Im Zentrum der Verhandlung vor Obergericht zum Mordfall von Allmen steht die Psyche des Haupttäters
Seit gestern befasst sich das Obergericht mit dem Mord am 19-jährigen Marcel von Allmen, der Anfang 2001 weit über Unterseen hinaus für Schlagzeilen sorgte. Dabei geht es primär um die Frage, ob der Haupttäter voll zurechnungsfähig war oder nicht.
stefan von below
«Wer so etwas Verrücktes tut, muss doch einen ,Flick weg? haben»: So zitierte der vorsitzende Oberrichter Martin Räz gestern die Äusserung eines Journalisten zum Mordfall von Allmen. In der Tat fragt sich wohl mancher psychologische Laie, wie ein angeblich gesunder Mensch zu einer derartigen Grausamkeit fähig ist, wie sie der heute 26-jährige Marcel M. Anfang 2001 begangen hat. Zusammen mit drei Kumpanen schlug M. seinen 19-jährigen Kameraden Marcel von Allmen aus Unterseen bei der Ruine Weissenau mit einem Metallrohr kaltblütig tot und versenkte die Leiche im Thunersee.
Ende März 2004 sprach das Kreisgericht Interlaken-Oberhasli M. wegen Mordes, mehrfachen versuchten Mordes sowie strafbaren Vorbereitungshandlungen zu Mord schuldig und verurteilte ihn zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Gestützt auf das psychiatrische Gutachten von Professor Volker Dittmann ging das Gericht davon aus, dass M. zur Tatzeit vollständig zurechnungsfähig und geistig gesund gewesen sei.
Verteidiger verlangt Kassation
Als einziger der vier Täter zog M. das Urteil ans Obergericht weiter. Sein Verteidiger Marcel Grass beantragte gestern, das erstinstanzliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung einem anderen Kreisgericht zuzuweisen. Zur Begründung führte Grass Verfahrensmängel bei der Erstellung des psychiatrischen Gutachtens an. Zudem sei Dittmann als Deutscher in diesem Verfahren nicht unabhängig gewesen, sondern habe «unüberwindbare Probleme» mit der rechtsextremen Einstellung des Täters gehabt, was in seinem Gutachten deutlich «durchschimmere».
Sollte das Obergericht nicht auf den Kassationsantrag eintreten, so sei die Strafe für M. auf 15 Jahre Zuchthaus zu reduzieren. Dittmann habe nämlich in seinem Gutachten «bewusst alles abgeschirmt», was auf eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit oder eine Persönlichkeitsstörung bei M. hinweise. Im Gegensatz zum Gerichtspsychiater sei er jedoch der Ansicht, dass M.?s Zurechnungsfähigkeit leicht vermindert gewesen sei, sagte Grass. Zudem seien bei der Strafzumessung die Gruppendynamik und der Einfluss von Gewaltdarstellungen in Filmen zu wenig gewichtet worden.
Staatsanwalt hält am Urteil fest
Generalprokurator Markus Weber konnte mit dieser Argumentation nichts anfangen. «Es ist billig, wenn die Verteidigung Gruppendruck, den Einfluss der Medien und ein für den Angeschuldigten ungünstiges Gutachten verantwortlich macht», sagte er. An der führenden Rolle von M. sei nicht zu zweifeln – «alles andere wäre aktenwidrig». Sein Verschulden wiege umso schwerer, weil er jederzeit hätte aussteigen können. Die Kritik an Dittmann bezüglich dessen Herkunft bezeichnete Weber als «böswillige Unterstellung». Mit Jahrgang 1951 besitze der Gutachter «die Gnade der späten Geburt» und sei auch in fachlicher Hinsicht über jeden Zweifel erhaben. Ihm Ressentiments gegenüber einem Rechtsextremen vorzuwerfen, sei «einfach Quatsch». Daher beantragte Weber, das Urteil des Kreisgerichts sei zu bestätigen.
Vor den beiden Plädoyers hatte das Obergericht Volker Dittmann zu seinem Gutachten befragt. Dieser bestätigte seinen Befund, wonach M. weder unter einer psychischen Störung leide noch zur Tatzeit in seiner Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. Vielmehr handle es sich um einen überdurchschnittlich intelligenten jungen Mann, der sehr gut analytisch denken und sich der jeweiligen sozialen Situation anpassen könne. Gerade diese «Flexibilität» spreche gegen die Annahme einer Persönlichkeitsstörung.
«Laien», so Dittmann, «neigen häufig dazu, aus unverständlichen, grausamen, völlig gegen Recht und Gesetz verstossenden Handlungen unmittelbar auf eine psychische Störung zu schliessen.» Das sei jedoch nicht zulässig. «Leider liegt die grundsätzliche Fähigkeit, anderen Menschen zu schaden und sie allenfalls zu töten, in der menschlichen Natur begründet.» So werde denn auch die Mehrzahl aller Tötungshandlungen nicht von psychisch gestörten Personen durchgeführt.
Das Obergericht gibt sein Urteil heute Mittwoch bekannt.
Bei der Ruine Weissenau unweit von Interlaken wurde Anfang 2001 der junge Marcel von Allmen ermordet.
Christian Helmle / archiv
Mord auf dem Bödeli
In der Nacht auf den 26. Januar 2001 verschwand der 19-jährige Marcel von Allmen aus Unterseen spurlos. Rund einen Monat später wurde seine Leiche im Thunersee gefunden. Tags darauf nahm die Polizei vier junge Schweizer – der jüngste 17-, der älteste 22-jährig – fest. Sie gestanden, ihren Kameraden bei der Ruine Weissenau mit einem Metallrohr zu Tode geschlagen und seine Leiche unterhalb der Beatushöhlen in den Thunersee geworfen zu haben. Grund: Von Allmen habe gegen das Schweigegelübde des «Ordens der arischen Ritter» – einer rechtsextremen Gruppe, der alle fünf angehört hatten – verstossen.
Der jüngste der vier wurde vom Jugendgericht zu einer Vollzugsmassnahme in einem Erziehungsheim verurteilt, die drei anderen vom Kreisgericht zu langjährigen Zuchthausstrafen. Einzig Marcel M., der Kopf der Gruppe, zog das Urteil – lebenslänglich wegen Mordes – ans Obergericht weiter. (bwb)