Die Bundesfeier auf dem Rütli wurde abgesagt. Trotzdem sucht Bundespräsidentin Calmy-Rey den grossen Auftritt auf der Nationalwiese. Der Stoff wird zum Seldwylastück um dilettantische Planungen und einen Neo-Patriotismus von links, der an sich selber scheitert.
Micheline Calmy-Rey will mit dem Kopf durch die Wand des Seelisbergs. Ende letzter Woche liess die sozialdemokratische Bundespräsidentin verlauten, dass sie auch nach der Absage der Feier am 1. August auf der Nationalwiese Präsenz markieren will. Unterstützt wird die Bundesrätin von SP-Parteipräsident Hans-Jürg Fehr, der zu einer «Völkerwanderung» aufs Rütli aufgerufen hat und hofft, dass Tausende von Schweizern dem Appell folgen. Dass dies gar nicht realisierbar ist, kümmert Fehr offenbar nicht. Mehr als 2000 Leute dürfen die abgeschlossene Wiese über dem Vierwaldstättersee gemäss Innerschweizer Behörden nicht betreten. «Wenn es zu einer Panik kommt, ersäuft die Hälfte», sagt der Schwyzer Regierungsrat Alois Christen (FDP) mit dem Hinweis auf die befürchtete Konfrontation von Rechts- und Linksextremen. «Der Urner», auf dessen Hoheitsgebiet das Rütli liegt, werde den einzigen Landzugang vom Seelisberg her sperren müssen ein Massnahme, die der Urner Sicherheitsdirektor Josef Dittli bereits ins Auge gefasst hat.
Der Kampf ums Rütli beherrscht derzeit die Debatte, täglich berichten die Medien über die neusten Entwicklungen. Doch die Kernfragen bleiben dunkel. Woran ist die Feier wirklich gescheitert? Und warum drängen ausgerechnet die Sozialdemokraten, die für den EU-Beitritt der Schweiz eintreten, mit derartiger Verbissenheit auf das Nationalheiligtum?
Eine kleine Feier ohne ministeriale Würde
Die Antwort auf beide Fragen liegt in der jüngsten Geschichte. Bis zur Jahrhundertwende hatte die Bundesfeier auf dem «stillen Gelände am See» (wie es im Rütlilied heisst) einen vorwiegend regionalen Charakter. Dies änderte sich mit dem Aufritt von Bundespräsident Kaspar Villiger im Jahr 2000, der, so schreibt Rütli-Historiker Georg Kreis, von Rechtsextremen «leicht gestört» wurde. Als mit Samuel Schmid vor zwei Jahren ein weiterer Bundespräsident am 1. August aufs Rütli kam und einige Male von den Rechtsextremen ausgebuht wurde, verbreitete der Blick die Schlagzeile von der «Schande vom Rütli». Die Behörden reagierten mit einem rigorosen Kontrollsystem. Zutritt erhielt nur, wer ein Ticket erstanden hatte und seine Personalien offenlegte. Wer ein T-Shirt mit Schweizerkreuz trug und dazu noch kurze Haare hatte, wurde im Zweifelsfall weggewiesen.
Die Personenkontrolle erfolgte in Brunnen, das laut Regierungsrat Christen aussah «wie im Krieg». Die Sicherheitskosten von gegen zwei Millionen Franken übernahmen die Anrainerkantone. «Anstandslos», wie Christen sagt. Doch Schwyz, das die Hauptlast trug, ist nicht bereit, weiterhin jährlich rund eine Million Franken zu bezahlen. «Die Bevölkerung würde das nicht verstehen, der ganze Regierungsrat würde abgewählt», prophezeit Christen für diesen Fall. In Brunnen, wo die Rechtsextremen im letzten Jahr ihre Märsche inszenierten, will man einfach eine ganz normale Dorffeier veranstalten können. Der Touristenort befürchtet einen erheblichen Imageverlust, falls er am 1. August erneut zur Festung verkommen sollte.
«Mit den Bundesräten kamen die Probleme», heisst es in der Urschweiz. Deren Vertreter in der für die Organisation zuständigen Rütlikommission setzten auf eine kleine, schlichte Feier ohne ministeriale Würde. Die Teilnahme der Bundespräsidenten Villiger und Schmid betrachtete man als Ausnahme. Gemäss dem üblichen Turnus hätte in diesem Jahr der Kanton Uri den Redner bestimmen sollen. Doch es kam anders. Durch Präsidentin Judith Stamm vernahmen die Kommissionsmitglieder, dass sich die beiden höchsten Schweizerinnen, Nationalratspräsidentin Egerszegi und Bundespräsidentin Calmy-Rey, selbst zur Feier eingeladen hatten. «Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt», sagt der Schwyzer Alt-Regierungsrat Oskar Kälin (SVP). Geplant war ein «Frauen-Rütli», 1700 von 2000 Tickets gingen an den Frauendachverband Alliance F. Eine ziemlich geschlossene Veranstaltung, bei der lediglich die Kosten öffentlich sein sollten.
