Ein Toter in Yverdon, ein Schwerverletzter in Frauenfeld: Linke und rechteAktivisten mobilisieren ihre Anhänger – gewalttätigeAuseinandersetzungen sind programmiert.
Von Thomas Ley und Andreas Schmid
Sie hat einen miserablen Ruf, die Linie 252, Freiburg–Yverdon. Die SBBnennen sie einen «sensiblen Streckenabschnitt», was bedeutet: Regelmässigwerden Fahrgäste bestohlen, erpresst, verprügelt. Am vergangenen 1. Juni kommtzu ihrem traurigen Leumund ein Mord hinzu.
An jenem Sonntag wird der La-Chaux-de-Fonnier Michaël F., 18, zuerst Opferjenes hässlichen Alltags der Linie 252: Er wird im Zug von zwei Jugendlichenbestohlen. Er lässt das nicht auf sich beruhen und zeigt sie beim Kondukteuran. In Yverdon steigt er aus, aber das ist nicht das Ende. Die Diebe,verstärkt um zwei Kollegen, folgen ihm, stellen ihn, schlagen ihn, treten ihn –und stechen ihm ein Messer in die Seite.
Die Rettungskräfte können nicht verhindern, dass Michaël ins Koma fällt.Sechs Tage später stirbt er im Lausanner Universitätsspital. In LaChaux-de-Fonds ruft sein Tod die Menschen auf die Strasse: 1500 demonstrieren am 14. Juniauf dem Bahnhofsplatz. «Wir, die Jungen, wollen Zeugnis ablegen», heisst esauf einem Flugblatt.
Während in La Chaux-de-Fonds friedlich demonstriert wird, bereiten sich dieBehörden in Frauenfeld auf Ausschreitungen vor. Am Samstag, 21. Juniempfangen rund 150 Polizisten am Bahnhof 50 Linksaktivisten, die dazu aufgerufenhaben, in den Thurgau zu reisen, um «einen Naziaufmarsch zu verhindern».Skinheads hatten eine Demonstration gegen Ausländergewalt geplant, doch die Stadtlehnte das Bewilligungsgesuch ab.
Trotzdem muss die Polizei mit Gewalt rechnen, denn die Stimmung istaufgeheizt: «Ein paar Metallstangen oder etwas Ähnliches können nicht schaden»,proklamiert ein Antifaschist im Internet.
Seit Ende April zwei junge Schweizer von sieben Rechtsaktivisten verprügeltwurden, ist Frauenfeld Bühne gewalttätiger Konflikte zwischen Rechten undLinken, zwischen Schweizer und ausländischen Jugendlichen. «DieAuseinandersetzungen haben uns regen Zulauf beschert», sagt der bekennende ThurgauerRechtsextreme Stefan Nufer, 24, von der Skinheadorganisation Patriotischer Ostflügel(POF). Gestärkt könne die POF nun gegen Regierung, Linke und Ausländerankämpfen.
Eine relevante Zunahme der rechten Szene sei zwar bisher nichtfestzustellen, sagt Jürg Bühler vom Dienst für Analyse und Prävention beim Bundesamt fürPolizei. Dem Kern der aktiven Rechtsextremen seien in der Schweiz konstantrund 1000 Personen zuzurechnen. Stefan Nufer fühlt sich dennoch im Aufwind.Früher noch im Gefolge Pascal Lobsigers, des einst bekanntesten Neonazis,verkündet er nun seine Parolen öffentlich: «Ich kann nicht zuschauen, wie unser Landkaputtgeht.»
Am 1. August 2000, als Rechtsextreme unter Führung Lobsigers die1.-August-Feier mit Bundesrat Kaspar Villiger auf dem Rütli schlagzeilenträchtigstörten, hielt sich Nufer noch im Hintergrund. In den acht Jahren, in denen er schonin der rechten Szene aktiv ist, fiel er bisher nicht auf. Nun inszeniert ersich als Leader der rechten Szene. Sein Feindbild: die gewalttätigenAusländer.
Was Nufer Ausländergewalt nennt, ist für seine welschen Gesinnungsgenossen«Anti-Schweiz-Rassismus»; denn der Mord an Michaël verliert schnell seinepolitische Unschuld. Dafür sorgt die Herkunft der vier Täter: ein 23-jährigerFranzose algerischer Abstammung, zwei kapverdische Portugiesen, 20 und 17, undein 17-jähriger Franzose.
Die ganze Romandie kennt nun die Details ihres Verbrechens. An jenem fatalenSonntag waren die vier auf Raubzug gewesen. Sie durchstreiften den Zug,pressten einem 15-Jährigen unter Schlägen Handy, Generalabonnement und Geld ab.Michaël entrissen sie kurzerhand den CD-Player.
Als ihn die Gruppe am Bahnhof in Yverdon überfiel, wehrte Michaël sich– wie die Polizei zuerst sagte: mit dem eigenen Messer. Seine Angreifertraten nach ihm, warfen Steine aus dem Gleisbett nach ihm. Als er getroffen zuBoden sank, griff sich einer von ihnen, der 20-jährige Portugiese, die Klingeund erstach Michaël.
