NZZ am Sonntag.
Sie horten tonnenweise Nahrungsmittel und Diesel. Die Freiheitstrychler bereiten sich vor für den ganz grossen Kollaps. Die Freiheitstrychler wappnen sich für einen Showdown zwischen der freien und der unfreien Schweiz.
Die Stimmung im Car ist ausgelassen, die meisten trinken Bier an diesem Samstagmorgen um halb neun, später soll es noch Kaffee geben. Sie haben sich auf einem Parkplatz versammelt irgendwo im Kanton Schwyz, den Grossen Mythen im Rücken, und sind jetzt unterwegs nach Bern, um mit ihren Schellen ihre Heimat wachzuscheppern.
Noch bevor sie die Autobahn erreichen, wird Appenzeller-Schnaps dreifingerbreit in Plastikgläsern verteilt. «Das ist unsere Impfung», sagt einer, ein anderer zieht sich haselnussgrosse Schnupftabakladungen die Nase hoch, irgendwann vor Solothurn streikt der Abfluss der Toilette, der Chauffeur sagt, wer dringend müsse, könne vielleicht in den Burger King an der Raststätte.
Aber wie soll das gehen, ohne Maske und Zertifikat?
70 Freiheitstrychler auf dem Weg zum Bundeshaus, Männer, Frauen, Kinder, die Herbstsonne blendet durch die Scheiben. «Wir sind wie eine Familie», vergewissern sie sich immer wieder.
Sie alle eint das Gefühl, dass etwas nicht mehr stimmt mit ihrem Land. Sie haben hitzige Diskussionen mit ihren Verwandten hinter sich, mussten sich anhören, verblendet zu sein, haben Kunden und Freunde verloren, «weil wir den Mainstream hinterfragen». Sie sind wütend auf die Medien und wütend auf die Politiker, doch Wut schweisst zusammen, darauf noch ein letztes Bier kurz vor dem Stade de Suisse und eine Booster-Impfung Schnaps.
Ankunft um zwölf, Spurt auf die Toilette des Parkhauses, weil ihnen die penibel frisierten Barista in den Cafés unter den Lauben ohne Maske den Eintritt verweigern. Aufjochen der Treicheln, die Krumme im Mundwinkel brennt schon.
Auf dem Münsterplatz und in den nahen Gassen warten bereits Zehntausende, es ist Ende Oktober, und es liegt Aufruhr in der Luft.
Man sieht Che-Guevara-Fahnen, Aluhüte, Peace-Logos, auf Kartonschildern ist von Impfdiktatur die Rede; drei schmächtige Jungs mit Seitenscheiteln und flaumigem Oberlippenbart verteilen Ausgaben des rechtsnationalen «Compact»-Magazins; ein paar Mütter nebenan ziehen ihren Kindern Ohrschützer an und schreien: «Wir wollen keinen Überwachungsstaat!»
Vor allem aber sieht man Schweizer Fahnen, Kantonswappen, Menschen in Trachten balancieren Gesslers Hut auf Stangen. Der Widerstand gegen Corona hat sich vom Virus verabschiedet und nationalisiert. Die Trychler kritisieren zwar die Massnahmen, aber das ist nur ein Schattenkampf. Wenn es um Masken und Impfungen geht, geht es eigentlich um Selbstbestimmung und Entwurzelung.
Ihr archaisches Geläut ist ein verzweifelter Schrei von ganz tief innen. Ihre Heimat kommt ihnen abhanden.
Und plötzlich hört man es, das blecherne Fanal. Die Demonstranten in Bern, die wie eine Horde grasender Tiere herumstanden, machen die hohle Gasse, durch die die Trychler in ihren blütenweissen Hirtenhemden schreiten, vorneweg der bärtige Guido Arnold, den alle nur «den echten Tell» nennen; er hält den Apfel in der Hand, die Spielzeugarmbrust hat ihm ein Polizist namens, es klingt wie ein Witz, Peter Schütz abgenommen.
Sie werden bejubelt und mit Blumen beworfen, als wären sie Feuerwehrmänner in den USA, und ziehen im Gleichschritt langsam bimmelnd vors Bundeshaus, wo sie einen Kreis formen und ihre drei rechten Finger zum Eid der Genossen in den Himmel strecken: Friede, Freiheit, das Volk ist souverän.
