihn geworden, nachdem er ihn auf die Ex-Freundin angesprochen habe. Draussen vor der Bar habe sein Kontrahent dann eine Flasche nach ihm geworfen und sei auf ihn losgegangen. Da habe er Angst bekommen und «im Schock» geschossen, um sich zu schützen. Sein Verteidiger erklärte, es habe sich um Notwehr gehandelt, und beantragte eine dreijährige Freiheitsstrafe wegen eventualvorsätzlicher schwerer Körperverletzung mit einer vollzugsbegleitenden ambulanten Massnahme.
Die Staatsanwältin hatte eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und die Anordnung der Verwahrung gefordert. Der Mann ist sechsmal vorbestraft und schon für mehr als 40 Straftaten verurteilt worden, wegen Körperverletzung, Rassendiskriminierung und weil er durch eine geschlossene Türe auf seine Freundin schoss. Das Solothurner Obergericht hatte ihn im Januar 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 39 Monaten verurteilt. Im Mai 2012 befand er sich auf freiem Fuss, weil er das Urteil ans Bundesgericht weitergezogen hatte.
SMS nach dem Schuss
Gemäss der Staatsanwältin hatten alle befragten neutralen Zeugen, die sich in der Bar aufgehalten hatten, in der Untersuchung übereinstimmend erklärt, das Opfer sei nicht aggressiv gewesen und in der Bar habe es noch keinen Streit gegeben. Dieser Darstellung folgte auch das Gericht. Laut der Staatsanwältin habe der Täter den Konflikt gesucht und aus Wut und Rache auf seinen Kontrahenten geschossen. Dabei erwähnte sie auch eine SMS, die der Täter nach der Schussabgabe verschickt hatte: «Verrat ist nicht verzeihbar.» Darin sah das Gericht aber nur einen nachträglichen Erklärungsversuch.
Der Geschädigtenvertreter hatte auf Mord plädiert. Der Beschuldigte habe jemanden eliminieren wollen, den er als Verräter sah. Der Anwalt hatte eine Genugtuung von 45 000 Franken für seinen Mandanten verlangt. Der Rest dieser Forderung wurde vom Gericht auf den Zivilweg verwiesen.
Urteil DG130275 vom 11. 6. 14, noch nicht rechtskräftig.
* Bezirksgericht Zürich: Abrechnung unter Rechtsextremen?