Vier junge Männer ausländischer Herkunft also; der Messerstecher vorbestraftwegen Diebstahls und Körperverletzung – ein Fall für die Websiteavant-garde-suisse.ch, ein Forum für «Jugend mit Schweizer Identität». NachMichaëls Tod ist dort zu lesen: «Die Schuldigen sind nicht nur das maghrebinischeund kapverdische Pack, das uns in der Schweiz ausnutzen will. Die Angreiferwaren der Polizei bekannt, aber niemand tat etwas, um sie daran zu hindern,Schaden zu stiften.»
Die patriotische Internetseite hatte ein illustres Mitglied: Michaël selbst.Die Sonntagszeitung «dimanche.ch» zeichnet ein Bild von dem Jungen, das sichunterscheidet von jenem des unauffälligen Malerlehrlings. Michaël habevielmehr jener Gruppe «Avant Garde» angehört, die bekannt sei «für Krawall undFremdenhass». «Nennen wir einen Skin einen Skin», schreibt Chefredaktor DanielPillard.
Der Artikel löst Empörung aus. Doch die Indizien sind da: Michaël verkehrtein der so genannten Hardcore-Szene, deren Mitglieder sich den Kopf rasierenund Ausländer nicht mögen. Er surfte auf avant-garde-suisse.ch, hatte sichdort eingeschrieben mit dem Pseudonym «Boffa», das er jeweils ergänzte mit «88»,dem Doppelkürzel für den achten Buchstaben im Alphabet: HH – HeilHitler.
War also der Mord an Michaël kein Überfall, sondern ein Streit unterverfeindeten Banden? Hatten Michaël und seine Angreifer «jeden Grund, sich zu kennenund sich zu hassen», wie «dimanche.ch» schreibt? Seine Eltern Rose-Marie undAngelo F.* wehren sich nach Kräften. Ihr Sohn sei kein Skin gewesen, er habeeher Elvis Presley gehört als den harten Sound des Hardcore-Technos, und denKopf kahl rasiert habe er fürs Militär: Am 14. Juli wäre er in dieGebirgsgrenadier-RS eingerückt.
Während in der Westschweiz das Schicksal des Schweizers, getötet vonAusländern, beklagt wird, brach der Konflikt in Frauenfeld mit dem Angriff auf zweiPunk-Konzert-Besucher aus. Die beiden wurden von Schweizer Skins verprügelt:Es geschah am 26. April, gegen 23 Uhr. Der 15-jährige Dominik B. und sein17-jähriger Kollege hatten im Frauenfelder «Eisenwerk» ein Ska-Konzert besuchenwollen. Die Musikrichtung – eine Abart von Reggae – fasziniertvor allem linksorientierte Junge aus der Punk-Szene. Der Anlass lockte aberauch Rechtsextreme auf der Suche nach Streit und Gewalt an. Sieben von ihnenverfolgten Dominik und seinen Kollegen, die kein Billett für das ausverkaufteKonzert ergattern konnten, auf dem Rückweg zum Bahnhof und schlugen sie brutalnieder.
Sein Kollege kam ohne gravierende Verletzungen davon. Dominik B. dagegen laglängere Zeit im Koma und schwebte in Lebensgefahr. «Leider ist es brutaleTatsache, kein Videospiel und auch kein knallharter TV-Thriller», schreibtseine Mutter Rosmarie B. im Internet. Eine Hirnoperation im Kinderspital Zürichhabe ihrem Sohn das Leben gerettet. «Aber Dominik kann zurzeit nur mit HilfeDritter gehen und kann sich nur sehr schwer verständlich äussern.» Ob dieVerletzungen schwere Schäden hinterlassen werden, könne noch nicht abschliessendbeurteilt werden.
Am 4. Juni verhaftete die Kantonspolizei Thurgau sieben 18- bis 23-jährigeSchweizer aus den Kantonen Aargau und Zürich. Einer der mutmasslichen Täter,ein 19-Jähriger aus dem Kanton Zürich, beging inzwischen im BezirksgefängnisKreuzlingen Selbstmord. «Die Inhaftierten können der rechten Szene zugeordnetwerden», sagt Untersuchungsrichter Stefan Haffter. Derzeit sei aber nicht zubeurteilen, inwieweit sie bestimmten Gruppierungen angehören.
Welcher Gesinnung der in Yverdon getötete Michaël war, ist dagegen ziemlichklar. Dafür sorgen vor allem seine neuen alten Freunde: «Man hat einenunserer Kameraden getötet», schreibt der Kopf von «Avant Garde» unter dem PseudonymJérôme Dittier. Sein Nachruf erscheint noch vor dem Artikel von«dimanche.ch»: «Etwas, wovor man sich in der Schweiz behütet glauben durfte, ist einemunserer besten Kameraden geschehen, und niemand hat etwas gesagt.»
