«Verstehen können wir diese Tat nicht»

Der Bund

Im Mordfall von Allmen sind die Angeklagten zu lebenslänglichem beziehungsweise 16 Jahren Zuchthaus verurteilt worden

Schuldsprüche wegen mehrfach versuchten und einmal vollendeten Mordes und hohe Zuchthausstrafen: Das Kreisgericht Interlaken-Oberhasli hat gestern im Mordfall von Allmen sein Urteil gefällt.

Christine Brand

Die drei Angeklagten, die sich, gefesselt an den Füssen, erheben müssen, nehmen das Urteil in stoischer Ruhe entgegen. Sie seien schuldig gesprochen, sagt ihnen Gerichtspräsident Thomas Zbinden, schuldig des Mordes, mehrfach versucht und einmal vollendet, schuldig auch der strafbaren Vorbereitungshandlungen zum Mord. Weil sie im Dezember 1999 einen Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien umbringen wollten, weil sie im Sommer 2000 vorhatten, einen Schweizer bei der Ruine Weissenau zu erschlagen oder ihn in seiner Badewanne zu ertränken, und weil sie Marcel von Allmen bei einem zweiten Anlauf töteten. Ihn mit einem Chromstahlrohr, 155 Zentimeter lang, 28 Millimeter dick, 900 Gramm schwer, zu Tode schlugen.

In den Worten des Täters

Als Gerichtspräsident Zbinden in seiner zweieinhalbstündigen Urteilsbegründung kurz von seinem Text abweicht, um noch einmal Marcel M.s Schilderung von der Tat zu zitieren, als er in den Worten des Täters beschreibt, wie Marcel von Allmen zur Ruine geführt wurde, wie sie ihm Handschellen angelegt und Klebeband auf den Mund geklebt hatten, wie Marcel M. schliesslich auf ihn eingeschlagen hatte, ist es sehr still im bis auf den letzten Platz gefüllten Assisensaal im Amthaus Bern. Noch einmal habe sich Marcel von Allmen aufgerichtet. «Hör uf, ig cha nümme», habe er gesagt, als das Klebeband verrutschte. Wieder wurde zugeschlagen. Doch Marcel von Allmen habe sich auch dann noch gerührt, als Marcel M. seinen Ordensbrüdern befahl, ihn zu «verpacken», um ihn dann bei der Beatusbucht in den See zu werfen. «X-fach hätten die Angeklagten die Möglichkeit und Chance gehabt, Nein zu sagen, aufzuhören, nicht mehr mitzumachen oder Marcel von Allmen zumindest zu warnen», sagt Thomas Zbinden. Keiner habe es getan. Die Tötung sei ein Gesamtentscheid gewesen, der von allen getragen worden sei. Alle hätten bei dem «kaltblütigen, grausamen, erbarmungslosen, heimtückischen», dem «menschenverachtenden» und «superqualifizierten Mord» eine sehr grosse kriminelle Energie an den Tag gelegt. «Das Verschulden ist bei allen extrem gross.» Und das Motiv sei nichtig gewesen: Von Allmen musste sterben, weil er das Schweigegelübde des rechtsextremen «Ordens der arischen Ritter» gebrochen hatte.

In seiner Begründung zeichnet Thomas Zbinden das Bild von drei «überdurchschnittlich intelligenten jungen Männern, die im Berufsleben Fuss gefasst», die einen «abstrus gefährlich-romantischen» Orden gegründet hatten, der nicht einfach ein Jugendtraum gewesen sei. Und er korrigiert die Selbsteinschätzung der Angeklagten, die sich als still, zurückhaltend, normal beschrieben hatten: Es seien bei allen sehr wohl aggressive Züge vorhanden. Und alle hätten sie eine nationalsozialistische bis rechtsradikale Gesinnung gehabt. «Aber die Tat darf nicht einfach auf einen rechtsextremen Exzess reduziert werden.»

