St. Galler Tagblatt: In ihrem Kommentar vom 17. Dezember bedauert Sarah Gerteis im Tagblatt, dass die Staatsanwaltschaft keine Strafuntersuchung im Zusammenhang mit dem Neonazi-Konzert in Unterwasser eröffnet hat. Ein allfälliger Prozess vor Gericht hätte ihrer Ansicht nach ein wichtiges Exempel statuieren können. Sind Strafprozesse zu diesem Zweck da?
Zunächst: Eine Anklage vor Gericht setzt voraus, dass die Staatsanwaltschaft einer bestimmten Person ein konkretes Verhalten nachweisen kann, das ihres Erachtens unter einen bestimmten Straftatbestand fällt. Rassendiskriminierend verhält sich nach dem Gesetz, wer öffentlich gegen eine Person oder Gruppe wegen ihrer Rasse zu Hass und Diskriminierung aufruft. Ziel ist es damit nicht, eine bestimmte Gesinnung zu bestrafen, sondern zu verhindern, dass diese Gesinnung verbreitet wird. Das setzt Handeln in der Öffentlichkeit voraus. Man mag das bedauern, aber es entspricht geltendem Recht und der Rechtsprechung.
Das Konzert in Unterwasser zog zwar Tausende von Leuten an, war aber strikte kontrolliert: Wer keinen Eintrittsbändel hatte (der nicht öffentlich zu kaufen war), der kam nicht in den Saal. Deshalb war es auch nicht möglich, zivile Fahnder einzuschleusen. Wie man kurzfristig mit legalen Mitteln rassistische Äusserungen im Saal hätte dokumentieren können, ist mir nicht einsichtig. Noch weniger klar ist mir, wie man Verantwortliche hätte identifizieren sollen. Öffentlichkeitsfahndungen führen ins Leere, wenn die Mehrheit der Besucher aus dem Ausland kommt. Aber wer gar nicht öffentlich handelt, dessen Verhalten kann auch nicht öffentlich dokumentiert und dann bestraft werden.
Das spielt aber offenbar alles keine Rolle: Wenn sich Neonazis versammeln, dann muss das strafbar sein, und wenn es strafbar ist, dann muss die Staatsanwaltschaft anklagen, egal wen, egal wieso, und das Gericht muss verurteilen, weil es sich sonst dem Vorwurf der Kuscheljustiz aussetzt. Dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem Gesetzesverstösse nur unter klaren Voraussetzungen überhaupt verfolgt werden dürfen, soll nicht gelten, denn sonst ist die SP empört, die Stiftung gegen Rassismus traurig und selbst die CVP noch leise enttäuscht.
Bundesrichter Niklaus Oberholzer hat diesen Mechanismus kürzlich in einem Essay für den Tagesanzeiger beschrieben: «Geschieht irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes, folgt der Verlauf dem immer gleichen Muster: Zuerst berichten Reporter live vom Tatort. Wenig später folgen die Experten, die über Ursachen und Gründe spekulieren. Dann kommt der Auftritt des Justizdirektors, der die rückhaltlose Aufklärung des Verbrechens und die unerbittliche Bestrafung der Schuldigen verspricht. Schliesslich melden sich die ersten Politikerinnen und Politiker. Sie orten verheerende Lücken im Strafrecht, verlangen neue Strafbestimmungen und fordern effizientere Mittel zur Bekämpfung des Bösen.»
Deshalb hat Nationalrätin Barbara Gysi jetzt einen Vorstoss im Nationalrat angekündigt, der die Verschärfung der Rassismus-Strafnorm zum Ziel hat. Was beabsichtigt ist, lässt sich erahnen: Man soll Rassisten künftig nicht an ihren Taten messen, sondern schon für ihre Gesinnung bestrafen können.
So bestechend das im konkreten Fall ist: Ich möchte nicht in einem Staat leben, in dem man schon für eine bestimmte Gesinnung (sei sie nun neonationalistisch, salafistisch, marxistisch oder was auch immer) bestraft werden kann. Ich verstehe zwar, dass Politiker in unsicheren Zeiten nicht warten möchten, bis etwas passiert, sondern dass sie vorher handeln wollen. Dazu dient Strafrecht aber gerade nicht: Es soll nicht präventiv Straftaten verhindern, sondern repressiv begangenes Unrecht bestrafen. Es wäre denn auch ein falsches Versprechen, wenn man Strafrecht zur Prävention einsetzen würde, denn zur Sicherheit trägt dies heute, wo ohnehin schon alles Strafwürdige verboten ist, nichts bei.