Sechs Stunden nachdem sie sich im Bus trafen und durch die Schweiz fuhren, fallen sie sich jetzt in die Arme, manche haben Tränen in den Augen, wie Pilger an Ostern, die in Rom vor dem Petersdom stehen. «Wir kämpfen für unsere Kinder», sagen sie, was pathetisch klingt, aber sie meinen es so. «Wir wollen, dass sie in einer freien Schweiz aufwachsen.»
«Never give up»
Was sind das für Menschen, diese Trychler, die den Corona-Widerstand in der Schweiz seit Monaten orchestrieren und mit ihren Klängen einen beachtlichen Teil der Bevölkerung erreichen? Und was wollen sie wirklich?
Antworten erhält man in der Stadt Schwyz, ein paar Tage sind vergangen seit der Kundgebung in Bern. Vor der Staatskanzlei im Zentrum stehen rund 80 Menschen. Wie jeden Dienstag pfeifen sie die Regierungsräte aus, die in ihren Slim-Fit-Anzügen vor die Türe treten, nachdem sie fertig getagt haben. Initiator des Protests ist ein Mann, den man hier Hölloch-Bruno nennt, ein Wirt aus dem Muotathal, dessen Restaurant geschlossen wurde, weil er sich nicht an die Covid-Massnahmen hielt.
Inmitten der Menge steht Andy Benz, selbständiger Bauführer, Mitglied der SVP International, er hat die Freiheitstrychler gegründet. «Er ist unser Leader», sagen einige, «der Urvater der Bewegung», sagen andere – «ohne den Benz läuft gar nichts», sind sie sich einig.
Man muss ein wenig ausholen, um diesen Benz zu verstehen, der in Fidel-Castro-Manier gerne mit Zigarre posiert, nur ist die in Schwyz auf dem Land eben krumm.
Benz ist, entgegen dem Klischee des Innerschweizer Berglers, ein weitgereister und weltoffener Mann. Er arbeitete jahrelang erst in Nord-, später in Südamerika, baute ein Luxushotel im Nyungwe-Nationalpark in Rwanda und den Flughafen im Sudan. Er sah vom Genozid gezeichnete Menschen, erlebte Modernisierungsschub und Bürgerkrieg, Aufbruchstimmung und Kolonialherrengetue. Und wenn man ihn fragt, was er in Afrika gelernt habe, dann antwortet er, ohne zu zögern: «In Fluchtrichtung parkieren», da sei man schneller weg, wenn es chlöpft, und: «never give up», Benz tippt sich an die Stirn. «Der Kampf entscheidet sich im Kopf.»
Im Jahr 2015 kommt er zurück in die Schweiz und zieht in eine Siedlung namens Seepark in Altendorf, Bezirk March, es war, wenn man so will, die Geburtsstunde der Freiheitstrychler. Denn Benz gerät in einen Behördenkonflikt um seine Wohnung, der Dutzende Ordner füllt und der damit begann, dass ihm das Bauamt Kanton Schwyz eines Tages mitteilt, es handle sich bei seinem Eigentum gemäss Grundbuchamt nur um einen Bastelraum, der nicht bewohnt werden dürfe.
Was folgt, ist eine jahrelange Posse um Bewilligungen und «behördliche Willkür», so nennt es Benz, der in den Akten über seine Siedlung gravierende Ungereimtheiten findet und von «Korruption» und «mafiösen Zuständen» spricht.
Die Behörden wiederum werfen ihm vor, seine Steuern nicht bezahlt und Beamte am Kragen gepackt zu haben, worauf er Hausverbot erhielt. «Der Benz hat ein aufbrausendes Temperament», heisst es im Kanton. Er sei nicht der aufrechte Schweizer, als den er sich immer ausgebe. Er habe auch dann noch Beschwerde eingereicht, als der Streit längst beigelegt war, weil er sich in der Rolle des Märtyrers inszeniere. Selbst in seiner Partei, der SVP, sind ihm nicht alle wohlgesinnt. «Er kann nicht loslassen», heisst es.
