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An der Hausklingel steht kein Name. Dafür eineWarnung: Dieses Haus ist gesichert. Darin wohnt Herbert Winter, 70, mitseiner Familie. Er ist Präsident des Schweizerischen IsraelitischenGemeindebunds (SIG) und somit der oberste Schweizer Jude. «In meinemZuhause fühle ich mich sicher», sagt er. Die Haustüre schliesst ertrotzdem mit dem Schlüssel ab, schliesslich sei er hier nicht auf demLand.
Winters Vorsicht hat einen Grund: Letztes Jahr,zwei Tage nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo» in Paris, stürmte einAttentäter einen Supermarkt und tötete vier Juden. In Toulouse, Brüsselund Kopenhagen gab es ebenfalls tödliche Anschläge auf Juden.
Auch in der Schweiz mehren sich zumindest dieschriftlichen Angriffe. «Juden ausrotten», «Hitler hatte recht, dieJuden zu vergasen» oder «Nur ein toter Jude ist ein guter Jude». SolcheAussagen kamen früher in Briefen und am Telefon beim SIG an, heute vorallem über die sozialen Netzwerke. «Bei Eskalationen in Nahost wird derTon Juden gegenüber aggressiver», sagt Winter. Oft erstattet der SIGStrafanzeige.
Winter lebt seit 26 Jahren mit seiner Frau Anita,54, und den vier Kindern am Stadtrand von Zürich. Seine Grosseltern sind Anfang des 20. Jahrhunderts aus Polen in die Schweiz gekommen. HerbertWinter ist im Zürcher Quartier Wiedikon aufgewachsen, wo heute diegrösste orthodoxe jüdische Gemeinschaft der Schweiz lebt. Von den 18 000 Schweizer Juden leben mehr als ein Drittel in Zürich. Hier gibt es mehr als zwanzig jüdische Institutionen wie Schulen und Altersheime.
Die jüdischen Gemeinden lassen diese auf eigeneKosten schützen. Das private Sicherheitspersonal kostet allein in Zürich jährlich rund 1,5 Millionen Franken. Doch die jüdischen Gemeinden sindnicht länger gewillt, diese Kosten alleine zu tragen, sie wollen denBund in die Pflicht nehmen. «Der Staat muss seine Bürger schützen»,fordert Winter. «Die meisten von uns leben bereits in der dritten odervierten Generation hier, sind Schweizer.»
Die Winters sind eine traditionelle jüdischeFamilie. Sie leben koscher und feiern ab Freitagabend zusammen Sabbat,den Ruhetag. «Wir kommen zusammen und bereden alles.» Die Eltern vonAnita Winter sind HolocaustÜberlebende, beide sind vor dem ZweitenWeltkrieg in Deutschland geboren. Ihr Vater floh als Jugendlicher allein in die Schweiz. Ihre Mutter war während des Kriegs ständig auf derFlucht – und versteckte sich zeitweise unter falscher Identität inFrankreich in einem christlichen Kloster. Als Gründerin und Präsidentinder Gamaraal Foundation setzt sich Anita Winter für Opfer des Holocaustein und sammelt Spenden.
Tochter Alisa, 19, trägt eine goldene Kette miteinem Davidstern, die sie von ihrem älteren Bruder zur Bat Mitzwa, demjüdischen Fest zur religiösen Mündigkeit, bekommen hat. Sie studiertRechtswissenschaften an der Hochschule St. Gallen. Auch ihre drei Brüder haben dort studiert. Der älteste Bruder, Gadi, 26, bereitet sich aufseine Anwaltsprüfung vor. Manuel, 24, hat sein Wirtschafts-Studiumgerade abgeschlossen. Er ist Präsident des Vereins Jüdischer StudentenZürich. Der jüngste, Rafael, 22, ist im Austauschsemester an derrenommierten Harvard University in den USA.
Herbert Winter geht in die Synagoge und grüsst das Sicherheitspersonal. Ihn kennt man hier, er kommt ohne Kontrolle durchdie Schleuse aus Panzerglas. Unbekannte werden gescannt und befragt. Die Kontrollen und die Überwachung des Areals beschäftigen ein ganzesSecurity-Team.
In der Synagoge trägt Herbert Winter eine Kippa.Ansonsten sieht man ihm nicht an, dass er Jude ist. Anders als dieorthodoxen Juden trägt er weder einen langen Bart noch Schläfenlockenoder traditionelle jüdische Kleidung. «Die strenggläubigen Juden sindviel ausgestellter», sagt Winter. Sie werden oft auf der Strassebeleidigt oder angerempelt. «Sogar Kinder wurden schon belästigt.Angreifer rissen ihnen die Kippa vom Kopf.»
Trotz den Gefahren: Der Bund erteilt der Bitte ummehr Schutz für jüdische Institutionen eine Absage. Auf Anfrage derSchweizer Illustrierten antwortet das Justiz- und Polizeidepartement:«Der Bundesrat ist sich der aktuellen Bedrohungslage ebenso bewusst wieder hohen Kosten, die Massnahmen zum Schutz von jüdischen Einrichtungenverursachen können.» Er schlägt den jüdischen Organisationen vor, eineStiftung zu gründen, um die Kosten zu tragen. «Das ist doch ein fertiger Witz», sagt Winter. «Wir Juden zahlen sowieso schon – da brauchen wirkeine Stiftung.»
Unterstützung erhält Winter von Daniel Jositsch.Der jüdische SP-Ständerat verlangt in einem Vorstoss, dass der Bund eine Lösung suchen oder das Gesetz ändern soll. Von Winter hält Jositschviel: «Er ist ein pragmatischer, aber hartnäckiger Verteidiger derjüdischen Interessen.» Winter selbst lässt sich nicht entmutigen. «Ichhabe auch keine Angst.» Und das obwohl er von einer rechtsradikalen Band mit einem Lied auf Youtube bedroht wurde. «Zum Glück bin ich eingelassener Mensch.»
«Die strenggläubigen Juden sind viel ausgestellter»
HERBERT WINTER