Das Gericht beurteilte auch das psychiatrische Gutachten als «glaubhaft». Alle drei Angeklagten seien vollständig zurechnungsfähig gewesen und geistig gesund. «Aus der Art der Tat kann nicht einfach eine psychische Störung gefolgert werden», mahnte Zbinden, «frei nach dem Motto: ,Wer so etwas tut, ist doch nicht normal?.» Auch der Gruppendruck habe keine entscheidende Rolle gespielt. Nicht die Angst vor dem Anführer Marcel M. sei wohl ausschlaggebend gewesen, um mitzumachen, sondern vielmehr die Angst davor, dass Marcel von Allmen durch sein Gerede frühere Taten könnte auffliegen lassen, an denen alle beteiligt gewesen seien.

Trotzdem: Dass Marcel M., der «Führer» des Ordens, die «treibende Kraft» war, ist für das Gericht unbestritten. Sein Verschulden wertet es denn als noch höher ein als das der anderen. Es verurteilt Marcel M., 25, der die Tötung von Allmens beschlossen und eigenhändig vollzogen hat, der vorbestraft ist, weil er 1999, angeblich in Notwehr, auf einen Polizisten in Zivil geschossen hatte, zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. In der Diskussion, ob für M. die Höchststrafe angemessen sei, habe sich das Gericht eine Frage gestellt: «Ist das Verschulden so krass, dass man es gar nicht in seinen Kopf hineinbekommt?» Und diese Frage, sagt Zbinden, habe klar mit Ja beantwortet werden müssen. Renato S., 24, der Marcel M. bei der Tat dienlich war, wird mit 16 Jahren Zuchthaus bestraft. Ebenso Michael S., 24, der mitgeholfen hatte, die Tat minutiös zu planen und vorzubereiten. Zbinden spricht von einem sehr professionellen Vorgehen.

«Vorgehen macht sprachlos»

Die Aufgabe des Gerichts, sagt Thomas Zbinden, sei schwierig gewesen. «Denn das Vorgehen macht sprachlos. Verstehen können wir alle diese Tat nicht.» Selten seien in einem Fall Ohnmacht und Macht dermassen nahe beieinander gelegen. Mit seinem Urteil habe das Gericht nun einen erstinstanzlichen Schlusspunkt gesetzt, erklärt Zbinden. «Nicht Sache des Gerichts ist es, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen.» Oder gar aufzuzeigen, wie derartige Entwicklungen verhindert werden könnten. «Dies ist die Aufgabe unserer Gesellschaft.»

Urteil wird angefochten

Mit dem Urteil des Kreisgerichts ist der Fall von Allmen nicht abgeschlossen. Marcel Grass, Verteidiger von Marcel M., der wegen massiver Morddrohungen gegen seine Person die Polizei hat einschalten müssen, wird ans Obergericht appellieren. Er könne sich mit dem «inhaltlich und formal nicht korrekten» psychiatrischen Gutachten und mit dem Strafmass nicht einverstanden erklären. Die anderen Verteidiger und Staatsanwalt Hanspeter Schürch wollen eine Appellation prüfen. «Mir erscheint das Strafmass der beiden Mittäter im Quervergleich mit anderen Delikten als milde», sagte Schürch. (cbb/gmü)

INTERVIEW

«Wir haben die Notsituation zu wenig realisiert»

«bund»: Herr Ritz, Sie haben die Urteilseröffnung mitverfolgt ? wie haben Sie sie erlebt?

Theo Ritz: Die Tat hat mich erneut betroffen gemacht. Die Strafmasse habe ich so erwartet, auch die lebenslängliche Strafe. Es ist eben so, wie es Richter Zbinden gesagt hat: Es geht einem fast nicht in den Kopf, was da geschehen konnte.

Es ist auch für Sie nicht erklärbar?

Nein. Aber ich kann versuchen, das Emotionale vom «Technischen», von der Tatausführung abzuspalten. So wie es bei vielen Tätern vorzukommen scheint. Auch hier. Das Verrückte war ja, dass die Täter nach der Tat noch drei, vier Wochen da waren, unter uns.

Die Täter haben normal weiter funktioniert?

Scheinbar ja. Und auch sie hatten sich gefragt, wo von Allmen wohl sei. Drei Wochen lang. Das erzeugte später ein enormes Misstrauen unter den Jugendlichen. Es war ein Riesenschock.