Never give up.
Tatsächlich umweht diesen Andy Benz etwas Trotziges, ein Mini-Kohlhaas aus der March, «der Querulant ist eine Figur», heisst es in einem Buch des Kulturwissenschafters Rupert Gaderer, «die erst durch die preussische Bürokratie entstanden ist. Querulanten sehen sich ihrer Rechte beraubt, ihrer Freiheiten beschnitten und gehen auf im Kampf gegen den Staat.» Das ist der Benz.
Er kramt sein Handy aus der Hosentasche, klickt auf eine E-Mail, die Jahre zurückliegt, Absender: Dr. Christoph Blocher. «Kleine Taten sind besser als grosse Pläne», schrieb er.
Benz hat das verinnerlicht.
Im Sommer 2020 nahm er an den ersten unbewilligten Kundgebungen teil und sah, wie die Polizei in Zürich gegen Maskenverweigerer vorging. Das habe ihn aufgeschreckt. Er kam eine Woche später mit Treicheln und ein paar Freunden zurück, war bald auf Fotos der Zeitungen zu sehen, die Krumme im Mund. Wochen später liess er den Namen und das Logo patentieren.
Es folgen kleinere und grössere Kundgebungen, im Frühling dieses Jahres werden sie in Altdorf, Uri, von Polizisten mit Tränengas attackiert. Bei jedem ihrer Auftritte kommen neue Männer und Frauen hinzu, vom Klang der Schellen verführt. «Bei uns gibt’s alles», sagt Benz, Alte und Junge, viele Secondos aus dem Balkan, die «ein Sensorium für Diktaturen» hätten, bunte Vögel aus der Esoterik-Szene, darunter ein Bolivianer, den sie «dä Schamani» nennen; ein paar radikale Impfgegner und Verschwörungstheoretiker hätten sich von ihnen jüngst abgespalten, «die lesen zu viel wirres Zeugs».
Derweil sei die Nachfrage nach Treicheln gestiegen, drucksen maulfaule Schmiede aus dem Muotathal heraus. Neu verkauft einer «Schellen für Städter». Statt den Kallen, die gegen die Innenseite der Bleche knallen, hängen Lautsprecher herunter, die über das Handy verbunden sind.
Und mit dem Bekanntheitsgrad wächst die Kritik. Nicht nur an den Freiheitstrychlern, auch den Helvetiatrychlern, die für dasselbe kämpfen, aber sich anders organisieren. Benz legt sich eine kugelsichere Weste zu, weil er in den sozialen Netzwerken auf Abschusslisten steht. Bald nennt man seine Gruppe, mit Anspielung auf ihre weissen Kutten, Kuh-Kux-Klan und drückt sie in die stramm rechte Ecke.
Aber so einfach ist das nicht.
«Ihr seid die letzte Verteidigungslinie der Schweiz», mit diesen Worten bedankt sich Roger Köppel an einer SVP-Feier bei den Freiheitstrychlern, oben in den Hügeln von Morschach Ende Juni. Er animiert sie dazu, sich vor das Büro von Bundesrat Alain Berset zu stellen, um ihm zu zeigen, wie es den Menschen auf dem Land gehe, «wo die Schweiz noch die Schweiz ist».
«Das hat uns inspiriert», sagt Roland Schätti.
Wir sitzen in einem ihrer Rückzugsorte, Restaurant Wendelstube, Kanton Schwyz, für die Trychler so etwas wie Robin Hoods Sherwood Forest. about:blank
«Ich ging zufällig an eine Kundgebung nach Rapperswil», erzählt er über seinen Erweckungsmoment. «Und als ich diese Glocken hörte, hatte ich Tränen in den Augen.» Schätti, 55, ist mittlerweile einer der führenden Köpfe in der Gruppe.
«Ich sah die wahren Eidgenossen», sagt er, «die Erben des Rütlischwurs.» Noch am selben Tag schloss er sich der Gruppe an und hörte auf, Masken zu tragen, «meine Kinder halten mich für verrückt», fügt er an. «Der Staat kann dir deine Existenz nehmen, deine Seele aber bleibt unverkäuflich.» Der Satz könnte in Schillers «Tell» stehen. «Ich bin lange genug auf dem Sofa vergammelt. Es ist Zeit, zu handeln.»
