Schwere Vorwürfe gegen Polizisten

Zürcher Unterländer. Rassismus mit System Offiziell gibt es in der Schweiz kaum Fälle von rassistischer Polizeigewalt. Beispiele aus der Stadt Lausanne zeigen aber ein anderes, erschreckendes Bild.

Lausanne steht politisch links. Die Studentenstadt ist progressiv, gilt als tolerant, hat eine starke Frauen- und Klimabewegung. Doch da ist diese verborgene Seite: Wie Recherchen dieser Zeitung zeigen, kommt es in Lausanne immer wieder zu Polizeigewalt gegen Dunkelhäutige.

Es sind Fälle, wie es sie laut dem Verband Schweizerischer Polizei-Beamter (VSPB) eigentlich kaum geben dürfte. Als nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd im US-Bundesstaat Minnesota eine weltweite Debatte über Rassismus und Polizeigewalt gegen Andersfarbige entbrannte, betonte die VSPB-Präsidentin Johanna Bundi Ryser: «Natürlich kann ich nicht behaupten, dass es nie vorkommt, dass ein Polizist oder eine Polizistin jemanden aufgrund der Hautfarbe anders behandelt. Aber wenn dies jemand tut, dann hat er keinen Platz bei uns.»

In Lausanne ist die Notschlafstelle Sleep-In einer der Brennpunkte: ein baufälliges Haus in einer Industriebrache, zwischen einem einstigen Schlachthof und einer Abfallentsorgungsstelle gelegen. Im Garten des Sleep-In schlafen oft Afrikaner: Nacht für Nacht, in Schlafsäcken, bei Regen unter Plastikblachen. Für sie bleibt im Haus meist kein Bett frei. Frauen, Kinder und Familien werden alleinstehenden Männern vorgezogen, so verlangt es ein Reglement der Stadt.

Die Sozialarbeiter Malick Gehri und Marina Ukaj arbeiten im Sleep-In. Sie zeigen Fotos afrikanischer Reisepässe. «Polizisten haben sie zerrissen», sagt Gehri. Die Sozialarbeiter schildern, wie Polizisten Leuten Finger zertrümmerten und wie Beamte Afrikanern bei Kontrollen regelmässig Geld abnähmen, ohne Bescheinigungen auszustellen, mit der Begründung, sie hätten keine Aufenthaltsbewilligung, könnten das Geld also nicht auf legale Weise verdient haben.

«Ich habe Leute 15 Minuten nach einer Geldentnahme auf den Polizeiposten begleitet, um den Fall zu melden», sagt Marina Ukaj. Von einer Konfiszierung habe niemand etwas gewusst. Das Geld sei nie mehr aufgetaucht Mit den Aussagen konfrontiert, sagt Polizeisprecher Jean-Philippe Pittet: «Wir haben keine Kenntnisse von solchen Fällen.» Die Polizei könne Geld legal beschlagnahmen, aber nur gemäss der gesetzlichen Grundlage und gegen eine Quittung.

Bei Kontrolle gestorben

2018 kam es bei einem Polizeieinsatz zu einem Drama; über das diese Zeitung bereits früher berichtet hatte. Der 40-jährige Nigerianer Mike Ben Peter starb nach einer Polizeikontrolle mitten in Lausanne. Er wehrte sich, in Handschellen abgeführt zu werden. Fünf Polizisten drückten ihn bäuchlings auf den Boden. Gemäss dem Autopsiebericht starb Mike Ben Peter an einem Herzstillstand. Der Mann war verheiratet und Vater zweier Kinder. Wegen des Todesfalls läuft eine Strafuntersuchung gegen die Polizisten.

Ein anderer Fall, der die Gerichte beschäftigte, spielte sich in der Neujahrsnacht 2006 ab. Der damals 16-jährige Kaled Mohamed Ali wurde von Polizisten in einen Wald gefahren, wo sie ihn mit Pfefferspray einnebelten und im Schnee stehen liessen. Nachdem man ihm beim ersten Anlauf den Einlass ins Polizeihauptquartier verwehrte, konnte der Jugendliche schliesslich doch noch Anzeige erstatten.

