Der Bund. Die Pandemie ist vorbei, die Querulanten und Staatsverweigerer bleiben. Wie nahe sind sie der gefährlichen deutschen Reichsbürgerszene? Eine Spurensuche beim Verein Urig.
Im abgelegenen Dorf Maschwanden an der Grenze des Kantons Zürich ist an diesem Samstagabend Mitte März mehr los als gewöhnlich. Von einem Hof am Rand der Ortschaft aus erklingen abwechselnd Alphornklänge und das Glockengebimmel der Freiheitstrychler. Rund 100 Leute stehen zusammen auf dem weiten Grundstück vor einem alten Hof, trinken Weisswein und Bowle. Es wird grilliert, gescherzt und gelacht, Kinder rennen durch den Garten.
Der Verein Urig feiert in der 600-Seelen-Gemeinde Maschwanden sein einjähriges Bestehen – Leute aus der ganzen Deutschschweiz sind angereist. Die Neuen sind im Dorf ein viel diskutiertes Thema. Fünf zufällig im Dorf angetroffene Personen äussern gegenüber dieser Zeitung ihre Besorgnis über den Verein, der hier am Dorfrand feiert. «Gut, dass Sie darüber berichten», sagen gleich drei von ihnen. Ihre Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen.
Was ist das Ziel von Urig? Warum sind Teile der Maschwander Dorfbevölkerung besorgt?
Eine Spurensuche sowie Einschätzungen von Expertinnen ergeben zunächst ein uneinheitliches Bild. Neben Kursen zum Umgang mit Permakultur oder dem Herstellen von Lebensmitteln finden sich auf den Websites der verschiedenen Urig-Ortsvereine auch Funkkurse oder Vorträge, die belegen sollen, dass die Schweiz eine Firma sei.
Relinfo, die evangelische Informationsstelle zu Kirchen, Sekten und Religionen, schreibt auf ihrer Website zu Urig: «Was die Einschätzung der Bewegungen im Auge der Öffentlichkeit schwierig macht, ist das Spannungsfeld zwischen harmlosen Aktivitäten und hochproblematischen Inhalten.»
Klar ist: Urig wird in der Schweiz grösser. Mehr als 50 Ortsgruppen haben sich seit 2021 in der ganzen Deutschschweiz gebildet. Durch die Vernetzung in den Telegram-Chats und an den massnahmenkritischen Demonstrationen ist die Bewegung rasch gewachsen.
Vorbereitung auf den «Krisenfall»
Einer, der davon profitierte und der auf die Inhalte von Urig hinweist, ist ein Berner Unternehmer. Er zog nach einem langen Gespräch seine Aussagen zurück. Bei zahlreichen Urig-Ortsgruppen ist er ein gern gesehener Gast, so auch in Maschwanden. Der Aktivist gilt in der Szene als Experte, er hält unter anderem Vorträge zu 5G.
In Interviews und an Vorträgen sagt er auch, die Schweiz sei bald keine Demokratie mehr und befinde sich in einem «hybriden Krieg». Die WHO wolle das Völkerrecht aushebeln und überschreiben. An seinen Vorträgen rät er zur Krisenvorsorge, macht auf Kurse aufmerksam, die den Umgang mit Waffen lehren, preist «Silberwasser» an oder zeigt, wie man sich im «Krisenfall richtig informiert» – nicht bei den «Propaganda-News-Quellen», wie er die etablierten Medien nennt.
Im Dezember 2022 gab der Aktivist einen gut besuchten Vortrag im Modelhof. Eingeladen wurde er von Daniel Model. Der Ostschweizer Multimillionär wurde kürzlich von einem österreichischen Gericht zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, weil er das von Österreich aus operierende Pseudogericht International Common Law Court of Justice Vienna (ICCJV) mit fast 200’000 Franken unterstützte. Die Vereinigung gilt als bewaffnet und gewaltbereit.
Auch in der Schweiz gibt es Hinweise auf solche eigenen Rechtsprechungen, die ausserhalb des staatlichen Systems operieren will: Und die Spur führt ins Zürcher Säuliamt – zum Urig-Verein Maschwanden.
Die Common Law Academy ist im Büro des Präsidenten der Ortsgruppe mitten in Affoltern am Albis ZH situiert – sie operiert mit denselben Theorien wie die genannte ICCJV, die in Österreich eigene Gerichte zu etablieren versucht und als staatsfeindlich gilt. Unter «Common Law» verstehen diese Kreise ein angebliches «Naturrecht», das über der Verfassung stehen soll.
Der Architekt und Urig-Präsident streitet die Nähe zu Common Law ab, er teile lediglich die Räumlichkeiten mit der Organisation. Auffällig sind aber die AGB auf der Website des Urig-Hofs, wo das Urig-Fest am Samstag gefeiert wurde und den der Architekt derzeit mit seinem Büro umbaut. Zu lesen: «Nachdem festgestellt wurde, dass alle Behörden und Ämter in der Schweiz Unternehmen sind (…), sind alle ihre Handlungen rechtswidrig.»
