Guetzli
rechtsextremismus / Denkwürdiger Abend im Berner Käfigturm:Rechtsextreme und linksradikale Jugendliche trafen auf engstemRaum aufeinander, doch ohne auch nur den Hauch von Zoff – unddies an einer Veranstaltung von Linken und Grünen, an der einEx-Nazi ein Projekt vorstellte, das Neonazis beim Ausstieg aus ihrerSzene hilft.rudolf gafnerDa trafen Leute aufeinander, die sich spinnefeind sind: Auszumachenwaren einerseits Jugendliche aus Berns linksautonomer Antifa-Szene,geschmückt etwa mit dem Rotfront- Stern am Kragen. Aufgefallen istaber vor allem die andere Seite: Im gut 60-köpfigen Publikum sassenetwa zehn Skinheads und Reenies (weibliche Skins), ihrerseitsverziert etwa mit Runen-Abzeichen.Explosive Mischung im Saal…Und es waren nicht irgendwelche Rechtsextreme, die zu der vonLinken und Grünen organisierten Veranstaltung erschienen: Prominentaus der Skinhead-Entourage heraus stach Roger Wüthrich (38) ausWorblaufen, einst Gründer der nazistischen Wiking-Jugend Schweiz,heute Chef des Rechtsradikalen-Zirkels Avalon. Wüthrich hatte imSommer landesweit für Aufsehen gesorgt mit einer Eingabe anBundesrat und Politiker, in der er offen «Freiraum für rassistischesDenken und Handeln» verlangte, ansonsten weitere Gewalt vonrechter Seite drohen könne.Im Saal sass weiter auch A. S., der 22-jährige Anführer der«Nationalen Offensive» (NO), der seinerseits im April öffentlichaufgefallen war, indem er ankündigte, demnächst, so wie Wüthrich,aus dem Untergrund der Anonymität herauszutreten und offenrechtsradikale Politik zu betreiben («Der Tag kommt!»). FürSchlagzeilen sorgte seine NO dann aber aus anderem Grund: Im Maifand die Polizei bei zwei führenden NO-Skinheads über 20 selbstgebastelte Splitterbomben sowie Waffen.…aber nein, es krachte nicht
Doch nein, es gab keinen Stunk und keine Pöbelei, ja nicht einmalZwischenrufe wurden laut: Diszipliniert und interessiert lauschten dieSkinheads den Referenten und labten sich dabei an aufgestelltenWeihnachtsguetzli. Fritz Schlüchter, Chef der Staatsschutzabteilungder Stadtpolizei, auch er im Publikum, zeigte sich im Gespräch mitdem «Bund» seinerseits «nicht erstaunt» über das friedliche Klima:«Draussen auf der Strasse sähe es anders aus», aber drinnen imengen Saal sähen doch wohl alle ein, dass man, wohl oder übel,leidlich miteinander auskommen müsse.Eingeladen zum Abend hatten die Stiftung Archiv SchnüffelstaatSchweiz (ASS), die Gewerkschaften Bern und Umgebung, das GrüneBündnis und die SP Stadt und Kanton. Thema des Anlasses war derzunehmende Rechtsextremismus in der Schweiz, dem es fortanweniger «hilflos und billig» zu begegnen gelte als bloss mit Repression,Polizei oder etwa gar mit Verboten. Was bisher fehle, seien Mittel für«nicht-polizeiliche Projekte» gegen Rechtsextremismus, erklärte diegrüne Luzerner Nationalrätin Cécile Bühlmann, Vizepräsidentin derEidgenössischen Kommission gegen Rassismus.Wie ein Ex-Nazi Nazis kuriert
Um aufzuzeigen, wie nicht-polizeiliche Arbeit aussehen könnte, luddas ASS Kent Lindahl ein, Gründer und Leiter von «Exit», eines seitdrei Jahren bestehenden Projekts in Schweden, das aussteigewilligeNeonazis berät und umfassend betreut. Vielleicht hörten dieSkinheads im Saal deshalb so interessiert zu, weil Lindahl weiss,wovon er spricht. Denn er war einer von ihnen: Neun Jahre lang warder Schwede überzeugter Nationalsozialist, tat im«White-Power-Movement» mit. 1991 mochte er nicht mehr – ermochte nicht mehr von der Justiz verfolgt werden, nicht mehr soviele Feinde haben, er wollte wieder Arbeit. Vor allem aber, soLindahl: «Ich überlegte mir: Wenn wir die zukünftige Elite Schwedenssind – als die wir uns sahen -, so kanns, so schlecht wie es uns geht,um Schwedens Zukunft ja nicht gut bestellt sein.»Auf die Einsicht folgte Einsatz, und wieder «für die Kameraden» – nunjedoch für die, die, wie er, aussteigen wollen. Seit der Gründung 1998hat «Exit» 80 Neonazis zwischen 15 und 26 Jahren beim Ausstieg ausder Szene geholfen – und derzeit halten 100 potenzielle AussteigerKontakt zu Lindahls Gruppe, die eng mit Sozialdiensten, Polizei, Justizund Schulen zusammenarbeitet. Auch in Norwegen, Dänemark undFinnland sind nun «Exit»-Gruppen aktiv geworden.«Exit» hat für den Ausstieg ein Fünfstufen-Modell erarbeitet. Betreutwird indes nur, wer wirklich aussteigen will. Nach derMotivationsphase folge die Ausstiegsphase, in der Kontakte mitBehörden, Gespräche mit Eltern und Schutz der Aussteiger vorallfälliger Szene-Rache besonders zentral seien. In der Aufbauphasegehe es um neue Lebens-, Wohn- und Arbeitssituationen, «was beieinigen Aussteigern Jahre dauern kann», und in der Phase desNachdenkens seien etwa auch Psychotherapien gefragt. In der Phaseder Stabilisierung schliesslich gehe es darum, die Ex-Nazis in ihrneues, selbstbestimmtes Dasein zu entlassen.