Kühlcontainer voller Nahrungsmittel
Der Kampf gegen die Corona-Massnahmen sei für ihn allerdings zweitrangig. Schätti kommt, wie Andy Benz, aus der March, «Keimzelle des Widerstands». Ihn hat die Annahme des Anti-Terror-Gesetztes im Sommer aufgeschreckt, der mächtige Staat fresse sich immer weiter vor. «Mich erstaunt, wie sich die Bürger manipulieren lassen. Alles folgsame Schafe.» Deshalb also das Gebimmel, die Schweiz soll aus der Hypnose erwachen. Nach der Covid-Abstimmung Ende November sei ihr Kampf um mehr Unabhängigkeit alles andere als vorbei. «Wir fangen erst an.»
Als all die Fotos von den Menschen aus der Stadt die Runde machten, die WC-Rollen hamsterten und sich bemitleideten, weil ihre Frühstücksflocken im Migros-Regal fehlten, da hätten sie sich schmunzelnd zwei warme Eier aus dem Hühnerstall geholt. Auf dem Land sei man autarker, vielleicht sei deshalb die Liebe zum Boden und den Wurzeln hier grösser und dieser unbändige Wille zur Unabhängigkeit stärker.
All dies aber gelte es zu verteidigen, deshalb haben die Freiheitstrychler im ganzen Land mehrere Kühlcontainer verteilt, manche vergruben sie unter der Erde, so erzählen sie es. Sie horten mehrere Tonnen Reis, Büchsenravioli, Mehl, Wasser, gefriergetrocknete Früchte, «wenn dereinst die Nahrungsmittelversorgung zusammenbricht, kommt es zum Gemetzel», sagen sie. Dazu kommen 60 Tonnen Diesel und mehrere Notstromaggregatoren.
Sie bereiten sich vor für den ganz grossen Kollaps.
«Aus der Geschichte muss man lernen», das sagt der Benz und pafft seine Krumme.
«Der Staat hat schon mit den Masken versagt. Es gab auch kein Desinfektionsmittel mehr. Wer sagt denn, dass es immer Kartoffeln geben wird?», fragt Silvan Fuchs, der neben Schätti in der «Wendelstube» sitzt. Es ist kalt geworden auf der Aussenterrasse, wer aufs Zertifikat pfeift, wie diese Trychler, der friert und muss warme Schokolade schlürfen, wie Fuchs. «Besser, man ist gewappnet, als sich in Abhängigkeit zu geben», sagt er.
«Man muss tun, was nötig ist», sagt Benz.
Silvan Fuchs, so etwas wie Benz’ rechte Hand, verkauft eigentlich Ersatzteile für Oldtimer, aber seit ein paar Monaten hat er sich «dem Widerstand verschrieben», dem Kampf um die Grundrechte, so, wie sie in der Verfassung stehen. «Ich verdiene zwar weniger, weil ich kaum noch arbeite, und habe Streit mit meiner Familie, aber ich spüre eine ungeheure Energie», sagt Fuchs, 63. «Es ist die Zeit meines Lebens.»
Fuchs hat Andy Benz einen seiner beiden Mercedes Diesel vermacht, Baujahr 1985, 770 000 Kilometer. Die Wahl sei kein Zufall, «wenn der Sprit knapp wird», sagt Fuchs, könne das Auto auch «mit altem Pommes-Öl aus der Fritteuse» fahren. Er lacht, aber er meint das todernst.
Ein Indoor-Spielplatz mit Hüpfburg und Trampolin in Reichenburg, Schwyz, wurde bereits in eine zertifikationsfreie Zone verwandelt; und die Freiheitstrychler denken über Räume nach, in denen sie Kinder unterrichten, die die Eltern aufgrund eines möglichen Impfzwangs aus der öffentlichen Schule nehmen.
Homeschooling, Nahrungsmittellager, Notstromanlagen – es gärt in der Urschweiz. Wären wir in Amerika, hätten sie auch irgendwo ein Waffenarsenal verbuddelt, aber daran seien sie überhaupt nicht interessiert.