Nein sagen wollte die Kommission aber dennoch nicht. Weil die Feier den Anstrich eines nationalen Ereignisses bekam, beschloss sie, das Rütli zwar zur Verfügung zu stellen, aber nicht selbst als Organisatorin aufzutreten. Dies, argumentierte die Kommissionsmehrheit, hätte ihre Möglichkeiten gesprengt. Präsidentin Stamm allerdings hielt sich nicht an diesen Beschluss. Sie erachtete die Grossfeier auch im Alleingang für machbar eine Einschätzung, die sich als falsch herausgestellt hat.
Nachdem ein Kompromiss der Innerschweizer Kantone, der die Einschiffung in Luzern vorsah, gescheitert war, sollte das Problem mit einem Bundesbeitrag gelöst werden. An der Sitzung von 16. Mai diskutierte der Bundesrat zuerst die Frage der Sicherheit. Die Kompetenzen sind diesbezüglich klar. Zuständig sind die Kantone, der Bund kann allenfalls die subsidiäre Hilfe der Armee anbieten. Diese Position hat der Bundesrat kommuniziert. Was er nicht sagte: Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz stellte den Antrag, dass der Bund insgesamt eine Viertelmillion Franken bezahle formell nicht an die Sicherheit, sondern als «Geste». Dieser Vorschlag wurde mit 6:1 Stimmen abgelehnt, für ihn votierte nur Rütli-Stürmerin Micheline Calmy-Rey. Der Blick, der boulevardeske Lautsprecher der Bundesrätin, schrieb danach von einer «Rütli-Verschwörung».
Bundeskanzlerin überrumpelt Firmen
Das Pikante liess der Blick aus. Huber-Hotz ist die designierte Nachfolgerin von Judith Stamm als Präsidentin der Rütlikommission. Die vom Bund zu bezahlende Summe addierte die Kanzlerin auf merkwürdige Weise. Sie rief die Ruag, die SBB, die Post und die Swisscom an. Laut Huber-Hotz wollten diese bundesnahen Betriebe zusammen für 100 000 Franken aufkommen, weitere 100 000 sollte der Bund sprechen, 50 000 kämen dann vielleicht noch vom Parlament. Doch die Zusage der Firmen gründete auf einem Missverständnis. Sie nahmen irrtümlicherweise an, die Anfrage gehe auf einen Beschluss des Bundesrates zurück. In Tat und Wahrheit hatte die Kanzlerin sie überrumpelt.
Der Bundesrat lehnte die Zahlung vor allem mit rechtlichen Argumenten ab. Woher sollte er die Legitimation nehmen, etwa das Geld der Post zu verschenken? Und wie sollte er die Ungleichheit begründen, eine bestimmte Bundesfeier zu unterstützen, andere aber nicht? Der Entscheid des Bundesrates hat nichts mit einer Verschwörung der «Patriarchen aller Couleur» zu tun, wie der Blick unterstellte (wobei er den «Patriarchen» Doris Leuthard grosszügig dazurechnete).
Ebenso wenig überzeugt der anklagende Ton, in dem die Rütlikommission die Absage der Feier vermeldet. Das Ergebnis sei «beschämend», schreibt der Medienverantwortliche Martin Hofer, ein ehemaliger Chefredaktor des Sonntagsblicks. Die logistischen und organisatorischen Vorarbeiten seien «weit fortgeschritten und problemlos umsetzbar» gewesen unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass die öffentliche Hand für die Sicherheit aufkommt. Kommissionspräsidentin Stamm hat sich zu einem guten Stück selbst in die ausweglose Lage manövriert. Sie suchte, die Schwierigkeiten der letzten Jahre ignorierend, den grossen Auftritt im nationalen Scheinwerferlicht. Für eine Stellungnahme stand Stamm trotz mehrfacher Anfragen nicht zur Verfügung.
