Der Bund. Eine Videodoku der Redaktion Tamedia deckt das Netzwerk der Schweizer Neonazis auf. Jonathan Kreutner vom Dachverband der jüdischen Gemeinde erklärt, wie sie mit der Bedrohung umgeht.
Mit dem Krieg in der Ukraine sind Nazivergleiche wieder allgegenwärtig: Putin spricht von einer «Entnazifizierung der Ukraine». Was war Ihre Reaktion darauf?
Dies als Rechtfertigung für einen Angriffskrieg anzuführen, hat mich sprachlos gemacht. Besonders unter der Berücksichtigung, dass der ukrainische Präsident jüdisch ist und ein Teil seiner Vorfahren während des Holocaust ermordet wurden. Diese Begrifflichkeit dafür zu benutzen, ist in jeder erdenklichen Hinsicht falsch.
Bei Putin ist es Propaganda. Doch auch im Pandemiealltag kommt es immer wieder zu Nazivergleichen. Sind diese im privaten Sprachgebrauch angekommen?
Leider ja. Schon vor der Pandemie gab es dieses Problem. Doch in den letzten zwei Jahren ist die Situation richtiggehend eskaliert. In gesellschaftspolitischen Debatten werden heute oft reflexartig NS-Vergleiche herangezogen, um der eigenen Position mehr Gewicht zu geben, jegliche Art von Frust und Leid auszudrücken oder den politischen Gegner und Andersdenkende zu verunglimpfen.
In Ihrem aktuellen Antisemitismusbericht stellen Sie fest: «Die Stimmungslage in der Schweiz ist aufgeladen.» Wie kommen Sie darauf?
Während der letzten beiden Jahre hat sich in der Pandemie die Stimmung aufgeheizt. Gesellschaftliche Krisen – wie diese Pandemie – waren immer wieder klassische Katalysatoren für Antisemitismus. Dies manifestierte sich beispielsweise in einer Explosion von antisemitischen Vorfällen im Internet. Insbesondere antisemitische Verschwörungstheorien wurden und werden auch in der Schweiz verbreitet. Und das bereitet mir Sorgen.
Welche Auswirkungen hat dies?
Die antisemitischen Verschwörungstheorien und Vorurteile, die im Internet verbreitet werden, überdauern wohl auch die Pandemie. Es wäre naiv, zu glauben, dass diese Welle nun einfach folgenlos abebbt. Diese Botschaften bleiben leider in vielen Köpfen hängen, bewusst und unbewusst. Insofern ist unsere Präventionsarbeit schwieriger geworden.
Unsere Videodokumentation zeigt, dass Rechtsextreme Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen instrumentalisieren.
Die Rechtsextremen von heute wissen sehr gut, wie sie diese heterogene Gruppe erreichen. Sie posten auf Telegram oder Twitter nicht direkt antisemitische und rechtsextreme Botschaften, sondern verpacken diese geschickt in codierte Narrative und Verschwörungstheorien. Schweizer Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen würde ich als staatskritisch, anarchistisch oder auch esoterisch geprägt beschreiben. Unser Monitoring zeigt jedoch, dass diese Narrative bei dieser Gruppierung auf fruchtbaren Boden fallen und weiterverbreitet werden.
Können Sie ein Beispiel für diese codierten Narrative nennen?
Während der Pandemie entdeckten die Rechtsextremen das Feindbild der Juden wieder, nachdem der Fokus eher auf den Muslimen und der Einwanderung gelegen war. Nun schreibt man jedoch nicht von «den Juden», sondern von der «finanzstarken Rothschild-Familie» sowie von Zionisten in einem nicht israelischen Kontext. Oder man erzählt das Narrativ der jüdischen Weltverschwörung in all seinen Facetten. Mit diesem unterschwelligen Antisemitismus erreichen sie nicht nur rechtsextreme Menschen, sondern alle jene, die für Verschwörungstheorien empfänglich sind. So werden die uralten, antisemitischen Klischees bedient und leider auch verinnerlicht.
Wir filmten im Januar 2022 an einer Massnahmendemonstration in Bern, als Rechtsextreme sich vor den Umzug drängten.