«Die Glocken sind unsere Waffen», sagt der Schätti Roland.
Von der «Wendelstube» fahren sie nach Flüelen, Axenstrasse, der spiegelglatte Urnersee liegt vor uns wie ein ascheschwarzes Tuch. Sie treffen sich mit rund 50 Männern und Frauen, um gegen die Massnahmen zu protestieren, der Schamani ist da und der echte Tell, und sie umarmen sich alle, weil sie von Social Distancing nichts halten.
Die Meldung, dass die Infektionszahlen gerade in der Zentralschweiz stärker steigen, wo viele der Trychler herkommen, halten sie für Angstmacherei. «Leben und sterben ist Privatsache», sagt Andy Benz, es klingt wie das Motto des US-Gliedstaates New Hampshire: «Live free or die», das auch zu den Freiheitstrychlern passen würde, die sich nur dann impfen liessen, wenn ihnen Berset empföhle, es nicht zu tun.
In Flüelen laufen sie, eskortiert von der Polizei, quer durch die Stadt und zurück. Die Anwohner blicken hinter Gardinen aus den Fenstern, als würden sie etwas Verbotenes sehen.
An beinahe jedem Abend im Oktober lassen sie ihre Treicheln schwingen, Unterägeri, Näfels, Sursee, dazu kommen die von Roger Köppel inspirierten Märsche durch Bern.
Andy Benz, 48, der bei der Polizei bereits bekannt ist, schneidet sich vor einer dieser Kundgebungen im Zug den Bart, als wäre er auf der Flucht, damit sie ihn nicht erkennen. Die Treicheln schmuggeln sie in falschen Anhängern in die Innenstadt, während ihr offizieller Anhänger mit dem Logo, auf den sich die Polizisten stürzten, leer ist. Es kommt zu Verhaftungen und Gummischrot. Die Demonstranten, darunter Neonazis und Krawallbrüder, werden gemeinsam mit Trychlern und Männern mit Dudelsäcken eingekesselt.
Es bimmelt und dudelt, der schottische Freiheitskämpfer William Wallace und Wilhelm Tell vereint im Kampf gegen die Elite, so sehen sie sich zumindest, denn die Passanten, die auf die Züge eilen, schütteln die Köpfe – der Halbmond über Bern an diesem Abend ist gespalten wie das Land.
Es ist Mitternacht, als man Benz und Fuchs, den Autoersatzteilverkäufer, abführt und sie in Gitterboxen steckt, Polizeiwache Neufeld, die die Trychler um zwei Uhr morgens verlassen dürfen, aber ihre Schellen behalten sie.
Hells Bells.
Es gärt auf dem Land – es brodelt in der Stadt
Jahrelang war es still gewesen in der Schweiz, während sich in Ostdeutschland Zehntausende den Märschen der fremdenfeindlichen Pegida anschlossen, in Frankreich blockierten Gelbwesten den Verkehr, in den USA hievten die Empörten einen Entertainer ins Weisse Haus. Die Hintergründe unterscheiden sich, aber die Elitenkritik veranlasst Menschen auf der ganzen Welt, ihren Unmut auf die Strassen zu tragen.
Pessimismusverdrossenheit nannte das der Anthropologe David Graeber, Mitbegründer von Occupy Wall Street, der weltweit ein «beispielloses Anschwellen sozialen Widerstands» beobachtete, von links wie rechts.
In der Corona-Krise verschärfte sich auch in der Schweiz der Ton. Politiker werden bedroht, Journalistinnen angefeindet, «die Furcht vor gesellschaftlichen Verwerfungen» wächst, steht in der aktuellen Corona-Umfrage der SRG.
Das Bild des niedlichen Heidilands erfährt Risse, aber das ist nicht nur schlecht, der Wohlstand hat die Menschen harmoniedusselig gemacht. Bricht jetzt etwas auf?
