Neue Zürcher Zeitung. Wenn die russische Armee Bomben wirft und Zivilisten abschlachtet, gibt es eigentlich nichts zu rechtfertigen. Rechte und linke Publizisten sehen das anders – und attestieren dem Westen eine Angstpsychose.
Die Titelgeschichte über «Selenskyjs dunkle Seite» war der «Weltwoche» ganze vier Seiten wert. Der ukrainische Präsident, so erfuhr das Publikum unter anderem, ist eine Marionette von Neonazis mit «Tätowierungen auf Armen, Hälsen, Rücken». Er lässt Russen foltern und töten. Auch wenn er es nicht direkt sagt, kommt die Haltung des Autors Guy Mettan klar zum Ausdruck: Wladimir Putin hat recht, wenn er die Ukraine «entnazifizieren» will.
Guy Mettan war in den 1990er Jahren Chefredaktor der «Tribune de Genève», später präsidierte er als CVP-Politiker das Genfer Kantonsparlament. Er besitzt die russische Staatsbürgerschaft und gehört heute zu einem Kreis von Autoren, die in der «Weltwoche» konsequent Partei für Russland ergreifen. Die Propagandatricks, die Mettan und Konsorten anwenden, funktionieren nach einem einfachen Prinzip: Der Täter ist eigentlich das Opfer.
Schon Karl der Grosse hatte Angst vor den Russen
Glaubt man der prorussischen Propaganda, leidet die westliche Bevölkerung unter einer kollektiven Psychose, einer «antirussischen Hysterie», wie der Kreml noch wenige Tage vor seiner «Militäraktion» in der Ukraine behauptete. Das Zauberwort, das Putin, Lawrow und ihre westlichen Lautsprecher in diesem Zusammenhang verbreiten, lautet «Russophobie». Demnach ist Russland – und damit natürlich auch die russische Regierung – das Opfer von diffusen Ängsten, die im Westen seit Jahrhunderten geschürt werden.
Guy Mettan hat dazu ein ganzes Buch verfasst. «Russland und der Westen», so heisst es, «ein tausendjähriger Krieg. Die Angst vor den Russen von Karl dem Grossen bis zur Ukraine-Krise». Der Tenor des 2017 erschienenen Werks: Der Westen habe sich seit Karl dem Grossen selig ein Feindbild konstruiert, das ähnlich wie der Antisemitismus auf Wahnvorstellungen statt auf Fakten basiere. Wenn also jemand Angst habe vor russischen Bomben, Gewaltherrschern und Kriegsverbrechern, sei das im Grunde dasselbe, wie wenn jemand die (einst vom russischen Geheimdienst fabrizierten) «Protokolle der Weisen von Zion» als glaubwürdige Quelle betrachte.
Der Vergleich mit den Juden ist zwar grotesk. Aber er ist ein bewährtes Mittel, um Kritiker totalitärer Staaten und Bewegungen kollektiv als Rassisten und psychisch kranke Angsthasen zu diffamieren. Bereits in den 1950er Jahren gebärdeten sich die Anhänger der stalintreuen kommunistischen Parteien in Westeuropa als Opfer einer «antikommunistischen Hysterie», die direkt nach Auschwitz führe. Antikommunistisch war es zum Beispiel, über den Gulag zu sprechen und Stalin nicht als Friedensmann anzuerkennen.
Die «Weltwoche» und die «Junge Welt» auf einer Linie
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die rechtsbürgerliche und vormals stramm proamerikanische «Weltwoche» die Mär von der kollektiven Angstpsychose weiterverbreitet, um den angeblich missverstandenen Wladimir Putin zu verteidigen. Bezeichnenderweise findet sie sich damit in Gesellschaft mit den tiefgekühlten Mauer- und Stasi-Verteidigern von der einstigen DDR-Zeitung «Junge Welt», die heute Aufrufe wie «Russophobie entgegentreten!» lancieren und über die Konstruktion des russischen «Weltfeindes» lamentieren.
