Die Wochenzeitung. Vor fünfzig Jahren haben die Schweizer Männer die «Initiative gegen Überfremdung» knapp verworfen. Die Erinnerung an die Opfer der damaligen Hetzkampagnen ist umso wichtiger, wenn Ende September über die «Begrenzungsinitiative» der SVP abgestimmt wird.
Mein Land hat mich ins Ausland geschickt.
Mein Name ist Ausländer
Aus einem Gedicht der Lyrikerin Semra Ertan
Alfredo Zardini hatte keine Chance. Am frühen Morgen des 20. März 1971 erlag der Vierzigjährige auf dem Trottoir vor einem Lokal mitten im Zürcher Kreis 4 seinen schweren Verletzungen. Zardini, der sich erst seit wenigen Tagen in der Schweiz aufhielt und gerade seine neue Stelle antreten wollte, wurde von einem Anhänger der «Bewegung gegen die Überfremdung» zu Tode geprügelt. Von den übrigen BeizenbesucherInnen eilte dem Familienvater niemand zu Hilfe. Zardini starb, weil er Italiener war. Sein Mörder kam mit einer milden Haftstrafe von achtzehn Monaten davon.
Unter ItalienerInnen löste Zardinis Tod Entsetzen aus. In Rom war der Fall Thema im Parlament, in der Schweiz wurden aus Protest Baustellen und Fabriken bestreikt. Später widmete der Liedermacher Franco Trincale dem Ermordeten eine Ballade: «An einem Abend in einer Zürcher Bar überfiel die rassistische Furie Alfredo, bis er blutüberströmt, einsam und verlassen starb.» In der Schweizer Mehrheitsgesellschaft fiel das Echo hingegen gering aus. Immerhin sprach der Zürcher Gemeinderat Geld für die Hinterbliebenen.
Wie tödlich der Rassismus in der Schweiz war, daran erinnern sich heute nur noch wenige. Und ein Denkmal für Alfredo Zardini hat in Zürich ohnehin niemand aufgestellt. Aus dem Nichts kam die Gewalt damals aber nicht. Den Boden dafür hatte einige Jahre zuvor der Nationalrat einer rechtsextremen Kleinpartei und Sohn einer schwerreichen Industriellenfamilie bereitet: James Schwarzenbach.
Politik der Entrechtung
Diese Woche jährt sich Schwarzenbachs «Initiative gegen die Überfremdung» zum 50. Mal. Mit seinem Ansinnen, den «Ausländerbestand» in allen Kantonen ausser Genf auf zehn Prozent zu begrenzen, setzte er jene, die den Wohlstand des Landes mit ihrer Arbeitskraft erst ermöglicht hatten, einer beispiellosen Hetzkampagne aus. Das Resultat: Tausende traumatisierte MigrantInnen und eine jahrzehntelange Politik, die auf Entrechtung setzt.
Am 27. September – dem «Super-Sonntag» mit seinen fünf Abstimmungen – flammt diese Politik noch einmal mit einer Initiative auf, die Schwarzenbach bestimmt gefallen hätte: der «Begrenzungsinitiative» der SVP. Ähnlich wie schon mit ihrer «Masseneinwanderungsinitiative» von 2014 will die Partei erreichen, dass die Migration in die Schweiz inskünftig «eigenständig geregelt» und die Personenfreizügigkeit mit der EU aufgekündigt wird. Wie viel von Schwarzenbach steckt also in der heutigen Schweiz?
Als Kopf der ersten Partei im Nachkriegseuropa, die «Anti-Ausländer»-Rhetorik ins Zentrum ihrer Politik nahm, war es Schwarzenbach, der Hass auf MigrantInnen salonfähig machte. «Schwarzenbach trifft eine Stimmung, ein Ressentiment, und er nutzt es aus und verstärkt es. Er verleiht Schichten, die sonst kein Gehör finden, eine Stimme und politische Repräsentanz. Er hängt dem Unmut das Mäntelchen bürgerlicher Achtbarkeit um», schreibt der italienische Journalist Concetto Vecchio, dessen Buch «Jagt sie weg!» über Schwarzenbachs Initiative in Italien für grosses Aufsehen gesorgt hat und gerade auf Deutsch erschienen ist.