Nach dem Scheitern der Feier verkündete Micheline Calmy-Rey in der Sonntagszeitung: «Jetzt geht es um die Redefreiheit.» Das klingt gut, aber stimmt es auch? Die Bundespräsidentin versucht sich als Märtyrerin der Freiheit zu inszenieren, vor dem perfekten historischen Echoraum des Rütlis. Doch davon, dass ihr jemand den Mund verbietet, kann keine Rede sein. Der grandiose Auftritt scheiterte an den überspannten Plänen und der zweifelhaften Organisation der Frauen-Feier, für deren absehbare Kollateralschäden weder Bund noch Kantone aufkommen wollten.
Damit gelangen wir zur zweiten, womöglich noch interessanteren Frage. Der Wille zum patriotischen Irrlauf, den die Bundespräsidentin an den Tag legt, überrascht und erstaunt. Weshalb schwört ausgerechnet die sozialdemokratische Bundesrätin aus dem internationalen Genf auf die nationale Mythologie des Rütlis? Das Symbol für die stolze Unabhängigkeit des Landes kollidiert frontal mit der Idee der Sozialistischen Internationale, mit der Aufweichung der Neutralität, dem EU-Beitritt und ähnlichen Anliegen der Linken. Seit seiner ersten Erwähnung im «Weissen Buch von Sarnen» ums Jahr 1470 steht der Rütlischwur im Zentrum des eidgenössischen Unabhängigkeitsstrebens. Im «Weissen Buch» heisst es: «und swüren einandern truw und warheit und ir lib und güt ze wagen und sich der herren zu werren». Sich der Herren zu wehren, keine fremden Richter zu dulden, wie der 1291 verfasste Bundesbrief formuliert, der in der Überlieferung mit der Schwurszene verschmolz das ist der Kern des Mythos, den General Guisan bei seinem Rütlirapport im Jahr 1940 auf geniale Weise für den Widerstand gegen das nationalsozialistische «Neue Europa» mobilisierte. Hier schwor er die Armeespitzen angesichts der vollständigen Umringung der Schweiz durch Hitler und Mussolini auf das Réduit ein, die Urszene der vielverspotteten «Igelmentalität» des Landes.
Erstaunlich ist die neue linke Liebe fürs Rütli auch deshalb, weil gerade die kritische Geschichtsschreibung, die seit den siebziger Jahren dominiert, das Bündnis von 1291 als «konservatives Abkommen» charakterisiert, durch das die führenden einheimischen Geschlechter ihre politischen Interessen wahrten. Noch 1991, bei der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, gefiel sich die notorisch linke Kulturelite in einer Haltung des Protests. «700 Jahre sind genug!», lautete der Slogan eines Manifests, das in der Wochenzeitung veröffentlicht wurde. Darin heisst es: «In der Inszenierung von Rütli, Armee und Schweizerkreuz sehen wir keinen Sinn, auch wenn sie von PR-Managern auf modern getrimmt wird.» Heute scheint das Makulatur.
Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Die neunziger Jahre waren ein Jahrzehnt der falschen Hoffnungen. Bis weit ins bürgerliche Lager hinein fand man die Prophezeiung Friedrich Dürrenmatts plausibel, dass sich die Schweiz in Europa auflösen werde wie ein Stück Zucker im Kaffee. Nach dem Ende des Kalten Kriegs schienen die aussenpolitischen Kernbegriffe des Landes, Neutralität und Souveränität, ihren Sinn zu verlieren. Es gehörte geradezu zum guten Ton, die bewährten Werte der Schweiz grundsätzlich zu «hinterfragen», wie ein Modewort der Stunde lautete.
Die Reden, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten auf dem Rütli gehalten wurden, zeigen alle Merkmale dieser Identitätskrise. Sie zeugen vom krampfhaften Versuch, einen Pseudopatriotismus zu kreieren, ein Schweizertum ohne Substanz. Zunächst waren es (links)bürgerliche Kreise, heute sind es die Linken selbst, die das Rütli auf diese Weise umzudefinieren versuchen. «Noch sind wir Schweizer sehr auf uns selbst bedacht», mahnte 1991 der damalige Nationalratspräsident Ulrich Bremi (FDP). Er verband seine Kritik mit der Hoffnung, dass eine «moderne und europäische Schweiz» entstehe, eine «wahrhaft europäische Nation». Abgeschlossen wurde die Feier durch eine Tanzdarbietung zu den Klängen der Europahymne. Ein Jahr darauf wollte das Schweizer Fernsehen auf dem Rütli gar die Europafahne hissen. Die Rütlikommission unterband den Wunsch.