«Viele junge Menschen, die ich berate, sind emotional gebrochen,sind voller Hass und Wut und haben kein Vertrauen mehr in andereMenschen», sagte Anita Bjergvide, Sozialarbeiterin und Psychologin,die für «Exit» in Stockholm Gesprächstherapien mitNeonazi-Aussteigern führt. Die meisten der in die rechte SzeneAbgerutschten seien «in der früheren Jugend mit Gewalt konfrontiertworden». Der dadurch entstandene Hass mache es extremistischenVereinigungen leicht, Jugendliche zu rekrutieren. Gruppen zuverbieten, sei da keine Lösung, so Lindahl – zumal bei 15 bis 20Prozent der Betroffenen die Wahl der Gruppe ohnehin eher zufälligdenn bewusst passiere: «Wäre X von Skins verprügelt worden, wäreer vielleicht zu den militanten Antifaschisten gegangen. Aber er hatteStreit mit Migranten, und so wurde X dann halt Skinhead.»Berner Behörden werden aktiv
Bei den im Publikum anwesenden Vertretern der Stadtbehörden kamendie Ausführungen der beiden Schweden gut an, wie sie dem «Bund»hernach erklärten. Stadtpolizei-Staatsschützer Schlüchter lobte dasschwedische Projekt und empfiehlt Bern, daraus zu lernen: «Esbraucht ein Mosaik ausgewogener Massnahmen.» Nur lobende Wortefür «Exit» fand auch Marianne Siegfried, Leiterin des BernerJugendamts, die seit Sommer daran ist, Grundlagenzusammenzutragen, damit Polizei, Fürsorge und Schuldirektion vereintgezielte Massnahmen in den Bereichen Prävention, Aufklärung,Aussteigerhilfe und Repression ergreifen können (vgl. nebenstehendesInterview). Die Stadtregierung wolle dafür bald eine besondereArbeitsgruppe einsetzen und diese Arbeit mit der Region engkoordinieren.Die Zweifel des Avalon-Chefs
Roger Wüthrich für seinen Teil glaubt nicht, dass sich die Rechte mitAussteigerprojekten «entradikalisieren» lässt – im Gegenteil, soWüthrich zu Lindahl: «Ich denke, wenn ,Exit‘ in der Schweiz Schulemacht, dann gehen der Szene vor allem die sowieso eher Besonnenenverloren. Die, welche beruhigend wirken können, fehlen dann, übrigbleiben die Hardliner.» Dies sei «in der Tat eine sehr schwierigeFrage», antwortete Lindahl; es habe in Schweden solcheEntwicklungen vereinzelt gegeben. «Aber wenn man nur repressivgegen die Szene vorgeht, stärkt man ja auch die Hardliner», soLindahl weiter.Und NO-Anführer A. S.? Er findet, wie er dem «Bund» sagte, dasProjekt «fragwürdig»: «Die Szene würde damit sicher nicht kleiner.»
ZUR SACHE«Es gibt zu wenig Mittel»
max füri
Marianne Siegfried Leiterin des Jugendamtes der Stadt Bern, sagt, was in Bern geplantist.«BUND»: Käme nun ein aussteigewilliger Nazi zu Ihnen ins Büro, wiewürden Sie ihn empfangen?marianne siegfried: Ich würde ihn sehr offen empfangen und ihn andie Beratungsstelle meines Amts vermitteln, die ihn unterstützenkann. Diese Stelle mit geschulten Fachkräften berät Jugendliche mitFragen und Problemen sowie deren Bezugspersonen. Eine besondereSpezialisierung auf das Problem Rechtsextremismus können wir abernoch nicht anbieten.Genau diese Spezialisierung wollen Fürsorge, Polizei und Schule ja nunmit einer besonderen städtischen Arbeitsgruppe herstellen.Noch ist nicht klar, ob die bestehende Arbeitsgruppe Gewalt in derSchule oder eine neue Gruppe diese Koordinationsaufgabe übernimmt;darüber wird der Gemeinderat bald entscheiden. Auf jeden Fall sollenaus den verschiedenen Direktionen die Leute, die nahe an derProblematik sind, zusammenkommen. Aufgebaut werden soll auf demBestehenden, zählt doch die Stadt bereits fünf Präventionsprojekte.Und da sind bereits sehr gute Ansätze vorhanden, um auch dieProblematik des Rechtsextremismus erfassen zu können. DieseAnsätze müssen erhoben, koordiniert, überprüft, allenfalls ausgebautund schliesslich zielgerichtet eingesetzt werden. Und ich kann schonjetzt verraten: Es gibt zu wenig Finanzmittel, es herrscht Bedarf – inder Unterstützung der Schulen, in der offenen Jugendarbeit und inder Kinderbetreuung.Sorgen macht heute vorab Rechtsextremismus. Kümmern Sie sichaber auch um Linksextremismus?Klar. Aus Sicht der Jugendarbeit geht es darum, Jugendlichen, die ausdem Gleichgewicht geraten sind, zu helfen. Und im Käfigturm habenwir ja gehört, dass es oft zufällig ist, auf welcher Seite jemandlandet, der daran leidet, zu meinen, in der Gesellschaft keinePerspektive zu haben. Hinter Jugend-Extremismus steckt auch oftmangelndes Selbstvertrauen.Interview: Rudolf Gafner