Im anschliessenden Verfahren sprach das Bezirksgericht Lausanne die Polizisten 2009 frei. Danach tauchte jedoch eine ehemalige Beamtin als neue Zeugin auf. Die Frau sagte, sie wisse, was die Polizisten mit Kaled Mohamed Ali angestellt hatten. Wegen der Zeugenaussage wurde die Klage erweitert und reaktiviert. Der Ex-Polizistin wurde nachts eine Scheibe eingeschlagen und ein Zettel zugespielt. «Zieh dich zurück, sonst …!!!» stand darauf.

Die Zeugin zog sich aber nicht zurück, die Polizisten kamen in Nyon vor Gericht – und wurden erneut freigesprochen. Erst im dritten Anlauf, nachdem das Bundesgericht die Vorinstanzen gerügt hatte, sie seien bei der Beweiswürdigung parteiisch vorgegangen, verurteilte das Bezirksgericht in Yverdon die Polizisten 2012 zu bedingten Geldstrafen von rund 1000 Franken. Einer der Verurteilten ist – in einem anderen Polizeikorps – mittlerweile befördert worden.

Stockschläge gegen Jogger

Aline Bonard heisst die Anwältin, die mit Kaled Mohamed Ali durch die Gerichtsinstanzen zog. Nach dem Urteil hätten sie wiederholt Opfer von Polizeigewalt kontaktiert und sie als Anwältin engagieren wollen, sagt die Lausannerin. Doch Verfahren gegen Polizisten seien schwer zu führen, darum habe sie nur Mandate angenommen, bei denen sie Chancen für einen Klageerfolg sah, so Bonard.

Gerade in Lausanne ist es Usanz, dass die Polizei eine Gegenklage einreicht, wenn jemand einen Beamten verzeigt hat. Wie im Fall eines Kapverdiers, der im Oktober 2016 joggen ging und den Polizisten für einen Drogenverkäufer hielten. Fünf Polizisten richteten den Mann mit Stockschlägen derart übel zu, dass er ins Spital musste. Es gab zwar Zeugen, aber diese wurden von der Staatsanwaltschaft erst Monate nach dem Ereignis einvernommen.

Anwältin Aline Bonard kämpfte in diesem Fall vergebens. 2019 entschied die Staatsanwaltschaft, angesichts der Klage des Opfers und der Gegenklage der Polizei das Verfahren einzustellen. Es stand Aussage gegen Aussage.

Einblicke in die Zustände bei der Lausanner Polizei gab auch Andréas Janin, ein ehemaliger Lausanner Stadtpolizist, der 2016 das Korps verliess, weil er bestimmte Praktiken nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. «Das Ziel war, Druck auf Afrikaner auszuüben, auch wenn sie sehr ruhig und friedlich waren», erinnert sich Janin. Afrikaner seien als «Bonobos» (Zwergschimpansen) bezeichnet worden. Es seien zur Erniedrigung Intimkontrollen durchgeführt und manchmal Leute gewürgt worden, bis sie nicht mehr sprechen konnten. Handys von Kontrollierten wurden weggeworfen und zerstört.

Polizeisprecher Jean-Philippe Pittet sagt, von Äusserungen wie «Bonobos» wisse man nichts. «Sollten solche Bemerkungen gemacht werden, würden sie gegen die Polizeiethik verstossen und könnten unter das Strafgesetzbuch fallen.»

Fälle bleiben unkommentiert

Was weiss Lausannes Sicherheitschef Pierre-Antoine Hildbrand (FDP) von den Problemen bei der Polizei? Er übernahm die politische Verantwortung über die Polizei nach seiner Wahl im Jahr 2016. Seine Vorgänger gehörten der SP und der Arbeiterpartei an. Hildbrand macht im Gespräch klar: Rassismus duldet er nicht. Über einzelne Fälle will er aber nicht reden. Seine Polizei verteidigt er nicht auf der ganzen Linie, will ihr gegenüber aber auch nicht illoyal auftreten.

Beim Fall des verstorbenen Mike Ben Peter verweist er auf das laufende Strafverfahren. Er sagt, es seien schon Polizisten versetzt, mit neuen Aufgaben betraut oder mit Lohnkürzungen bestraft worden. Er dementiert, dass die Polizei wegen einer hohen Kriminalitätsrate unter Druck stehe. Diese habe sich seit 2012 mehr als halbiert.