Hinweise auf die EU und die Uno gehörten zum Standardrepertoire der Redner. 1999 forderte der Obwaldner Regierungsrat Anton Röthlin, heute Mitglied der Rütlikommission, Volksabstimmungen über den Beitritt zu den internationalen Organisationen. Im Jahr 2001 sagte Bundespräsident Moritz Leuenberger (SP) anlässlich des Staatsbesuchs des tschechischen Präsidenten Václav Havel auf dem Rütli: «Der Anfang des Bundesbriefs und die Uno-Charta sind in ihrem Grundanliegen sehr ähnlich. Darum bin ich fast sicher: Heute würden die drei Eidgenossen auf die Uno-Menschenrechtspakte und das Kioto-Protokoll schwören.» Auch «mit der Musik» versuchte Leuenberger «andere Akzente» zu setzen. Der Rütli-Akt aus Rossinis Oper «Wilhelm Tell» wurde in einer Jazzversion von Schmaz interpretiert, dem Schwulen Männerchor Zürich.
Rütli-Rede als Abstimmungspropaganda
2002 veranstaltete die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ihren «Flüchtlingstag» auf der Nationalwiese. Dabei sagte der Rütli-Historiker Georg Kreis in seiner Funktion als Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR): «Die Idee, den Text unseres Paktes, müssen wir nicht erfinden, diesen Text gibt es, je nach Bezugspunkt, schon seit über 700 Jahren dank dem ‚Brief‘ von 1291 oder seit über 200 Jahren dank der Französischen Revolution oder mindestens seit 50 Jahren dank der Uno.»
Obligater Bestandteil der Rütli-Reden ist neben der Erwähnung der EU und der Uno ein Lob der Fremden. Im vorletzten Jahr dankte Bundespräsident Samuel Schmid den «ungezählten Ausländerinnen und Ausländern», die zur «Entwicklung unseres Landes und zu unserem Wohlstand» beigetragen hätten. Und im letzten Jahr stattete Markus Rauh beinahe wortidentisch seinen «Dank an alle» ab, die zur «Entwicklung» und zum «Wohlstand» der Schweiz beigetragen haben, «vor allem auch an die 1,2 Millionen Ausländer».
Der ehemalige Swisscom-Präsident Rauh war von Judith Stamm aufs Rütli eingeladen worden. Er nützte den Auftritt, um Abstimmungspropaganda gegen das Ausländer- und Asylgesetz zu machen, das die Bevölkerung zwei Monate später mit fast 70 Prozent der Stimmen annehmen sollte. In seiner Rede verstieg sich der Manager zur Aussage, die rechtmässig abgewiesenen Asylbewerber würden «nach dem Willen der Regierung und des Parlamentes mit unmenschlichen Zwangsmassnahmen physisch und psychisch eliminiert». Das klang, als würde die Schweiz einen Holocaust planen.
Rauhs rhetorischer Exzess war kein Ausrutscher, sondern Programm. Eine Saison lang, bis Insider-Geschäfte ruchbar wurden, profilierte sich Rauh als eine Art Anti-Blocher. Er lud Anfang September 2006 zu einem von der ehemaligen Ringier-Journalistin Monique Ryser organisierten «Banquet républicain», das sich als intellektuelle Widerstandsplattform ebenfalls gegen die neuen Gesetze wandte. Zusammen mit Rütli-Historiker Georg Kreis stellte Rauh dort das Manifest «Unsere Schweiz» vor. Dessen Unterzeichner gelobten, «aktive Hüter der Verfassung» zu sein. Zu den Mitunterzeichnern gehörten unter anderen Judith Stamm und der Soziologe Kurt Imhof.
Es ist dieses Milieu, das die Diskussion auf dem Rütli in den letzten Jahren geprägt hat. Imhof ist der Stichwortgeber eines «linken Patriotismus», er empfahl der SP eine «harmlose» Rückeroberung der nationalen Symbole. Im Wahlkampf 2003 warben die Sozialdemokraten mit dem Slogan «Unser Patriotismus kennt keine Grenzen». Das Plakat zeigte die drei Eidgenossen beim Schwur, einer mit dem Schweizerkreuz, einer mit den EU-Sternen und der dritte mit dem Emblem der Uno.
Der nicht zu bändigende Drang, den die sozialdemokratische Bundespräsidentin nach dem Rütli verspürt, ist Ausdruck dieser Strategie. Und zugleich das heimliche Eingeständnis ihres Scheiterns. Ein Christoph Blocher kann am 1. August in jedem Kaff der Schweiz auftreten, man nimmt ihm seinen Patriotismus ab. Calmy-Rey braucht das Rütli als «Symbol für die Schweiz», wie sie im Blick sagte. Sonst bleibt nichts als ein Spiel ohne Grenzen.