SWI swissinfo.ch: Das Bundesgerichts-Urteil, dass in der Schweiz straffrei bleibt, wer den Hitlergruss ohne Propaganda-Absicht macht, sorgte im In- und Ausland für grossen Wirbel. Es sei jedoch die rechtlich korrekte Umsetzung der 20 Jahre alten Rassismus-Strafnorm, sagt Strafrechtler Marcel Niggli.
Hitlergruss und Hakenkreuz seien spezifische, allen verständliche Nazi-Symbole, die für den Holocaust mit sechs Millionen umgebrachten Juden stünden, sagt Niggli.
Wenn die Verwendung der beiden Symbole strafbar sein sollen, müsste die Rassismus-Strafnorm erweitert werden, sagt der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg.
Er warnt aber vor einer zu starken Ausdehnung. Strafnormen sollten nur bei massiven Verletzungen zur Anwendung kommen, Bagatellfälle würden dem Gesetz die Schärfe nehmen, sagt Niggli.
swissinfo.ch: Der Entscheid des Bundesgerichts hat im In- und Ausland für teils heftiges Kopfschütteln gesorgt. Ohne bereits auf Details einzugehen – sind Sie von den bisweilen harschen Reaktionen überrascht?
Marcel Alexander Niggli: Wenn das Ausland etwas erstaunt reagiert, kann ich das insofern verstehen, als dort unsere Gesetzeslage weniger bekannt ist. Über die Reaktionen im Inland bin ich überrascht, weil hier die Gesetzeslage schon seit 20 Jahren dieselbe ist.
Nach dem Skandal, den Neonazis mit ihrem Aufmarsch und der Störung an der offiziellen Bundesfeier im Jahr 2000 auf dem Rütli auslösten, verlangte die Rechtskommission des Parlaments ein Verbot von nationalsozialistischen Symbolen und Gesten.
Nach zwei Vernehmlassungen wurde das Vorhaben 2010 als unnötig beerdigt. Deshalb verstehe ich dieses „Aber hallo, das ist doch unmöglich!“ nicht ganz. Wir wussten, dass der Hitlergruss in der Schweiz nicht strafbar ist!
swissinfo.ch: Sehen Sie einen Imageschaden für die Schweiz durch den Bundesgerichts-Entscheid –“Die Vorzeige-Demokratie Schweiz – ein Paradies für Neonazis“ oder so ähnlich?
M.A.N.: Nein, davon gehe ich nicht aus.
swissinfo.ch: Droht wegen der teilweisen Straffreiheit eine Sogwirkung im Sinne, dass ausländische Neonazis vermehrt in der Schweiz aktiv werden?
M.A.N.: Das ist schwer abzuschätzen. Ich glaube nicht, dass jemand in die Schweiz kommt, um hier den Hitlergruss zu zeigen. Das war ja vor dem Urteil auch nicht strafbar.
Anders könnte es bei nationalsozialistischem Propaganda-Material wie Broschüren und Memorabilien sein. Das kann man relativ einfach in die Schweiz einführen, sofern es als zur persönlichen Nutzung bestimmt deklariert wird.
Vor der Einführung der Rassismus-Strafnorm 1995 war die Schweiz eine Art Hort für Leugner von Völkermord, weil das in den meisten Ländern Europas strafbar war. Danach ist das Phänomen in der Schweiz praktisch verschwunden.
swissinfo.ch: Das Bundesgericht hat differenziert zwischen dem Hitlergruss als einem „Werben“ oder „Propagieren“ für nationalsozialistische Überzeugungen und dem blossem eigenen Bekenntnis zur NS-Ideologie im „internen Rahmen“. Ist diese Unterscheidung aus rechtlicher Sicht sinnvoll?
M.A.N.: Sie entspricht dem, was das Gesetz sagt. Verboten ist das Werben, das Anstreben einer bestimmten Aussenwirkung, also die Verbreitung einer Ideologie. Wenn bereits das Tragen oder Zeigen von Symbolen die Absicht einer Aussenwirkung enthielte, würden die Träger einer Halskette mit Kreuz das Christentum verbreiten. Das trifft doch nicht zu.
Es kann auch nicht zulässig sein, dass die Gesellschaft Menschen alleine für deren Überzeugung oder Glauben bestraft. Ich halte es deshalb grundsätzlich für juristisch richtig, wenn das Bundesgericht sagt, nicht jedes Bekenntnis ist zwingend eine Werbung, selbst dann nicht, wenn unbeteiligte Dritte zugegen sind.