Den «Überfremdungsdiskurs» lanciert hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings ein anderer: der Zürcher Armensekretär Carl Schmid. Im wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg stiess der Begriff erneut auf starke Resonanz. 1948 unterzeichnete die Schweiz mit Italien das erste von mehreren Abkommen, das ArbeiterInnen ins Land bringen sollte. «Dieser Pakt brachte beiden Seiten Vorteile», schreibt Vecchio. «Die Schweiz bekam Zugang zu einem weiten Reservoir gefügiger Arbeiter. Italien wurde sie los.»
Während in den folgenden Jahren immer mehr Menschen aus Italien in die Schweiz kamen, gingen die Gewerkschaften zunehmend auf die Barrikaden – und befeuerten den Diskurs weiter. «Um die politische, kulturelle und sprachliche Eigenart der Schweiz zu erhalten und eine Überfremdung zu verhindern, ist der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte einer Kontrolle zu unterstellen», hielt etwa der Gewerkschaftsbund Anfang der sechziger Jahre fest.
«Die damalige Haltung der Gewerkschaften war zentral für Schwarzenbachs späteren Erfolg», sagt der langjährige Unia-Kopräsident Vasco Pedrina. So kam es auch, dass über die Hälfte der Gewerkschaftsbasis dessen Initiative zustimmte. «Eine riesige Zerreissprobe», erinnert sich Pedrina. Nicht nur in der Vorstellung der Gewerkschaften war Migration bloss etwas Temporäres: In Krisenzeiten sollen sich die MigrantInnen schnell in ihr Herkunftsland zurückschicken lassen.
Eine Schweiz der Saisonniers
Schwarzenbach, dessen erfolgloser Verlag antisemitische Schriften publizierte, war ein Verehrer des spanischen Diktators Francesco Franco, sein Slogan «Schweizer erwache!» entstammte direkt dem Vokabular der Nationalsozialisten. Als er seine Initiative lancierte, lebten rund eine Million ausländische ArbeiterInnen in der Schweiz, die meisten von ihnen stammten aus Italien. Bei einer Annahme hätten Hunderttausende das Land verlassen müssen. «Für eine solche Volksabstimmung gibt es in keiner Demokratie Vorläufer: 300 000 Männer, Frauen und Kinder loszuwerden, einfach damit die Statistik besser aussieht», so Vecchio in seinem Buch.
Was Schwarzenbach stattdessen wollte: eine Schweiz der Saisonniers, die weder Rechte haben noch Ansprüche stellen dürfen. Entsprechend waren sie auch von seiner Initiative ausgenommen. Doch Schwarzenbach trieb auch etwas anderes um: seine obsessive Angst vor der Linken – und die Angst, dass kommunistisch gesinnte ItalienerInnen in den Fabriken eine Revolution anzetteln könnten. Im Antikommunismus jener Zeit war er mit dieser Haltung nicht allein.
Während seine Ideen in der Schweiz immer mehr AnhängerInnen fanden, war die Bestürzung im Ausland und vor allem in Italien gross. «Zu Zeiten der Freizügigkeit der Arbeitskräfte im gemeinsamen europäischen Markt ist so etwas absurd», schrieb der «Corriere della Sera». «Sind die Schweizer Rassisten?», fragte «La Stampa».
Am 7. Juni 1970 lehnten die stimmberechtigten Schweizer Männer die «Schwarzenbach-Initiative» knapp ab. Ein Erfolg war sie trotzdem: weil der Bundesrat schon vorher in vorauseilendem Gehorsam die Kontingentierung ausländischer ArbeiterInnen beschlossen hatte – und weil er später die Bedingungen für die Saisonniers verschärfte. Als erster Rechtspopulist wurde Schwarzenbach zudem zum Vorbild für andere rechte Parteien in Europa, nicht zuletzt für die SVP unter Christoph Blocher.
Die Initiative markierte aber auch eine Wende in der Migrationspolitik. «Sie hatte eine grosse Strahlkraft und diente nachfolgenden Kampagnen als Vorbild», sagt die Historikerin Francesca Falk, die zurzeit an der Universität Bern ein Oral-History-Projekt mit italienischen ZeitzeugInnen leitet. Wie aber fühlten sich die Betroffenen damals? Und welche Folgen hatte die Initiative für sie?
