«Überlegen beim Liken, aber ohne Schere im Kopf»

Herr Steiger, sind Sie überrascht vom Urteil des Bezirksgerichts Zürich?

Martin Steiger: Nein, ich war selber im Gerichtssaal und befürchtete schon während der Verhandlung, dass ein solches Urteil kommen könnte.

Wieso?

Die Richterin befragte den Beschuldigten. Diesem gelang es sichtbar nicht, sie von der Glaubwürdigkeit seiner Antworten zu überzeugen. Beschuldigte können sich zwar mit dem Gutglaubensbeweis oder mit dem Wahrheitsbeweis verteidigen. Die Hürden dafür sind vor vielen Gerichten aber sehr hoch.

Wir hatten schon den Retweet-Fall eines Journalisten, jetzt den Facebook-Like-Fall: Dreht sich der Wind bei der rechtlichen Würdigung von Weiter- verbreitung von Inhalten im Netz?

Nein, es ist auch nicht der erste Facebook-Like-Fall in der Schweiz, auch wenn das jetzt vielerorts so dargestellt wird. Es gab schon Fälle, die aber mangels Justizöffentlichkeit nicht in den Medien thematisiert wurden. Im Normalfall führen Ehrverletzungen auf Facebook aber nicht zu Strafverfahren.

Warum nicht?

Man kann durchaus für seine Äusserungen auf Facebook belangt werden. Ein Like allein genügt in der Regel aber nicht für ein Strafverfahren. Ich gehe deshalb davon aus, dass es sich vorliegend um einen Einzelfall handelt. Es stellt einen grossen Aufwand dar, jemanden wegen einer Ehrverletzung vor Gericht zu zerren. Erwin Kessler und sein Verein gegen Tierfabriken leisten sich diesen Aufwand in zahlreichen Verfahren. Wer Kessler kritisiert, muss mit einer Klage rechnen. Insofern ist es auch ein Fall Kessler.

Das müssen Sie erklären.

In den meisten Fällen scheuen die Opfer von Ehrverletzungen den Aufwand für rechtliche Schritte. Erwin Kessler aber prozessiert – soweit ersichtlich seit über 20 Jahren – um seinen Ruf und hat viel Ausdauer. In dieser Zeit konnte er viel Erfahrung und Fachwissen sammeln. Er ist eine öffentliche, auch kontroverse Person und sagt selbst, er müsse provozieren. Dabei geht Kessler selbst immer wieder an die Grenzen der Meinungsfreiheit.

Wird sich das Nutzerverhalten im Netz jetzt ändern?

Möglicherweise führt das Urteil dazu, dass Nutzerinnen und Nutzer vorsichtiger werden. Und dennoch muss man relativieren: Ein Like auf Facebook sehen längst nicht alle Freunde. Auf dem Smartphone werden solche Likes standardmässig überhaupt nicht angezeigt. Und auf dem Desktop nur ein kleiner Teil. Wenn wir von ein paar hundert Friends auf Facebook ausgehen, von denen alle täglich Inhalte liken, müssten jeden Tag mehrere 1000 Likes angezeigt werden. Und fast alle Likes sind vollkommen harmlos und trivial: Ferienbilder, Katzenbilder, Selfies. Wer hingegen beispielsweise ein Gewaltbild likt, muss damit rechnen, sich strafbar zu machen. Grundsätzlich gilt auf Facebook: Überlegen, was man likt, ohne aber gleich eine Schere im Kopf zu haben.

Das Gericht hielt fest, dass der Beschuldigte mit dem Liken eine positive Wertung wiedergab und weiterverbreite. Aber so könnte man auch das Liken von Trauermeldungen nach Anschlägen als Unterstützungsbekundung auslegen …

Ein Like ist völlig ambivalent, das stimmt. Was bedeutet ein Like? Was bedeutet ein «Haha» oder «Wow»? Entscheidend ist immer der Kontext. Der jeweilige Einzelfall muss berücksichtigt werden.

Ändert sich etwas dadurch, dass Facebook nun eine grössere Bandbreite an Symbolen zur Verfügung stellt?

Nein, das ist nicht matchentscheidend. Der vorliegende Fall stammt ausserdem aus dem Jahr 2015, damals gab es nur das ursprüngliche Like. Entscheidend ist aber sowieso etwas anderes, und zwar keine Rechtsfrage: Was bedeutet es sachlich, wenn ich etwas like und andere meinen Like sehen? Flugzeugabstürze, Terroranschläge, … ich like es, oder es wird geteilt: Wie nehmen andere Nutzerinnen und Nutzer die Bedeutung solcher Likes wahr?

Was hat das Urteil weiter für Auswirkungen?

Man kann faktisch nicht mehr kritisch über Äusserungen von Erwin Kessler diskutieren. Die zahlreichen Verfahren gegen Kritiker von Kessler zeigen, dass seine Äusserungen von vielen Menschen als antisemitisch oder rassistisch wahrgenommen werden. Gleichzeitig steht es Kessler und seinem Verein gegen Tierfabriken aber selbstverständlich frei, den Rechtsweg zu beschreiten.

Kessler kritisierte unter anderem mehrmals die «Schächtjuden».

Auch setzt er die Nutztierhaltung mit den Verbrechen an Menschen im Dritten Reich gleich. Wer solche Äusserungen für antisemitisch oder rassistisch hält, sollte die entsprechende Debatte öffentlich führen dürfen. Kessler nutzt den Rechtsweg, um zu erreichen, dass diese Debatte nicht mehr oder zumindest nur noch in seinem Sinn geführt werden kann.

Immer wieder wird vonseiten der Strafverfolger beklagt, dass Facebook bei der Beschaffung von Informationen über seine Mitglieder zu wenig Hand bietet. Hat sich Facebook mittlerweile gebessert?

In meiner Praxis ist das Problem meistens nicht, dass Facebook keine Daten liefert, sondern dass die Staatsanwaltschaft Ehrverletzungsfälle nicht an die Hand nimmt oder sie lange liegen lässt. Für die Opfer ist es in solchen Fällen frustrierend, zu erleben, dass sie keine wirksame Unterstützung vom Rechtsstaat erhalten. Solche Erfahrungen zerstören letztlich das Staatsvertrauen, das für ein geordnetes Zusammenleben in unserer Demokratie notwendig ist.

Urteil

Bedingte Strafe für Facebook-Like

Das Bezirksgericht Zürich hat am Montag einen Mann, der den Tierschützer Erwin Kessler verunglimpfte, wegen mehrfacher übler Nachrede zu einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 100 Franken verurteilt (wir berichteten). Der 45-jährige Mann bezeichnete Kessler und den Verein gegen Tierfabriken Schweiz auf Facebook als «Antisemiten», «Rassisten» und «Faschisten». Zudem markierte er mehrere Facebook-Beiträge Dritter, die solche Inhalte enthielten, mit «gefällt mir» und kommentierte und verlinkte je einen solchen Beitrag. Für das Zürcher Bezirksgericht ist klar, dass die Äusserungen ehrverletzend sind. Mit dem Anklicken des «gefällt mir»-Buttons habe der Mann die ehrverletzenden Inhalte klar befürwortet und sie sich damit zu eigen gemacht.