Schüsse im Marzili-Quartier
In der Nacht auf gestern haben Unbekannte im Berner Marzili-Quartier mehrere Sturmgewehr-Salven auf eine von Linksaktivisten bewohnte Liegenschaft abgefeuert. Verletzt wurde niemand. Vor den Schüssen schrien die Täter «Sieg Heil».
*Urs Hugelshofer/Jürg Spori
Es sei «ein grosses Wunder und Zufall, dass niemand zu Schaden gekommen ist», sagte Stadtpolizei-Sprecher Franz Märki gestern nach dem Anschlag. In der Nacht auf Montag hatten Unbekannte Dutzende von Schüssen auf die von Linksaktivisten bewohnte «Solterpolter»-Liegenschaft abgefeuert. Laut Erkenntnissen der Stadtpolizei Bern wurden dabei gleich mehrere Sturmgewehr-Magazine mit Kriegsmunition GP-90 abgefeuert. Zur Tatzeit am frühen Montag um 2.40 Uhr waren nach Polizeiangaben fünf Personen im Haus anwesend. Die Serie von Gewehrschüssen durchschlug das Schiebetor und mehrere Fenster der stillgelegten Spenglerei Soltermann. Mehrere Dutzend Schüsse drangen ausserdem in die Fassade ein. Kurz nach der Alarmierung trafen mehrere Polizeipatrouillen am Tatort ein. Sie riegelten das Gebiet grossräumig ab.
Auf der Marzilistrasse stellten sie zahlreiche Gewehrhülsen sicher.
Zum Signalement der Täter liegen bisher keine Angaben vor. Wie die Bewohnerinnen und Bewohner gegenüber der Polizei erklärten, waren kurz vor der Tat vor dem Haus «Sieg Heil»-Rufe zu hören gewesen. Das «Solterpolter»-Haus unterhalb der Marzilibahn-Talstation wurde schon mehrmals von rechtsextremen Kreisen überfallen. Im letzten Sommer schossen Rechtsextreme mit Schrot gegen Fenster. Nach den Angaben der Polizei ist im Raum Bern ein harter Kern von etwa 50 Rechtsextremen aktiv. Die Polizei schränke ihre Ermittlungen im jüngsten Fall aber nicht auf rechtsextreme Kreise ein, sagte Polizeisprecher Märki.*
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Solterpolter
Immer wieder Attacken
Im Sommer 1997 schlossen die Besetzerinnen und Besetzer der ehemaligen Spenglerei Soltermann mit den privaten Besitzern des Gebäudes einen Gebrauchsleihvertrag ab, welcher noch heute besteht. Damit kehrte in der Fabrik neben der Talstation des Marzili-Bähnchens aber noch keine Ruhe ein: Das Gebäude, das von Linksaktivisten genutzt wird, wurde immer wieder attackiert:
Laut Fritz Schlüchter, dem Chef des Informationsdienstes der Stadtpolizei, sei es zumindest bei einigen der Überfälle erwiesen, dass die Täter aus der rechtsextremen Szene stammen. Ob Leute verhört oder verhaftet wurden, konnte er gegenüber der BZ allerdings nicht sagen: «Die Fälle sind noch nicht abgeschlossen.»uho
Gewehrsalven auf Linksaktivisten
«Dem Tod nur ganz kapp entronnen»
Schüsse hallten in der Nacht auf Montag durchs Berner Marzili-Quartier: Unbekannte feuerten Gewehrsalven gegen das Solterpolter-Haus. Die Bewohner kamen nur mit viel Glück unverletzt davon.
*Urs Hugelshofer Jürg Spori
«Ich könnte mausetot sein», sagt die junge «Solterpolter»-Bewohnerin vor dem Soltermann-Areal im Marzili, das von jungen Linksaktivisten bewohnt wird. Die Frau in ihrer braunen Strickjacke zittert noch am ganzen Körper. Der Schrecken der letzten Nacht steht ihr ins Gesicht geschrieben. «Wir kamen morgens um halb drei nach Hause, dann hörten wir eine Männerstimme ‚Sieg Heil‘ durch die Nacht schreien», erzählt ihr Freund. Der junge «Solterpolter»-Bewohner ging dann auf die Toilette.