Das habe ich gesehen.
Was ging Ihnen dabei durch den Kopf?
Die Aussenwirkung hat mich beunruhigt. Schockiert hat mich auch, dass die grosse Masse einfach weiter mitgelaufen ist. Dabei zeigte sich deutlich: Die heutigen Rechtsextremen sind oftmals auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar. Viele begreifen nicht, was da vor sich geht. Das gleiche Problem stellt sich auch in Foren und Gruppen auf Messengerdiensten. Dennoch frage ich mich, warum sich die grosse Mehrheit der Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen im Nachgang nicht deutlich oder deutlicher von den Rechtsextremen abwendet.
Was ist die Antwort?
Vielleicht tragen doch mehr Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen diese Narrative und antisemitischen Gedanken mit, als wir denken. Ein Problem ist aber auch, dass diese Leute den Medien nicht glauben, wenn geschrieben wird, dass sich Rechtsextreme an die Spitze des Umzugs gesetzt haben. Gleichzeitig wäre es sicher falsch, zu behaupten, dass die Mehrheit der Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen rechtsradikal ist. Wir stellen jedoch fest: Der Umgang mit dieser Szene und der Nazisymbolik verunsichert die jüdische Gemeinde.
Verunsichern dürften wohl auch die zunehmenden Fälle von antisemitischen Botschaften im Internet.
Unser Monitoring zeigt: Antisemitismus breitet sich in der digitalen Welt schnell aus. Im Vergleich zu 2020 nahmen die Vorfälle letztes Jahr um 66 Prozent zu (Anm. d. Red.: von 485 auf 806). Das nehmen wir auch als Bedrohung wahr.Zynisch könnte man feststellen, dass die Rechtsextremisten Erfolg haben mit ihrer Strategie.
Es ist natürlich immer schwer zu sagen, welcher Gruppe wie viel «Erfolg» anzurechnen ist. Aber sie tragen sicher auch dazu bei, dass sich Schritt für Schritt antisemitische Narrative in der breiteren Bevölkerung festsetzen. Während der Pandemie hat sich die Grenze des Sag- und Zeigbaren verschoben. Das sehen wir am Beispiel der Nazisymbole, die wir in vielen Kommentaren und Nachrichten sehen und die dann viele Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen während der Demonstrationen plötzlich auf sich tragen.
All diesen Personen Rechtsextremismus zu unterstellen, geht das nicht zu weit?
Das sage ich damit nicht. Sie wollen damit zeigen, wie schlimm ihre Situation angeblich sei. Sie verbinden Holocaust mit dem grösstmöglichen Leid, das sie kennen. Neonazis hingegen wollen ja das Gegenteil erreichen und den Holocaust verharmlosen – ein Widerspruch. Und trotzdem merken Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen nicht, was sie mit dem Zurschautragen dieser Symbole bewirken: Problematisch wird es, wenn in der breiten Öffentlichkeit das Gefühl entsteht, dass der Holocaust wirklich vergleichbar ist mit dem Leiden in der Pandemie. Dies führt zu einer Banalisierung dieser Verbrechen. Das ist absurd und gefährlich und spielt den Rechtsextremen in die Hände.
Was können wir gegen diese Banalisierung und die Nazivergleiche im Sprachgebrauch tun?
Es braucht zum Beispiel ein Verbot von Nazisymbolen. Immerhin werden jetzt vom Bundesamt für Justiz Handlungsbedarf und -möglichkeiten geprüft. Wir bleiben dabei: Es ist höchste Zeit, ein Verbot einzuführen. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von rechtsextremen Anschlägen in Europa und durch die Pandemie eine inflationäre Verwendung von Nazisymbolen. Da frage ich mich schon: Wenn nicht jetzt, wann dann? Es wäre ein wichtiges Zeichen gegen den Rechtsextremismus und gegen die Verharmlosung des Holocaust. Und zwar nicht nur für uns Juden, sondern für alle Minderheiten und die ganze Schweiz.
Die gesamte Videodokumentation der Redaktion Tamedia über das geheime Netzwerk der Schweizer Neonazis sehen Sie hier.