Pierre-Antonie Hildbrand hat ein Konzept entwickelt, das den offenen Drogenhandel zum Verschwinden brachte. Die Polizisten müssen von morgens um 7 bis abends um 23 Uhr an festgelegten Stellen das Geschehen auf Strassen und Plätzen kontrollieren. Das hat die Dealer vertrieben und gemäss Hildbrand die «Gefahr vor Überkontrollen» dunkelhäutiger Personen verringert.


Das Lausanner Kollektiv Jean Dutoit aus Schweizern und Afrikanern ist bestrebt, Fälle von Rassismus an die Öffentlichkeit zu bringen. Nach dem Tod des Nigerianers Mike Ben Peter begann es 2018, Fälle von mutmasslicher Polizeigewalt gegen Schwarze anhand eines Fragebogens zu protokollieren. Eine Zusammenfassung hat das Kollektiv dieser Zeitung zur Verfügung gestellt:

— Aussage 1: «Als sie (die Polizisten, Anm. d. R.) mich zum Polizeihauptquartier brachten, habe ich geschrien, weil ich nichts getan habe. Sie begannen mich zu schlagen, obwohl sie mir Handschellen angelegt hatten. Sie hätten mir fast einen Zahn ausgeschlagen, sie sind auf meinen Oberkörper gestiegen, sie haben nach meiner Achillesferse gefasst und derart daran gezogen, dass ich mich während einer Woche nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte. In den Zellen auf dem Polizeiposten gibt es nichts: keinen Sauerstoff, keine Fenster, nichts. Nur eine Bank und ein Loch als Toilette. (…) Nach einer Woche sagte ich ihnen, dass ich verrückt werde und dass sie mich ins Gefängnis bringen sollen. Sie haben mich an einen Ort im Keller des Polizeipostens gebracht. Dort roch es nach toten Tieren, es gab kein Licht, und sie schlugen mich erneut. (…) Nachher sagen sie einem, dass wir Barbaren und unzivilisiert sind. Viele Leute haben in diesem Polizeihauptquartier ihre Seelen verloren.»

— Aussage 2: «Im letzten Dezember hat mich die Polizei in den Lausanner Strassen kontrolliert. Sie haben mich in ihrem Auto mitgenommen und mich während einer Stunde herumgefahren. Es war Nacht, und ich konnte nicht sehen, wohin wir fahren. Sie haben mich irgendwohin gebracht, mitten in den Wald. Sie haben mein Telefon genommen, meine Jacke, meine Schuhe und haben mich da gelassen. Ich bin stundenlang gelaufen, bis ich eine grosse Strasse erreichte, der ich entlang lief. Die Autofahrer sahen mich nicht und hätten mich beinahe überfahren. Am Ende hielt ein Polizeiauto und nahm mich mit. Die Polizisten habe mich gefragt, was ich um diese Uhrzeit auf so einer Strasse mache. Als ich ihnen alles erzählte und sie informierte, dass ich nach Lausanne wollte, sagten sie mir, dass ich nicht weit von Saint-Maurice entfernt war. Die Lausanner Polizei wollte mich umbringen.»

— Aussage 3: «Im Februar 2017 hat mich die Polizei in Gewahrsam genommen, mir Handschellen angelegt und mich in einen Bus gebracht. Im Auto hat mir ein Polizist während langer Zeit den Rachen zugedrückt, bis ich bewusstlos am Boden lag. Derselbe Polizist hat mich ins Gesicht geschlagen. Er wollte mich umbringen. Sie haben mich ins Polizeihauptquartier gebracht. Ich war fünf Stunden lang dort. Blut lief mir aus der Nase und aus meinem Mund. Am Ende hat ein Arzt ihnen gesagt, sie sollen mich in ein Spital bringen. (…) Als ich aus dem Spital kam, bin ich auf verschiedene Polizeiposten gegangen, um Anzeige zu erstatten, mit der Matrikelnummer des Polizisten, der mich zusammengeschlagen hat und mit Fotos aus dem Spital. Bei der Staatsanwaltschaft und überall sonst haben sie mir gesagt, dass Polizisten immer Recht bekämen und dass ich den Polizisten geschlagen hätte. Im Spital sagte man mir, dass ich mich operieren lassen sollte, aber da ich kein Geld hätte, könnten sie mich leider nicht operieren.» (phr)