Dazu kommt: Auf Instagram gab er sich den Namenszusatz Freiherr, eine bei Reichsbürgern verbreitete Anrede. Der 67-Jährige erklärt sich bereit, mit uns zu sprechen. Es sei ihm wichtig, dass die Urig-Vereine nicht im Geheimen operieren würden, sondern an die Öffentlichkeit träten. Eine Tendenz zur Radikalisierung sieht er nicht.
Vorab reagiert er allerdings damit, die Spuren zu verwischen, die ihn mit einer Reichsbürger-Ideologie in Verbindung bringen könnten. Er löscht den Zusatz «Freiherr» aus seinem Instagram-Profil. Auf Nachfrage stellt er es später als Scherz dar.
Ebenso verschwunden ist eine Flagge in seinem Büro mit der in Frakturschrift geschriebenen Aufschrift «Common Law Academy». Sie stand bei einem Augenschein seines Büros eine Woche zuvor noch mitten im Raum.
Der Architekt – gelierte Frisur, lockeres Auftreten, redegewandt – streicht vor allem das Gemeinschaftliche der Urig-Vereine heraus. «Zusammenkommen, zugehörig sein, sich frei austauschen», sagt er. Bei Urig hätten insbesondere Meinungen Platz, die im Mainstream unterschlagen würden. «Die Vision von Urig ist, dass es in jeder Schweizer Gemeinde einen Ableger gibt», sagt er.
Er erzählt von seinen Beweggründen, den Verein in Maschwanden zu gründen: «Die Massnahmen haben meine Sicht auf die Welt deutlich umgekrempelt. Und ich bin nicht der Einzige, dem es so geht.» Dass er sich nicht impfen liess, habe er in der Zürcher Zunft, in der er Mitglied ist, deutlich zu spüren bekommen. «Ich erkannte, dass selbst der gesunde Menschenverstand eine Frage der Perspektive ist. Das war schmerzhaft.»
Ein regelmässiger Gast auf dem Hof in Maschwanden ist auch Comedian und Autor Andreas Thiel. Ein lautstarker Kritiker der Corona-Massnahmen. «Dank ihm haben wir rasch an Popularität gewonnen», sagt er. «Es kamen von Beginn an Interessierte aus der ganzen Schweiz zu uns.»
«Andere Sicht» inspirierend
Neugierig besuchten auch einige Ortsansässige einen Musikabend oder einen Vortrag im neuen Verein. Viele wurden auf diesen aufmerksam, weil sie den Namen Thiel und seine «andere Sicht» auf die Dinge inspirierend fänden, sagt eine Dorfbewohnerin.
Mit öffentlichen Äusserungen sind die Einwohnerinnen und Einwohner zurückhaltend. Im Bauerndorf, das am Wochenende mit dem ÖV nicht zu erreichen ist, kennt man sich und ist aufeinander angewiesen. Streit kann langfristige Auswirkungen haben für die, die sich exponieren.
Einer, der sich äussert, ist der Maschwander Biobauer Markus Bühlmann. Er verortet sich als politisch links der Mitte, wie er im Gespräch mit dieser Zeitung betont. Im konservativen Dorf sei das trotz politischer Differenzen nie ein Problem gewesen. Doch seit dem Zuzug von Urig macht er sich Sorgen: «Die Präsenz der Urigen könnte dazu führen, dass sich irgendwann ein Graben durchs Dorf zieht», sagt er. Insbesondere habe er Mühe mit der staatsablehnenden Haltung des neuen Vereins.
Diese ist ein schweizweites Phänomen: Mehrere Behörden vermeldeten in den vergangenen Monaten, dass immer mehr Leute weder Steuern noch Betreibungen bezahlen wollen – und ihnen damit massiv viel Zusatzarbeit bereiten. Inspiration dafür finden sie auch im Umfeld von Urig.
Experten sind sich uneinig über das Gefahrenpotenzial von Selbstversorgerbewegungen wie Urig. Das Fedpol spricht auf Anfrage von «aktuell keinen Hinweisen auf eine akute Bedrohung». Im Gegensatz zu den deutschen Behörden sprechen die Schweizer nicht von terroristischen Aktivitäten, sondern von Staatsverweigerern, die möglicherweise Verbindungen nach Deutschland haben. «Man ist sensibilisiert. Und es gibt Hinweise, dass einzelne Exponenten Kontakte zu deutschen Reichsbürgern haben oder hatten», sagt Sprecher Patrick Jean.
Extremismusforscher und Soziologe Dirk Baier sieht eine grössere Gefahr: Für die Demokratie, für den Rechtsstaat und für das gesellschaftliche Zusammenleben könnten diese Bewegungen «hochgefährlich» werden. «Sie sehen die Behörden als Feind, fangen langsam an, sich nicht mehr an Gesetze und Prozesse zu halten. Diese Aussenseiterposition kann zu einer Grundaggressivität führen», sagt er.