Die Differenzierung führt aber zur Schwierigkeit, dass letztendlich die Strafverfolgung (sprich Polizei und Zoll) entscheiden muss, ob es sich um blosses Bekenntnis oder aber um strafbare Propaganda handelt. Das bürdet ihr eigentlich zu viel Verantwortung auf. Im Fall der Neonazis auf dem Rütli hat das Bundesgericht nun auf ein Bekenntnis entschieden.
Wenn die Gegner die Rassismus-Strafnorm immer wieder als Gesinnungsjustiz kritisieren, stimmt dies also keineswegs.
swissinfo.ch: Macht die Unterscheidung auch aus gesellschaftlicher Sicht Sinn?
M.A.N.: Das ist deshalb eine ganz schwierige Frage, weil Hitlergruss und Hakenkreuz sehr speziell sind. Sie haben eine klare Bedeutung und bringen den Nationalsozialismus Hitlers exakt auf den Punkt. Sie werden deshalb von allen verstanden.
Man könnte sich deshalb überlegen, Hakenkreuz und Hitlergruss in die Strafnorm aufzunehmen. Nach den politischen Diskussionen in der Vergangenheit bin ich mir aber nicht sicher, ob das sinnvoll wäre. Zudem ist die Ausweitung von Strafnormen immer heikel.
swissinfo.ch: Wegen ihrer Aushöhlung in Form einer Flut von Prozessen?
M.A.N.: Genau. Strafrecht soll eine scharfe Waffe sein, die nicht alltäglich eingesetzt werden sollte, sonst wird sie stumpf. Sich strafbar zu machen, muss eine aussergewöhnliche Sache sein. Sonst wirkt die Symbolik der Strafen überhaupt nicht mehr. Wenn etwa die Rassismus-Strafnorm wegen dummer Witze von Komikern angerufen wird, wie jüngst geschehen, scheint mir das höchst unglücklich. Die Bestimmung ist ganz wichtig und sinnvoll, aber nur dann, wenn sie nur die wirklich schweren Fälle erfasst, die nicht mehr akzeptabel sind.
Nationalsozialismus hält bestimmte Menschengruppen für minderwertig, weshalb sie diskriminiert oder gar vernichtet werden dürfen. Wer das vertritt, verhöhnt und beleidigt nicht nur die Opfer und verletzt damit ihre Menschenwürde. Er widerspricht auch direkt unseren gesellschaftlichen Grundprinzipien von Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung. Deshalb produzieren Hakenkreuz und Hitlergruss so grosse Unruhe. Sie sind zu Recht gesellschaftlich geächtet.
Eine Strafnorm müsste diese gesellschaftliche Wertung spiegeln, aber gleichzeitig genügend präzise sein, dass sie einerseits allgemein verstanden wird und andererseits für die Strafverfolgung anwendbar ist. Das Problem besteht darin, dass was für Hakenkreuz und Hitlergruss gilt, nicht unbedingt für ihre Substitute gilt, etwa „88“ (Chiffre für „Heil Hitler“, weil die Ziffer 8 für den achten Buchstaben H steht, die Red.), also Formeln für ein nationalsozialistisches Bekenntnis, die nicht mehr alle, sondern lediglich Eingeweihte oder gut Informierte verstehen. Das gilt noch mehr für Symbole und Gesten anderer rassistischer Ideologien.
swissinfo.ch: Deutschland, Österreich und Tschechien kennen das Hitlergruss-Verbot. Wie sind die Gesetzeslage und die Rechtspraxis in den anderen Ländern Europas?
M.A.N.: Es gibt keine einheitliche Rechtspraxis. Massgeblich ist nicht der Gesetzestext, sondern seine Anwendung. Aber typischerweise sind die Symbole dort verboten, wo die Nazis intensiv gewütet haben. Neben den genannten Ländern etwa in Polen, Frankreich oder Italien.
In den Ländern Südeuropas ist das Strafrecht gegenüber Nazi-Symbolen weniger einheitlich. Und die USA und Grossbritannien schliesslich haben keine Besatzung erlebt. Dort bestehen keine entsprechenden Strafnormen.
Aufgrund dieser Vielfalt kann die Schweiz in Sachen rassistische Symbole und Gesten von anderen Ländern kaum etwas ableiten. Sie muss selbst entscheiden, wie sie das gestalten will.
Gemeinsam aber ist allen Ländern Europas, dass Hitlergruss und Hakenkreuz für Skandal sorgen, selbst in Grossbritannien, das keine entsprechende Strafnorm kennt, ist dies im Fall von Prinz Harry geschehen. Hitlergruss und Hakenkreuz sind europaweit geächtet. Das ist aufgrund der Geschichte auch mehr als verständlich.
Renat Kuenzi, swissinfo.ch