So wie Schätti und Fuchs, so sei es vielen ihrer Freunde gegangen, sie hätten die letzten Jahre stumm ertragen, wie sich die Macht verschob, wie sich Politiker zur Unkenntlichkeit verbogen, wie Moraldebatten die Gesellschaft umpflügten. Noch seien wir nicht in Südafrika, wo man Bauern enteigne, in Österreich, wo man Ungeimpfte einsperre, oder in den USA, wo man an Universitäten nur noch eine Meinung zulasse.
«Aber was ist in fünf Jahren?», fragt Fuchs.
«Ich habe in Afrika erlebt, wie schnell alles zusammenbricht», meint Benz.
Er sei auch davon überzeugt, dass man sein Handy überwacht. Wie sonst hätten die Polizisten gewusst, welche Routen sie nehmen, welche Treffpunkte sie vereinbarten. Und wenn man ihn ungläubig anstarrt, als würde er sich masslos aufspielen, antwortet er: «Das ist kein Witz.»
Die Schweiz der Freiheitstrychler, die es gemäss Benz und Fuchs zu verteidigen gilt, ist nicht die Schweiz von 1848, «sie fremdeln mit dem Bundesstaat», meint der Historiker Josef Lang. «Ihr Bild der Schweiz gründet tiefer»; es sei ein Rückgriff auf eine jahrhundertealte Ursubstanz, daher die zwanghafte Übernahme alter Traditionen. «Es ist eine imaginierte Eidgenossenschaft, in die man umso mehr hineinprojizieren kann.»
Auch das Bild der freiheitsliebenden Urkantone, das sie heraufbeschwören, sei nichts als ein Mythos. In den historisch wichtigen Abstimmungen über die Freiheitsfrage, der Niederlassungs- und Glaubensfreiheit für Juden etwa, oder dem Frauenstimmrecht, hätten sie sich stets quergelegt. Die Urschweiz sei in Wahrheit «die unfreiheitlichste Gegend der Schweiz».
Auffallend seien hingegen die Parallelen zu den USA, die Wut, die Ideologisierung der Debatte, die Fahnen an den Kundgebungen, die emotionale Nähe zur Verfassung sei «ein Import aus den Staaten». Wenn Köppel von den ländlichen Trychlern spricht, «wo die Schweiz noch die Schweiz ist», erinnert er an Trump, der auf das wahre Amerika verwies, das es nie gab.
Und unter das gemeinsame Foto mit Benz in kugelsicherer Weste twittert Nationalrat Andreas Glarner nicht etwa in heimischem Dialekt, sondern auf Englisch: «True Freedom Fighters».
Fehlen nur die Millionen, und eine Art Schweizer Steve Bannon, und die Freiheitstrychler könnten zu einer politischen Kraft heranwachsen. Doch die Spenden fliessen zäh, klagt Roland Schätti, etwas mehr als 50 000 Franken seien eingegangen: «Ist denn die Zukunft der Schweiz niemandem etwas wert?» Ein paar Kleinbetriebe hätten ein bisschen was gesammelt. Jemand spendete einen Smart. Der Verein «Freundeskreis Schweiz – Iran» gab den Anhänger, mit dem sie ihre Treicheln transportieren.
Vor jedem Haus ein Trampolin
Es ist sechs Uhr abends, der letzte sonnige Herbsttag im Oktober, am Helvetiaplatz in Zürich erinnert wenig an die March, die Heimat von Benz. Statt Kühe bimmeln hier die Velos, und unter Freiheit versteht man die Auswahl zwischen lokalen und internationalen Bieren. «Für die Gerechtigkeit geht Benz auf die Barrikaden», das sagt Mandu dos Santos Pinto, 47, Architekt, der Vater ursprünglich aus Angola, die Mutter aus der Schweiz. Er hat Benz in der schweizerisch-afrikanischen Handelskammer kennengelernt, in der sich dos Santos Pinto dafür einsetzte, dass nicht nur alte weisse Männer den Ton angeben.
«Wir sind nicht die engsten Freunde, aber wir schätzen uns und tauschen uns aus über unsere Projekte», erzählt er.
Als im Sommer 2020 mehrere Tausend Menschen an der Black-Lives-Matter-Kundgebung in Zürich gegen die Diskriminierung von Menschen anderer Hautfarbe protestierten, marschierte Mandu dos Santos Pinto vorne mit. «Rassismus ist ein Teil der Schweizer Gesellschaft», das Land habe vom Kolonialismus profitiert.