Ums Leben gerannt
«Plötzlich pfiffen mir Schüsse um die Ohren, ich rannte durch den Raum und brachte mich so in Sicherheit», erzählt der junge Mann. Nicht nur Schüsse, sondern auch Querschläger peitschten gegen die Wände. Seine Freundin rannte ebenfalls um ihr Leben. Zum Glück lag sie noch nicht auf ihrer Schlafmatratze im Hochparterre. Denn: Nur eine Handbreite unter der Matratze schlug eine Kugel ein und durchbohrte die Schlafstätte. Der junge «Solterpolter»-Bewohner zieht seinen Regenhut tiefer ins Gesicht und sagt: «Zum Glück ging meine Freundin nicht sofort schlafen, sonst wäre sie von der Kugel getroffen worden – sie hatte einen grossen Schutzengel.»Polizei reagierte rasch
Mehrere Anwohner unterhalb der Marzili-Talstation wurden in der Nacht vom Sonntag auf den Montag von den Schüssen aus dem Schlaf gerissen. «Bei uns gingen mehrere Anrufe ein», sagt Stadtpolizei-Mediensprecher Franz Märki. Und die Polizei reagierte rasch: «Innert sechs Minuten waren sechs Patrouillenfahrzeuge vor Ort», sagt Märki. Sofort wurde das Gebiet abgesperrt. Die Polizisten fanden auf der Marzilistrasse haufenweise Patronenhülsen, die von Sturmgewehr-Munition (GP 90) stammen. Weder die fünf «Solterpolter»-Bewohner, die zur Tatzeit anwesend waren, noch die Anwohner konnten Hinweise zur Täterschaft machen.Mehrere Magazine
Die Täter mussten mehrere Magazine ins Gebäude geballert haben. Denn: Allein das blaue Schiebetor wurde von einigen Dutzend Kugeln durchschossen. Und in den Mauern rundum sind nochmal so viele drei Zentimeter tiefe Kugeleinschüsse gut sichtbar. Viele Fenster sind im Kugelhagel geborsten. «Es ist ein Wunder und ein Zufall, dass keine Menschen verletzt oder sogar getötet worden sind», sagt Franz Märki. Beamte des Kriminaltechnischen Dienstes der Stadtpolizei suchten gestern bis gegen Abend nach Spuren der Täter. Die ehemalige Spenglerei Soltermann unterhalb der Marzilibahn-Talstation wurde in den vergangen Jahren immer wieder von Rechtsextremisten angegriffen (siehe Kasten). Ob für den jüngsten Überfall Rechtsextremisten verantwortlich sind, ist noch nicht definitiv erwiesen.Schon im Frühling 1999 habe er vor einer Zunahme der Rechtsextremisten gewarnt, sagt Fritz Schlüchter vom Informationsdienst der Stadtpolizei. Angaben über die Grösse der Szene will er keine machen. In den letzten beiden Jahren habe sich aber die Anzahl der Vorfälle verdoppelt. «Ende 1999 ist die Situation eskaliert. Und einen weiteren Höhepunkt hat der Hass mit dem Antifa-Abendspaziergang im Januar erreicht», sagt er. *
Hinweise und Beobachtungen nimmt die Stadtpolizei Bern unter Telefon 321 21 21 entgegen.
«In Bern gibts am meisten rechte Überfälle»
Nirgends in der Schweiz werden Linke so oft von Rechtsextremen angegriffen wie in Bern. Das sagt Rechtsextremismus-Experte Hans Stutz. Die Gewalt sei allerdings nicht erst mit dem gestrigen Angriff eskaliert.
