Die Wochenzeitung. Wahlkampf gegen Regenbogenflaggen und Hetze gegen Aufklärungsunterricht. Die von rechts geschürte Panik kann nur mit nüchterner Wissenschaft bekämpft werden.
Es ist noch nicht lange her, dass Donald Trump als erster republikanischer Präsidentschaftskandidat mit einer Pride-Flagge vor seine Anhänger:innen trat. Den US-Bundesstaat North Carolina kritisierte er dafür, dass trans Menschen der Zutritt zur Toilette ihrer Wahl gesetzlich verwehrt werden sollte. Was heute wie ein Fiebertraum erscheint, ist tatsächlich so geschehen – im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2016.
Dass uns solche Ereignisse heute surreal erscheinen, ist das Ergebnis einer unerbittlichen Antitranskampagne der Republikanischen Partei. Überhaupt ist der Ton im Diskurs über die Rechte von LGBTQ+-Menschen – und jene von Frauen – nicht einfach rauer geworden, sondern radikalisierte sich. In diversen US-Staaten werden geschlechtsangleichende Behandlungsmethoden für minderjährige trans Personen verboten. Neue Gesetze kriminalisieren bereits die Erwähnung unterschiedlicher Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten. Einschlägige Bücher werden aus Schulen und Bibliotheken verbannt.
Das, was sich in den USA abspielt, ist ein Vorgeschmack auf das, was auch in der Schweiz auf die LGBTQ+-Community zukommen könnte. Die SVP-Kampagne gegen den Gender-Tag in Stäfa und gegen die Drag Story Time in Zürich Oerlikon waren der Auftakt zu einer Debatte, die in ihrer Vehemenz noch vor ein paar Jahren in der oft als besonnen gelobten Schweiz undenkbar gewesen wäre. Doch wo immer eine moralische Massenpanik geschürt wird, hilft ein Blick in die wissenschaftliche Literatur.
Was wirklich hilft, ist Akzeptanz
Bis heute wissen wir nicht, welche Anteile von Geschlecht sich biologisch oder genetisch und welche Teile sich soziokulturell klar bestimmen lassen – und wie das Wechselspiel zwischen den beiden wirklich funktioniert. Naheliegend: Es ist eben nicht so einfach, wie das kategoriale binäre System suggeriert. Ein unter Konservativen beliebter Dokfilm beginnt mit der Frage: «Was ist eigentlich eine Frau?» Doch die daraus resultierenden Diskussionen verwirren mehr, als sie erhellen. «Geschlecht ist wie eine Discokugel, je nachdem, wie das Licht darauf scheint, wirkt es anders», sagt David Garcia Nuñez, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Innovations-Focus Geschlechtervarianz am Universitätsspital Basel.
Sich mit metaphysischen und semantischen Fragen aufzuhalten, hilft trans Menschen im Alltag nicht. Was hilft, sind Aufklärungsangebote, gesellschaftliche Akzeptanz – und, wo gewünscht, medizinische und psychotherapeutische Versorgung. Das zeigen diverse Studien. Trans Menschen sind unbedingt auch als politische Kategorie zu denken, deren Rechte und deren Status laufend verhandelt und infrage gestellt werden. «Trans Personen existieren, das kann man nicht wegdiskutieren», sagt Dagmar Pauli, Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), wo in den letzten zehn Jahren Hunderte von Kindern und Jugendlichen – und ihre Eltern – zum Thema Geschlechtsinkongruenz beraten wurden.
Erschöpft sich die Frage nach dem Wesen der Frau, folgt oft die nächste Diskursstation: Kinder und Jugendliche müssten vor der «Trans-Ideologie» geschützt werden. Ein klassischer diskursiver Trick, vermutet David Garcia Nuñez: «Zuerst will man die Rechte der Schwächsten beschneiden. Danach folgen alle anderen.»
Alles nur Phasen?
Kürzlich warf ein SVP-Nationalrat «den Linken» in einer TV-Sendung vor: «Ihr fangt an damit, die Queeren zu züchten.» Kinder und Jugendliche seien fragil, alles nur Phasen. Das Argument, ein soziales Queervirus infiziere unsere Kinder, gleicht frappierend der moralischen Panik Ende der 1970er und vor allem in den 1980er Jahren, als sich die Zahlen homosexueller Menschen in den Statistiken plötzlich vervielfachten. Dafür gab es allerdings einen einfachen Grund: Mit mehr gesellschaftlicher Akzeptanz trauen sich mehr Menschen zu einem Outing.
Obwohl die Anzahl von trans und non-binären Menschen zunimmt, sind sie immer noch eine kleine Minderheit. Einer Studie zufolge lebten in Deutschland 2016 rund 3,3 Prozent Menschen, die eine diverse Geschlechtsidentität angaben. Zur Zeit des «Booms», als die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der PUK in Sachen Geschlechtsinkongruenz noch die einzige Anlaufstelle für die ganze Deutschschweiz war, hatte man es in Sprechstunden mit 150 Kindern und Jugendlichen pro Jahr zu tun, Durchschnittsalter 14,5 Jahre. Inzwischen sind es weniger, weil man in anderen Kantonen Sprechstunden eingerichtet hat. «Warum macht eine kleine Minderheit solche Angst?», fragen Dagmar Pauli und David Garcia Nuñez.