Es war der Tag, an dem auch Benz vor der Oper gegen die Maskenpflicht demonstrierte. Die beiden ungleichen Anlässe haben auf den ersten Blick nichts miteinander gemein.
Aber das täuscht.
«Auch Massnahmengegner wie Andy Benz werden ausgegrenzt», sagt dos Santos Pinto. «Zum ersten Mal macht die weisse Mittelschicht Erfahrungen mit Diskriminierung, Polizeigewalt und staatlicher Willkür. Vielleicht öffnet ihnen das endlich auch die Augen für unsere Anliegen.»
Man müsse die Haltung von Corona-Kritikern nicht teilen, aber man sollte mit Menschen, die anders denken, im Dialog bleiben und sie nicht anprangern. «Sonst wird daraus Hetze.»
Aber wie soll man als Staat mit Gegnern der Massnahmen umgehen, mit Menschen wie Andy Benz, der die Freiheit einfordert, keine Maske zu tragen, damit aber die Freiheit anderer beschneidet? Wo hört Toleranz auf, wo fängt Repression an?
«Solche Fragen gehen vielen von uns durch den Kopf», sagt ein Mann, der bis vor kurzem Polizist war und anonym bleiben will.
Vor wenigen Wochen kündigte man ihm, weil er als Mitglied der Gruppe «Wir für Euch» enttarnt wurde, die aus Polizisten besteht, aus Richtern und Staatsanwälten, die die Covid-19-Massnahmen nicht mehr bedenkenlos unterstützen können.
«Wir sind mehrere Hundert», behauptet er. Überprüfbar sind seine Worte nicht.
Einzelne Polizisten hätten Anfang 2020 begonnen, sich an das Bundesamt für Gesundheit und verschiedene Parlamentarier zu wenden. «Wir wollten verstehen, was hier passiert.»
Sie sahen, wie die Polizei in Deutschland auf Corona-Demonstrationen zu immer härteren Mitteln griff. Sie sahen, wie die Massnahmenkritiker diskriminiert wurden, und stellten sich die Frage nach der Verhältnismässigkeit. «Es ist wichtig, dass Polizisten ihre Einsätze hinterfragen und nicht alle Befehle blindlings befolgen», sagt er. «Wir wären sonst in Venezuela.»
Und weil sie von ihren Vorgesetzten abgewiesen wurden, fingen sie an, sich auszutauschen. Sie mussten vorsichtig vorgehen, niemand durfte davon erfahren. «Viele haben Angst, sich uns anzuschliessen», der Druck innerhalb des Corps sei immens. Der Polizeiverband habe jüngst verlauten lassen, wer sich bei «Wir für Euch» engagiere, sei «kein Kollege» – unter Polizisten ist das die höchste Form verbaler Ächtung.
«Wir machen nichts Illegales. Alles im weissen Bereich. Wir suchen nur nach Antworten.» Im Herbst begannen sie, mit den Trychlern Kontakt aufzunehmen. «Diese Glocken sind ein starkes Symbol.» Einst fand man damit verirrte Tiere, sagt er. Jetzt öffne man verirrten Bürgern die Augen.
Es ist Anfang November, ein letztes Treffen mit den Trychlern. Eine Fahrt aufs Land bedeutet auch, dass vor jedem Haus ein Trampolin steht. Benz und Fuchs zeigen eines ihrer Nahrungsmittellager, kiloweise Äpfel, Wasser, Mehl; sie zeigen ihren neuen Bus, den sie erworben haben, das Geld stamme von einflussreichen Unternehmern, die sich auf ihre Seite schlugen.
Es gärt nicht nur auf dem Land, hier formiert sich etwas.
Sie waren am Vortag im Wallis und haben die Nacht draussen vor einem Feuer verbracht. Sie sind ungeduscht, aber aufgekratzt, die Bevölkerung wache auf, «der Wind dreht», sagt Benz in alter Guerilla-Manier, um sich und Fuchs Mut zu machen.
Diese Schellen werden so schnell nicht verklingen.