«Viele haben starke Kränkungen erfahren, Verletzungen, die nicht wieder verschwunden sind: ein Gefühl des Provisoriums, nicht dazuzugehören, Angst, die Schweiz verlassen zu müssen», resümiert Falk. Sie seien aber nicht bloss Opfer einer Hasskampagne gewesen, sondern hätten auch Widerstand gegen die Initiative geleistet. «Die Betroffenen wurden durch diese Erfahrung politisiert, haben sich später etwa für Einbürgerungen starkgemacht.»
Bei den Gewerkschaften, wo inzwischen migrantische ArbeiterInnen organisiert waren, begann im Anschluss an die «Schwarzenbach-Initiative» ein Umdenken. «Viele haben sich irgendwann gefragt, was ihnen ihre ablehnende Haltung eigentlich gebracht hat», sagt Gewerkschafter Pedrina. Eine wirkliche Wende stellte sich aber erst viele Jahre später ein. «Die Hauptlehre, die wir über die Jahre gezogen haben: dass sich eine bessere Ausländerpolitik – neben der Solidarität zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitern – nur mit der EU durchsetzen lässt.»
Umso wichtiger sei ein Ereignis dreissig Jahre nach Schwarzenbach gewesen: «Die Einführung der Personenfreizügigkeit war das absolute Gegenprogramm zu seiner Politik», findet Pedrina. Wer aus dem europäischen Ausland kommt und eine Arbeitsstelle nachweisen kann, darf seither in der Schweiz bleiben – fremdenpolizeiliche Beschränkungen und Disziplinierungen sind abgeschafft.
Historikerin Falk spricht von einer «konstitutiven Dimension der Migration». Zwar führten diverse Initiativen Schwarzenbachs Politik fort – auch wenn sie später oft nicht mehr primär auf MigrantInnen, sondern auf Asylsuchende fokussierten. Doch zugleich habe eine gesellschaftliche Öffnung stattgefunden. «Heute ist die Schweiz unwiederbringlich von der Migration geprägt», so Falk. Umso eklatanter sei die Diskrepanz zwischen der Alltagsrealität und dem politischen Diskurs.
Rückkehr in dunkle Zeiten?
Und welche Erinnerung an die Zeit von James Schwarzenbach hat jemand, der in einer bereits von der Personenfreizügigkeit geprägten Schweiz aufwächst? Ausschlaggebend für die Politisierung von SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, deren italienischer Vater kurz vor der Abstimmung in die Schweiz kam, war Schwarzenbachs Initiative nicht – auch wenn die Diskriminierung in der Familie durchaus Thema war. Was sich bis heute aber nicht geändert habe, sei der rassistische Diskurs in der Gesellschaft. «Die Diskussion darüber steckt hier im Gegensatz zu anderen Ländern noch in den Kinderschuhen», sagt Funiciello.
In Bezug auf die «Begrenzungsinitiative» der SVP und ihre Parallelen zu Schwarzenbach sind sich Gewerkschafter Pedrina und Politikerin Funiciello einig. Zwar seien die Argumente heute ähnliche wie damals, meint Pedrina. «Doch innerhalb der Gewerkschaften ist klar, dass wir die Initiative bekämpfen. Und an der Basis ist die Problematik nicht mehr so virulent.» Und Funiciello sagt: «Heute steht wieder die Entrechtung von Leuten mit anderem Pass im Fokus. Kommen werden sie trotzdem, die Schweiz braucht ja die Arbeitskräfte – bloss zu schlechteren Bedingungen.»
Wie viel Schwarzenbach steckt also in der heutigen Schweiz? Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit nahm immerhin die Entrechtung europäischer MigrantInnen ein Ende. Eine Annahme der SVP-Initiative würde ihre Aufkündigung bedeuten und damit einen Rückfall in dunkle Schwarzenbach-Zeiten. Umso wichtiger ist die Erinnerung an die Opfer seiner Politik, umso wichtiger wäre ein Denkmal für Alfredo Zardini.