Zwar gibt es hierzulande noch keine klaren politischen Bestrebungen, pubertätsblockierende oder geschlechtsangleichende Behandlungen für Kinder und Jugendliche zu verbieten, doch manche Kreise machen keinen Hehl daraus, dass sie sich das durchaus wünschen. Aber «man kann Kindern und Jugendlichen eine wirksame Behandlung nicht prinzipiell verweigern», sagt Pauli. «Im Einzelfall müssen Nutzen und Risiken gegeneinander abgewogen werden.» Und sie fügt an: Die Geschlechtsidentität der allermeisten Menschen sei stabil – und zwar bei cis und trans Menschen. Bei den meisten cis Kindern ist die Geschlechtsidentität oft schon früh klar – und genauso ist es bei vielen trans Kindern und Jugendlichen, die in ihre Sprechstunde kommen.
«Lässt man die Pubertät laufen, ergeben sich Tatsachen», sagt Dagmar Pauli. Menstruation, Brüste, Bartwuchs, Stimmbruch: für Betroffene manchmal unerträglich. Zusammen mit der mangelnden Akzeptanz für trans Menschen in der Bevölkerung führt das zu hohen Belastungen: Siebzig Prozent der jungen trans Personen zeigen selbstverletzendes Verhalten oder sind suizidal. Mit einer medizinischen Pubertätsblockade kann man für einige Jahre auf den Pausenknopf drücken. So gibt man Betroffenen Zeit, sich über ihren emotionalen Bezug zum eigenen Körper und ihre soziale Identität Gedanken zu machen, und verringert ihren Leidensdruck signifikant. Die Effekte sind dabei reversibel. Stoppt man die Gabe von Pubertätsblockern, kann man in die körperlich vorbestimmte Pubertät eintreten – oder geschlechtsangleichende Schritte einleiten.
Ablenkung auf Nebenschauplätze
Die meisten, aber nicht alle der Jugendlichen mit Pubertätsblockade entscheiden sich später für geschlechtsangleichende Hormone. Die Zufriedenheitsraten bei diesen Behandlungen sind enorm: Je nach Studie sind zwischen 97 und 99 Prozent mit Pubertätsblockaden und Hormonbehandlungen zufrieden, bei geschlechtsangleichenden Operationen sind es sogar 99,5 Prozent. Davon können Ärzt:innen bei anderen Eingriffen, wie zum Beispiel beim Einsetzen künstlicher Hüftgelenke, nur träumen. Bei älteren Jugendlichen können in klaren Fällen geschlechtsangleichende Brustentfernungen vorgenommen werden, Genitaloperationen finden erst im Erwachsenenalter statt.
Konservative Kreise kritisieren an der Pubertätsblockade, dass die Datenlage noch ungenügend sei. Es gibt jedoch eine Reihe von Studien, die zeigen, dass die Behandlung Verbesserungen bewirkt: hinsichtlich Lebenszufriedenheit, Körperempfinden und psychischen Belastungen. «Wir monitoren diese Jugendlichen sehr sorgfältig und nehmen die Bedenken sehr ernst», so Dagmar Pauli.
«Entgegen manchen Darstellungen werden Pubertätsblocker und Hormone nicht leichtfertig verordnet», sagt die Ärztin. «Der Prozess mit Kindern und Jugendlichen ist hochindividuell. Wir erheben eine lange Anamnese, sprechen mit den Eltern, mit den Jugendlichen, regen sie dazu an, sich auch mit kritischen Stimmen zum Thema auseinanderzusetzen, und geben ihren Ängsten und Bedenken Platz, das ist wichtig.» Ebenso thematisiert wird, dass geschlechtsangleichende Medizin, eine medizinische Transition ihre Nebenwirkungen hat, wie jede andere Medikation auch. «Abwägungen muss man bei jeder medizinischen Entscheidung treffen», sagt Pauli. Je informierter man das tut, desto besser.
Anruf bei der SVP
In der Diskussion sei man – so nennt es Pauli – ständigem «Derailment» ausgesetzt, einem auf Nebenschauplätze abgelenkten Diskurs, der sich nicht mehr um die wichtigste Frage kümmert: Wie kann man junge Menschen mit diverser Geschlechtsidentität am besten unterstützen? «Ich wünsche mir manchmal, dass sich die Gegner:innen seriöser mit dem Thema auseinandersetzten», sagt David Garcia Nuñez, «denn wir tun es auch.»
Anruf bei der Medienstelle der SVP – der Partei, die sich den Kampf gegen die «Transgender-Ideologie» explizit ins Wahlprogramm geschrieben hat. Die Frage: Gibt es in der Partei eine Arbeitsgruppe, die sich differenziert mit Fragen rund um das Thema Transgender auseinandersetzt? Die Medienstelle scheint unschlüssig. Dann folgt die Rückfrage, wie man denn eine Arbeitsgruppe definiere. Danach wird weiterverwiesen an die bekannten SVP-Politiker:innen Esther Friedli und Andreas Glarner, die sich mehrfach zum Thema geäussert haben. Beide reagieren nicht auf Anrufe und Mails.
Ein zweiter Anruf bei der Medienstelle. Dieselbe Frage. Dieses Mal heisst es, nein, man habe keine Arbeitsgruppe. Das sei aber auch nicht nötig, schliesslich sei das nicht das Kernthema der Partei. Man sei einfach gegen den «Woke-Wahnsinn» und den «Genderterror».
Ein paar Tage später twittert Andreas Glarner, der wie Friedli auf die Anfrage der WOZ nie geantwortet hat, die «linksgrünwoke LGBTQIA*-Gender-Bande» sei «krank».