Und wie ist das heute?

Für die Jugendlichen ist es eigentlich vorbei. Sie sind damals ins Bodenlose gefallen, haben sich aber wieder neu gefunden. Meine, die ältere Generation kann das schlechter verarbeiten. Wie gesagt: Bei uns hat das einfach keinen Platz mehr im Kopf.

Auch bei Ihnen nicht?

Ich hatte die Chance, mit beiden Seiten, mit den Tätern, deren Eltern wie auch den Eltern der Opfer Kontakt zu haben.

Das hat es Ihnen erleichtert?

Nein, es hat mich überfordert.

Sie hatten früher bereits als Pfarer Kontakt mit Leuten, die zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden waren ? was bedeutet die Perspektive Lebenslänglich für einen jungen Menschen?

Er wird als anderer Mensch das Gefängnis verlassen. Und seine Heimat, die hat er mit dieser Tat verloren. Er wird höchstens noch auf Besuch kommen können.

Was bedeutet diese Strafe für die Eltern?

Für sie ist dieses Verdikt sehr schwer zu ertragen. Ich wüsste nicht, was ich als Elternteil empfinden würde. Sehr tragisch ist auch die Situation der Opferfamilie. Für sie ist es kaum auszuhalten.

Der Richter sagte, zum Teil seien die Angehörigen in Sippenhaft genommen worden. Was haben Sie da als Pfarrer getan?

Ich habe versucht, ihnen Mut zu machen, damit sie Kontakte erhalten, wieder raus gehen und sich nicht einfach ins Schneckenloch zurückziehen. Man fühlt sich schuldig als Eltern. Das gehört auch zu einer solchen Tat: Die Familie ist mittendrin.

Das Strafrecht beurteilt nur die Verantwortlichkeit des Individuums. Trägt nicht auch die Gesellschaft, das «Bödeli» eine Verantwortung?

Ganz klar. Wir müssen uns zum Beispiel fragen: Warum sind die Jugendlichen damals nicht auf die Idee gekommen, bei uns Erwachsenen Hilfe zu holen? Sie haben uns offensichtlich nicht genug getraut. Im Nachhinein muss ich sagen: Wir haben die Notsituation der Jugendlichen zu wenig realisiert.

Es war eine Notsituation?

Es gab damals ein Problem mit Ausländern. Aber nicht nur. Es war eine Jugendproblematik kombiniert mit Gewalt ? und es gab Bereiche, in denen wir die Jugendlichen allein gelassen haben.

Ist es schwierig, sich das einzugestehen?

Ja. Es ist die Last, dass es so weit hat kommen können, die wir tragen. Auch ich. Auch mich trifft ein wenig Schuld, Mitverantwortung.

Die Idee der späteren Arbeitsgruppe «Brücken» existierte aber bereits vor der Tat.

Ja. Wir hatten bereits Kontakte mit der Jugendarbeit, mit der Gemeinde, um etwas aufzubauen. Mit «Brücken» wird seit der Tat versucht, Kontakte zu schaffen, alle zu integrieren, über Sportvereine, Ausländervereine, über Parteien, Schulen und auch über die Kirchen. Es ist in den letzten Jahren breiter geworden, es sind verschiedenste Leute involviert und die Tat steht nicht mehr im Zentrum.

Wie erklären Sie sich die rechtsextreme Gesinnung der Täter?

Wichtig ist, dass die Jugendlichen sich abgrenzen und wahr genommen werden wollen. Wenn man heute lange Haare hat, sagt niemand mehr etwas. Gibt man sich aber rechtsextrem, kommt man in allen Zeitungen. Ich möchte die Gesinnung nicht verharmlosen. Aber dahinter ist immer mehr versteckt. Ziel wäre es sicher, dass sich die Jugendlichen nicht mehr über den Rechtsextremismus abgrenzen müssten. Aber man muss auch sehen: Eine 100-prozentige Sicherheit, dass so etwas nicht wieder passiert, die gibt es nicht. (Interview: Heidi Gmür)