Über Fussballspass und Judenhass

Schweizer Illustrierte: Auf einen Espresso mit

UND

Sagen Sie mal, Frank A. Meyer, Fans des FC Luzern haben einen als orthodoxen Juden verkleideten Mann durch die Strassen getrieben. Er trug den Schal des FC St. Gallen: Fasnacht oder Rassismus?

Die Luzern-Fans haben ein Pogrom nachgestellt – die Hatz auf Juden. In der Geschichte führten solche Exzesse zu Mord und Totschlag.

Die Fussballfreunde johlten und jubelten. Dem Mann ist nichts geschehen – er outete sich später als Luzern-Anhänger.

Für die Fussballfans war es natürlich nur ein Spass, aber eben ein Spass aus den antisemitischen Tiefen der Vergangenheit. Sonst wären sie ja nicht auf die Idee verfallen, den Gegner – den Feind! – in der Figur des Juden darzustellen. Der Vorfall ist geradezu beispielhaft dafür, wie Antisemitismus funktioniert: instinkthaft, irgendwie unbedacht, aber auf grausame Weise bösartig und menschenverachtend.

Viele haben eher belustigt reagiert auf diese antisemitische Inszenierung …

… zu den Pogromen gehörten schon immer die Schaulustigen. Auch die St. Galler Behörden fanden zunächst nichts dabei. Die Justiz erklärte, ein Strafverfahren sei «kein Thema». Der Erste Staatsanwalt hielt die Sache für einen Fasnachtsscherz. Jetzt will er den Fall wenigstens untersuchen, Anzeigen sollen folgen. Auch da wird das klassische Verhalten gegenüber Antisemitismus deutlich: Man schaut erst einmal weg, äussert sogar Verständnis, war es doch nur ein Spass unschuldiger Sportfans.

Es gab auch andere Reaktionen.

Aber erst, als ein Imageschaden für die St. Galler Justiz und den FC Luzern absehbar wurde. Und als sich Juden empörten. So etwas will man nicht auf sich sitzen lassen. Das aber ist kein Entsetzen – es ist Selbstschutz der Justiz, der Politik und der Gesellschaft.

Sie leben in Berlin. In Deutschland ist Antisemitismus wieder ein ernst zu nehmendes Problem.

In meiner Strasse sind vor manchen Häusern metallene Plaketten ins Pflaster eingelassen. Man nennt sie «Stolpersteine». Sie tragen die Namen von Juden, die einst in diesen Häusern wohnten. Ich kann lesen, wann beispielsweise Anna Kupfer aus ihrer Wohnung geholt wurde und wann man sie in Auschwitz ermordet hat. Manchmal lese ich mir einen der Namen laut vor; nicht immer kann ich die Tränen unterdrücken.

Und trotzdem …

… und trotzdem skandierten während des Gaza-Kriegs junge muslimische Demonstranten: «Juden ins Gas» – die linken Israel-Gegner, die solidarisch mitmarschierten, liessen sie gewähren. Vergangene Woche warnte der Zentralrat der Juden in Deutschland davor, sich «in Vierteln mit einem hohen muslimischen Anteil als Jude durch das Tragen der Kippa zu erkennen zu geben».

Kaum zu glauben!

Man muss sich das einmal vorstellen: In dem Land, das den Holocaust verantwortet, die Ermordung von sechs Millionen Juden, müssen sich die verbliebenen Anhänger dieses Glaubens verleugnen, weil Muslime auf die traditionelle Kopfbedeckung allergisch reagieren! Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Juden Schutz versprochen.

Was halten Sie von ihrem Versprechen?

Es gibt jetzt wieder «Schutzjuden» in Deutschland! Der Begriff wurzelt in der fürchterlichen Geschichte der Judenfeindlichkeit: Fürsten pflegten Juden unter Schutz zu stellen – gegen Schutzzins. Damit waren sie dem Landesherrn völlig ausgeliefert. Wer mehr darüber wissen möchte, soll Lion Feuchtwangers Roman «Jud Süss» lesen.

Warum werden wir den Antisemitismus nicht los?

Weil er weitergegeben wird! Kinder sind nicht von sich aus rassistisch oder antisemitisch. Sie lernen es. Von den Eltern. Von der Gesellschaft. Der Jude ist die Figur des Anderen, auch Projektionsfläche für eigenes Ungenügen.

Wie meinen Sie das?

Der Jude ist alles, was einem nicht passt: Er ist der Kapitalist, er ist der Kommunist, er ist der Internationalist, er ist mächtig, er ist Aufwiegler. Die Nazis schrien: «Wer Jude ist, bestimmen wir!» Der Philosoph Jean-Paul Sartre hat es auf den Punkt gebracht: «Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein.» Siebzig Jahre nach dem Holocaust erhebt das Ungeheuer wieder sein Haupt.

Marc Walder, 49, ist CEO der Ringier AG Frank A. Meyer, 71, arbeitet als Journalist im Hause Ringier. Er lebt in Berlin