Fully ist ein Vorort von Martigny, überaus idyllisch gelegen im Weinanbaugebiet neben Saxon und Saillon. Hier lebt man seit je gesellig; vorab der Weisse ist beliebt, und auch sonst ist im Walliser Ort viel los. Rund 8500 Einwohner zählt die Gemeinde, vier Parteien, einen Fussballclub und zwei Blaskapellen. Ausserdem weht in der Region zeitweilig noch der anarchisch-libertäre Geist aus dem vorletzten Jahrhundert.
Der ehemalige Hanfbauer Bernard Rappaz probte in Saxon ganz persönlich das kalifornische Modell, seine unbefugte Hanfliberalisierung brachte ihn ins Gefängnis und während eines Hungerstreiks nahe an den Tod. Joseph-Samuel Farinet, der eigene Münzen prägte, soll oberhalb von Saillon von Polizisten erschossen worden sein, der kleinste Weinberg der Welt erinnert an ihn. Militärdienstverweigerer pflegten sich in Zeiten der harten Repression gegen sie hier zeitweilig in den Bergen zu verstecken.
Die Konferenz der Nationen
Aber jetzt macht Fully ganz andere Schlagzeilen: Ausgerechnet hier traf sich am vergangenen Samstagabend eine Schar Rechtsextremer aus der Westschweiz und dem Wallis zur «Konferenz der Nationen». Was sich hinter dem unverfänglichen Titel verbarg, machten die Redner klar: Sébastien de Boëldieu, Auslandsprecher der italienischen Neofaschisten namens Casa Pound und Daniel Conversano, ein berüchtigter Fanatiker und Gründer der rechtsradikalen Website Vive l’Europe, wollen der europäischen «Zivilisation» und «Rasse» wieder ihren einstigen völkischen Stellenwert geben. Bedroht sieht man sich in erster Linie durch Immigranten, Linke und den Islam.
Dass das Treffen in Fully im Übungslokal der christdemokratischen Blasmusik stattfand, gab ihm eine ganz spezielle Note. Der Präsident der Blasmusik war an diesem Samstag ortsabwesend und zeigte sich am Tag danach bestürzt: «Wir müssen vermeiden, dass sich Musiker und Rechtsradikale vermischen», sagte er dem Reporter von «Le Temps». Die Wirtin war kurzfristig von einem Bekannten angefragt worden. «Sie haben nicht gesagt, wer sie sind», meinte sie gegenüber dem Reporter, «und ich habe mit Politik nichts am Hut.»
Die rechtsextreme Schar hatte kurzfristig umdisponieren müssen, weil der Kanton Waadt die Veranstaltung auf seinem Gebiet untersagt hatte. Auch ein Treffen am Nachmittag in der Kantine neben dem alten Fussballplatz von Saxon war von der Walliser Kantonspolizei verhindert worden. Sechzig Personen wurden kontrolliert. Wer nicht im Wallis wohnte, wurde aufgefordert, den Kanton zu verlassen.
Freysinger war gerade nicht da
Nun ist diese Szene nicht dafür bekannt, solchen Aufforderungen gleich geflissentlich nachzukommen. «Die Polizei kann nicht jedem Nazi nachlaufen», rechtfertigte sich der kantonale Sicherheitsdirektor Oskar Freysinger (SVP) am Tag danach gegenüber dem «Walliser Boten».
Speziell er selber konnte das nicht, denn Freysinger weilte gleichentags an einer Berliner Konferenz zu demselben Thema. Als Redner fungierten dort neben ihm der mehrfach vorbestrafte Dresdner Pegida-Gründer Lutz Bachmann (jüngst verurteilt wegen Volksverhetzung) sowie der Österreicher Martin Sellner von der «Identitären Bewegung». Im Unterschied zu den Neonazis bewegten sich die Redner in Berlin wenigstens innerhalb des Rechtsstaates.
Trotzdem: Müsste der Walliser Sicherheitsdirektor zu diesem Thema bei so grosser inhaltlicher Nähe und so grosser räumlicher Distanz nicht besser in den Ausstand treten??
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(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 11.11.2016, 13:58 Uhr)