Die Welt soll über Russophobie sprechen, nicht über russische Bomben. Gefährlich, so suggerieren die Russophobie-Theoretiker, sind die Ängstlichen, denn sie provozieren die Eskalation. Wladimir Putins Freund Gerhard Schröder zum Beispiel erklärte 2015, die Ängste der Osteuropäer vor Russland seien völlig unbegründet. Russland dagegen habe gute Gründe, Angst vor einer Einkreisung zu haben. Hier Phobie, dort berechtigte Sorgen – dieses Weltbild war in der SPD damals noch keineswegs skandalös. Dabei haben russische Journalistinnen wie die 2006 ermordete Anna Politkowskaja bereits vor über 20 Jahren festgestellt, dass Russophobie-Vorwürfe vor allem dazu dienen, Kritik an der russischen Regierung zu tabuisieren.
Bis heute profitieren prorussischen Propagandisten davon, dass es Leute gibt, die wie im Kalten Krieg tatsächlich hysterisch und rassistisch sind. Etwa, indem sie russischstämmige Katzen von internationalen Schönheitswettbewerben ausschliessen oder Vorlesungen über Puschkin canceln wollen. Oder indem sie russische Bürger anpöbeln, weil die für Putins Politik verantwortlich sein sollen. «Kleine Kristallnächte» nannte die «Weltwoche» das. Als ob Russen heute zumindest ein bisschen durch die Strassen gejagt und totgeschlagen würden wie jüdische Deutsche im Jahr 1938.
Wie leicht derartige Ablenkungs- und Desinformationskampagnen im Westen verfangen können, beweisen islamistische Bewegungen, die sich seit Jahren als Opfer irrationaler Ängste inszenieren – obwohl sie in ihren Schriften ganz offen für das Auspeitschen von Homosexuellen oder die Unterwerfung der Frau plädieren. Sie gebärden sich als «neue Juden» und (Pogrom-)Opfer einer «islamophoben» Gesellschaft, sobald sie kritisiert werden. Dabei werfen sie «dem Westen» vor, das Feindbild einer rückständigen Religion bloss konstruiert zu haben, um alle Muslime zu unterdrücken.
Gibt es bald staatlich geförderte Russophobie-Studien?
Obwohl auch diese Legende nur funktioniert, wenn man zentrale Fakten ausblendet und Antisemitismus verharmlost, ist sie in Medien, Politik und Wissenschaft salonfähig. Der in deutschen Medien oft ohne Widerspruch zitierte «Vorurteilsforscher» Wolfgang Benz etwa führt die Ablehnung von Islamisten nicht etwa auf deren Ideologie und auf Terrorakte zurück, sondern auf die westliche Angst vor «dem anderen». Zudem setzt er diese Ablehnung mit dem Judenhass des 19. Jahrhunderts gleich. Die EU wiederum hat bis vor kurzem einen «Islamophobie-Report» mitfinanziert, der sämtliche Islamkritiker in die Nähe von Rechtsextremen rückt – und mediale Berichte über Terror als «Hysterie» brandmarkt.
Ob es bald auch staatlich alimentierte und medial verbreitete «Russophobie»-Studien und Tage gegen antirussischen Rassismus gibt, ist eher unwahrscheinlich. Denn im Gegensatz zu den Muslimen werden die Russen von postkolonialen Ideologen nicht pauschal als unterdrückte People of Color eingestuft, sondern als Weisse – und die können gemäss vorherrschender neorassistischer Lehrmeinung niemals Opfer sein. Deshalb bleibt es in den Medien wohl Putin-affinen Rechten und sowjetnostalgischen Linken überlassen, den russophoben Westen anzuklagen. Zumindest bei der «Weltwoche» ist der russlandfreundliche Kurs umstritten. Kürzlich hat der Kolumnist Henryk M. Broder seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Magazin gekündigt.
Guy Mettan dagegen lässt sich nicht beirren. Ende Juni durfte er für die «Weltwoche» die russische Diplomatin Maria Sacharowa interviewen. Titel des Interviews: «Russland will die Ukraine schützen».