Dafür beschert sein Tod nun den Kameraden Zulauf. Allein in den zehn Tagenseit Dittiers Nachruf auf Michaël schnellte die Zahl der Forumsmitglieder von68 auf 184 empor. Die Szene hat Michaël längst zu ihrem Märtyrer gemacht. Undin den E-Mails an «dimanche.ch» ist zu lesen, was das heisst: «Habt ihrsolche Angst, dass ihr euch dazu erniedrigt, das Pack zu verteidigen, das täglichunser europäisches Volk tötet? Eines Tages werden die Verräter bezahlen!»
Der Thurgauer Rechtsextreme Stefan Nufer distanziert sich von der Gewalttatvon Ende April in Frauenfeld. «Diese Gewalttat ist daneben.» Dabei seien dieTäter, die er teilweise kenne, sonst «flotte Leute», sagt der gelernte Kochund Metzger.
Der Angriff auf die beiden Jugendlichen hat das verschlafene Frauenfelderschüttert. Das Städtchen ist für Rechts- und Linksaktivisten aus der ganzenDeutschschweiz zum symbolischen Schauplatz geworden. Rund 300 Menschenbeteiligten sich am 24. Mai an einer bewilligten Demonstration für die Opfer derGewalttat von Ende April. 30 Neonazis störten die Kundgebung, worauf es zueinzelnen Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten kam.
Am vergangenen Samstag dagegen blieb es ruhig. Das Grossaufgebot der Polizeikesselte die rund 50 linken Aktivisten, die von Bern, Zürich und Winterthurnach Frauenfeld reisten, schon am Bahnhof ein, nahm ihnen vereinzelt Ketten,Baseballschläger und Steinschleudern ab und schickte sie im nächsten Zugzurück.
Das Gewaltpotenzial der linksextremen Szene ist gemäss Jürg Bühler vomBundesamt für Polizei mit jenem der Rechtsextremen vergleichbar. Wegen der losenOrganisation sei die Zahl der Aktiven auf der linken Seite allerdings nichtabzuschätzen.
Trotz der Gewalttat junger Schweizer Rechtsextremer in Frauenfeld ortetStefan Nufer vom Patriotischen Ostflügel das Gewaltproblem weiter bei denAusländern. Deshalb habe er sich als Mitorganisator für die geplante Demonstrationgegen Ausländergewalt vom letzten Samstag eingesetzt.
Neben den Skinheads versuchte auch die ultrarechte Partei NationalOrientierter Schweizer (PNOS), aus der Situation in Frauenfeld Profit zu schlagen. Sierief dazu auf, gegen Ausländergewalt zu demonstrieren. Als jedoch derFrauenfelder Stadtrat die Kundgebung verbot, distanzierte sich die PNOS vom Anlassund den Gesuchstellern aus der Skin-Szene.
Zu einer Demonstration gegen Ausländergewalt animiert habe ihn eineSchlägerei beim Schulfest der Oberstufe «Auen» in Frauenfeld am 3. Juni, sagtMitinitiant Nufer. «Zehn Albaner haben einen Schweizer Schüler und eineneingreifenden Vater verprügelt.» Das habe das Fass zum Überlaufen gebracht.
Gewalt als Rechtfertigung für Gewalt. Eine nationale Statistik fürJugendgewalt existiert nach wie vor nicht. Doch die Fachleute relativieren dieangebliche Brutalisierung: «Die Sensation ist doch, dass die Jugend immer noch sogewalttätig ist wie vor 20 oder 30 Jahren», sagt Wassilis Kassis,Pädagogikdozent an der Universität Basel, der an einem Forschungsprojekt über Jugend undGewalt arbeitet. «Ein Teufelskreis: Je mehr wir Junge für scheinbar zunehmendeGewalttätigkeit stigmatisieren, desto mehr Gewalt werden sie zeigen.»
Jedenfalls sorgt die Jugend im Sommer 2003 mit Gewalttaten für Schlagzeilen:Am Samstag, 14. Juni stachen sich in Vauderens FR und in Genf gleich zweimalTeenager nieder. Die Folge: ein Todesopfer. Die Gründe: Streit um eineFreundin und Streit um eine Mütze.
«Es gibt eine Radikalisierung auch in der Oberstufenschule», sagt derFrauenfelder Jugendarbeiter Stefan Guhl. Das Kräftemessen zwischen den Cliquen artevon Zeit zu Zeit in gegenseitige Provokationen und Schlägereien aus. Deraktuell schwelende Konflikt führe nun dazu, dass einige rechtsorientierteJugendliche Unterstützung bei den Skinheads suchten. «Nufer ist der Chef unsererRivalen», sagen mehrere ausländische Schüler übereinstimmend.
Rechtsextremist Stefan Nufer bestätigt das stolz: «Die Schüler rufen michan, wenn sie von ausländischen Kollegen bedroht werden.» Auch bei derSchlägerei am 3. Juni sei er kontaktiert worden. Er habe die Hilfesuchenden an diePolizei verwiesen