Politiker erliegen aber immer wieder dem Irrtum, dass neue Strafbestimmungen zu mehr Sicherheit führen können. Ein aktuelles Beispiel: Seit Juni 2012 gibt es in der Schweiz eine Strafbestimmung, welche Genitalverstümmelungen verbietet. Zwar waren sich die meisten Experten und Expertinnen innen einig, dass es diese Strafbestimmung gar nicht braucht, weil Genitalverstümmelung ohnehin als schwere Körperverletzung bestraft werden kann und muss. Trotzdem konnten es sich Politiker und Politi- kerinnen nicht leisten, gegen den neuen Tatbestand zu sein, weil man dies als Befürworten von Genitalverstümmelungen hätte missdeuten können. Nun stellen wir fest, dass es seit 2012 im Kanton St. Gallen kein einziges Strafverfahren deswegen gab. Der Schluss, den Politiker daraus ziehen, ist allerdings nicht, dass wieder eine sinnlose Strafbestimmung mehr im Gesetz ist, sondern die Regierung des Kantons St. Gallen wird in einer Interpellation vom 29. November 2016 gefragt, ob sie Handlungsbedarf sehe und gedenke, «Massnahmen zu ergreifen, damit sich die Situation verbessere». Welche Situation soll sich denn bitte sehr in welcher Art verbessern?
Aber solche Fragen sind natürlich ketzerisch, weil man als Verharmloser missverstanden werden könnte. Die Medien hätten gerne die Interpretationshoheit über Geschehnisse und Äusserungen, über die man sich gerne empört. Ich erinnere mich daran, wie ich selbst einen kleinen Shitstorm mitverursachte, nachdem ein als Jude verkleideter Mann den Fanzug der Luzerner Fussballfans vor einem Spiel gegen den FC St.Gallen angeführt und die Fans skandiert hatten: «Sie werden fallen, die Juden aus St.Gallen.» Dass die Aktion sich nicht gegen die Juden, sondern gegen die Fans des FC St.Gallen richtete, war wahrscheinlich nicht nur mir klar. Trotzdem war in den Medien die Rede davon, dass ein Jude durch St.Gallen getrieben worden sei, was schlichtweg nicht zutraf, weil er als Anführer der Luzerner Fans und nicht als Getriebener auftrat. Übel nahm man mir, dass ich die Aktion, die während der Luzerner Fasnacht stattfand, zunächst als «Fasnachtsscherz» bezeichnete. Natürlich war die Aktion der Fans besonders gedankenlos, und das gilt auch für meine erste Reaktion, weil ich nicht bedachte, dass die Sache zwar nicht antisemitisch gemeint war, aber so verstanden werden konnte. Die Fans konnten schliesslich nicht bestraft werden, weil Dummheit nicht strafbar ist. (Zum Glück, sonst hätte die Staatsanwaltschaft viel zu tun.)
Vielleicht sollten wir uns wieder darauf besinnen, was Strafrecht eigentlich soll: Es soll die Verfolgung schwerer Rechtsbrüche ermöglichen und deren Bestrafung regeln. Was ein schwerer Rechtsbruch ist, bestimmen allerdings weder die Medien noch deren Leser in Online-Abstimmungen, sondern das legt der Gesetzgeber fest. Er täte gut daran, vor dem Erlass neuer Strafbestimmungen zu prüfen, ob sie wirklich notwendig und wirksam sein können. Und er sollte darauf verzichten, aus symbolischen Gründen zu verbieten, was ohnehin schon verboten ist, oder Straftatbestände nur deshalb auszudehnen, weil in einem konkreten Fall die Auslegung einer Bestimmung eine vermeintliche Strafbarkeitslücke offen lässt. Strafrecht soll nur die wichtigsten Rechtsgüter schützen, denn je weiter der strafrechtliche Schutz ausgedehnt wird, desto bedeutungsloser werden Strafen.
Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte werden sich auch in Zukunft alle Mühe geben, die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen genau einzuhalten. Das hiess im Fall Unterwasser für die Polizei: Sicherheit von Unbeteiligten vor Beweissicherung. Es hiess für die Staatsanwaltschaft: Keine Eröffnung eines Strafverfahrens ohne konkret dokumentierten Tatverdacht, keine Anklage ohne vernünftige Aussicht auf eine Verurteilung. Und es hätte für die Gerichte geheissen: Kein Schuldspruch ohne ausgewiesene Strafbarkeit. Ein Freispruch für Veranstalter oder Teilnehmer des Neonazi-Konzertes aus Beweis- oder Rechtsgründen wäre genau das Signal an die Szene gewesen, das wir ver-meiden mussten. Da war eine Nichtanhandnahme nicht nur juristisch richtig, sondern auch politisch das kleinere Übel.
Ich möchte nicht in einem Staat leben, in dem man schon für eine Gesinnung bestraft werden kann.
Thomas Hansjakob
Erster Staatsanwalt des Kantons St.Gallen