Anzahl im «mittleren vierstelligen Bereich»
Baier sieht viele Parallelen der Schweizer Selbstversorger zur deutschen Reichsbürgerszene. Beide seien heterogen – «quasi ein Sammelbecken für verschiedene staatskritisch und verweigernd eingestellte Menschen», sagt er. Es seien hauptsächlich Selbstverwalter, die Parallelgesellschaften aufbauten, sich zusammen gegen das heutige System wehrten. Stets mit dem Narrativ: Das aktuelle System betrüge und enge ein.
In Deutschland sprechen die Behörden von 23’000 Reichsbürgern und Selbstverwaltern. In der Schweiz fehlen Erhebungen. Extremismusforscher Baier geht jedoch von einer Zahl im «mittleren vierstelligen Bereich» aus.
Sorgen macht Baier die starke Vernetztheit der Bewegungen. Entscheidend dafür seien oftmals rhetorisch starke Einzelpersonen, die Baier «Milieu-Verwalter» nennt. Sie würden die Bewegungen professionalisieren. Mit Vorträgen, Dokumenten und Büchern. Sie böten auf komplizierte Fragen die einfache Erklärung der Verschwörung – so auch während der Pandemie.
In Telegram-Chats und anderen sozialen Medien werden Verbindungen der Schweizer Szene mit deutschen Reichsbürgern deutlich: Exponenten des «Königreichs Deutschlands» – wie Oberhaupt Peter Fitzek – wurden schon mehrmals in die Schweiz eingeladen, um über Themen wie «Dorfübernahme» oder Homeschooling zu sprechen. Es gibt Versuche, parallele Strukturen zu den Institutionen zu etablieren. Man schaut voneinander ab, lässt sich inspirieren.
Ein Vorstandsmitglied der Ortsgruppe auf dem Hirzel, das die Mitglieder mit der Ortsgruppe in Maschwanden teilt, betreibt in der Ostschweiz eine Nachbarschaftshilfe und einen Notruf, der mit freiwilligen Helfern operiert. So sollen polizeiliche Massnahmen begleitet und «öffentlich dokumentiert» werden.
Ein Anruf bei ihm und ein kurzes Gespräch zu diesem Dienst zeigen, wie vernetzt die Szene ist. Wenige Stunden später kursiert der Name des Journalisten von Tamedia in rund einem Dutzend Telegram-Chats – für Tausende sichtbar. Auf eine erneute Nachfrage sagt der Ostschweizer, dass er einigen in der Szene von dem Anruf des Journalisten erzählt, die Gegenöffentlichkeit aber nicht beabsichtigt habe.
Willy Tell und die «Freiheits-Pioniere»
Auf das teils radikale Gedankengut in der Szene angesprochen, kontert der Architekt: Es gebe zwar «spezielle Figuren» in der Bewegung, doch die Ortsgruppen seien voneinander unabhängig. «Das ist vielleicht die Schwäche der Urig-Bewegung», sagt er. Um das Bild zu korrigieren, entschied er sich, mit dieser Zeitung zu sprechen. Trotzdem sind die Journalisten nicht eingeladen am 1-Jahr-Jubiläum.
Also beobachten wir das Fest aus der Distanz. Der Architekt hält eine Ansprache, stellt das Programm des Abends vor und gibt einen Ausblick auf kommende Veranstaltungen zum Thema Naturheilkunde. Später am Abend tritt noch Willy Tell mit seinem in der Szene beliebten Hit «Freiheits-Pioniere» auf.
Die friedlich anmutende Szene mit Besuchern aus der ganzen Schweiz gehört von nun an zu Maschwanden. Nach dem Umbau zieht Urig hier definitiv ein.
Reichsbürger-Ideologie in der Schweiz
Reichsbürger sorgten jüngst wieder für Schlagzeilen. In Deutschland wurden vor kurzem bei einer Razzia Waffen sichergestellt und ein Polizist angeschossen. Auch in der Schweiz hat die Polizei im Kanton St. Gallen mutmassliche Reichsbürger vernommen und Strafverfahren eröffnet. Reichsbürger lehnen alles ab, was mit dem von ihnen nicht akzeptierten Staat zu tun hat, statten sich mit eigenen Ausweisen aus oder gründen gar Scheinstaaten. Sie glauben einer Verschwörungserzählung, wonach die Bundesrepublik Deutschland nicht existiert. Stattdessen sagen einige von ihnen, es gelte das Recht des Deutschen Reichs von 1871 bis 1945. (dsa/anp)
«Common Law»
Kopf des Vereins Common Law Academy ist Kurt Meier. Relinfo, die evangelische Informationsstelle zu Kirchen, Sekten und Religionen, beschreibt ihn als Verschwörungstheoretiker im Bereich der Esoterik, als bekannten Staatsverweigerer und QAnon-Anhänger. Meier operiert zudem mit der unter Reichsbürgern weitverbreiteten Unterscheidung «Mensch» und «Person»: Sie bezeichnen den Staat als Firma. Personen seien ihr «Personal», wogegen der «Mensch» frei sei. Die eigene Freiheit reklamiert der «Mensch» mit einer sogenannten «Lebenderklärung» und benennt sich fortan mit Doppelpunkten als «:vorname :nachname». (anp/dsa)