*Interview: Urs Hugelshofer
BZ: Herr Stutz, alles deutet darauf hin, dass mit dem gestrigen «Solterpolter»-Überfall die rechte Gewalt in Bern eine neue Dimension erreicht hat…
Hans Stutz: Ob das eine neue Stufe ist, bezweifle ich. Es wurde ja bereits früher aufs «Solterpolter»-Gebäude geschossen.
Und ebenso wurde die von Punks besetzte alte Stricki in Zollikofen angegriffen. Es ist auffällig, dass in der Agglomeration Bern immer wieder linke Institutionen von Rechtsextremisten angegriffen werden. In Bezug auf solche Angriffe ist Bern führend und der restlichen Schweiz einen Schritt voraus.Bei früheren Überfällen wurde jedoch Schrot verschossen, während gestern mehrere Sturmgewehrmagazine auf das «Solterpolter»-Tor geleert wurden.
Natürlich hört sich das wilder an. Aber auch Schrot ist wegen der breiten Streuung sehr gefährlich. Das Kriterium ist für mich ohnehin eher, dass man überhaupt auf missliebige Orte schiesst. Mit was für einem Gewehr, das ist dann eher eine Frage des Tatmittels.Stimmt es denn nicht, dass die rechtsextreme Szene in den letzten Jahren gewalttätiger geworden?
Zugenommen haben in letzter Zeit die Drohungen bis hin zu Todesdrohungen. Aber die Gewalt ist ein konstituierender Bestandteil des Skinhead-way-of-life und damit nichts Neues.Und die Grösse der Szene?
Vor einem Jahr sagte die Bundespolizei, dass sie sich innerhalb der letzten zwei Jahre verdoppelt habe. Nach meiner Einschätzung ist die rechte Szene seither stetig weitergewachsen. Ausserdem gab es Bestrebungen, neue Parteien zu gründen. Auch der Organisationsgrad bestehender Gruppen wie zum Beispiel der Hammerskins ist gestiegen. Seit neustem hat die Szene sogar Klubräume.Experten der Polizei denken, dass Überfälle wie diejenigen auf «Solterpolter» meist nicht geplant sind, sondern oft spontan in der Gruppe, etwa an einem Fest mit entsprechendem Alkoholkonsum, beschlossen werden. Das würde nicht auf straffere Organisation deuten.
Ich teile diese Einschätzung. Angriffe sind zwar spontan. Der Hass und die Angriffe richten sich aber immer gegen ganz bestimmte Feindbilder: gegen Schwarze, Schwule, Linke und Asylbewerber.
Ausserdem sind einzelne Gruppen besser vernetzt und die Täter fühlen sich natürlich gestärkt, wenn sie 150 Gleichgesinnte hinter sich wissen.Wird die Gefahr, die vom Rechtsextremismus ausgeht, unterschätzt?
Ich denke ja. Die Politik kümmert sich nur um Rechtsextremismus und Rassismus, wenn gerade etwas Gravierendes vorgefallen ist. Allgemein fehlt die kontinuierliche Arbeit. Ausserdem gehen gewisse Parteien sogar auf Teile des Diskurses, welche die Rechtsextremen aufwerfen, ein. Etwa bei der Frage der Einbürgerungen oder der Diskreditierung von Teilen der ausländischen Wohnbevölkerung oder von Asylbewerbern. Das geht bis hin zu antisemitischen Anspielungen.Was sagen Sie zum Vorwurf, die Polizei sei oft auf dem rechten Auge blind?
Die Polizei ist auf dem rechten Auge nicht mehr blind, sondern eher sehschwach. Allgemein fällt mir im Kanton Bern auf, dass die Polizei versucht, die Probleme mit Skinheads und Neonazis nicht an die grosse Glocke zu hängen, ja die Öffentlichkeit teilweise gar nicht zu informieren. Zu dieser Strategie zähle ich auch die Wortwahl der Polizei, wenn sie in diesem Zusammenhang nicht von Angriffen, sondern von Zusammenstössen spricht.*Hans Stutz ist Journalist mit Schwerpunkt Rechtsextremismus und Rassismus und Redaktor der Zeitschrift «Klartext».