Tages-Anzeiger vom 10.12.2011
Waren die Zwickauer Terroristen auch in Zürich aktiv? Deutsche und Schweizer Ermittler prüfen dies.Das Verbrechen erregte weltweit Aufsehen: Im Sommer 2001 wurde Abraham Grünbaum, ein israelischer Rabbiner, beim Hallwylplatz im Zürcher Kreis 4 erschossen. Er war zu Fuss unterwegs gewesen in die Synagoge.
Von David Nauer, Berlin, und Thomas Knellwolf
Ein rassistisches Motiv stand im Vordergrund, doch der Fall blieb ungeklärt. Dies könnte sich nun ändern. Ermittler prüfen gemäss TA-Recherchen, ob der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auch hinter dem Zürcher Judenmord stecken könnte. Die rechtsextremen Terroristen aus Ostdeutschland, die sich zuletzt in Zwickau versteckt hielten, hatten über Jahre an mindestens zehn Orten in der ganzen Bundesrepublik gemordet. Nun könnte sich herausstellen, dass sie auch ausserhalb der Landesgrenzen ein Verbrechen begangen haben. Ihre Tatserie erhielte dadurch eine weitere grausame Dimension: Mit dem damals 70-jährigen Grünbaum hätten die Neonazis auch einen Juden auf dem Gewissen, der als Kind und Jugendlicher den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte. Grünbaum, 1930 in Polen geboren, verbrachte die Kriegszeit in einem Arbeitslager in Sibirien. Danach gelangte er über Deutschland und Frankreich nach Israel.
Ein Ermittler für die Schweiz
Der Sprecher der Zürcher Kantonspolizei, Werner Benz, wollte gestern nicht explizit bestätigen, dass der Fall Grünbaum neu aufgerollt wird. Er sagte aber: «Immer wenn sich ähnliche Straftaten ereignen, prüfen wir natürlich, ob es Verbindungen zu ungeklärten Tötungsdelikten bei uns geben könnte.» Eine solche Prüfung findet gemäss TA-Informationen nun statt.
Beim Judenmord im Kreis 4 hatte es wenig Spuren gegeben, die zu einer Täterschaft hätten führen können: zwei Patronenhülsen, Zigarettenstummel und Aufnahmen einer Überwachungskamera, die eine kaum erkennbare Person zeigten, die wegrannte. Ein Raubüberfall konnte ausgeschlossen werden, da das Opfer noch über 1000 Franken und ein Flugticket nach Belgien auf sich trug. Grünbaum hatte sich oft in Europa aufgehalten, um Geld zu sammeln für seine Talmudschule.
Auch die deutschen Behörden gehen nun verstärkt Spuren der rechtsextremen Terroristen in der Schweiz nach, wie eine Sprecherin der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe erklärte. Zwar gebe es «bisher» keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen der Zwickauer Zelle und dem Zürcher Rabbi-Mord. Es sei aber ein «Sachbearbeiter Schweiz» abgestellt worden, der sich den Verbindungen des NSU zum Nachbarland widme.
Vom Muster her würde die Zürcher Tat zum NSU passen. Die Bande tötete mindestens zehn Menschen, acht Türken, einen Griechen und eine Polizistin. Die meisten von ihnen erlagen Kopfschüssen aus kurzer Distanz. Die ersten Opfer wiesen aber auch andere Verletzungen auf – wie Grünberg, dem gemäss einem Kenner des Falls aus einem oder zwei Metern Entfernung zweimal in den Oberkörper geschossen wurde.
Zwei Wochen, drei Morde
Auffällig ist ausserdem die zeitliche Nähe früher NSU-Taten zum Mord in Aussersihl. Rabbi Grünbaum starb am 7. Juni 2001. Am 13. Juni desselben Jahres ermordete die Zwickauer Zelle in Nürnberg einen türkischen Schneider, gut zwei Wochen später (am 28. Juni) einen Obst- und Gemüsehändler in Hamburg. Am 29. August 2001 schlugen die Killer in München zu und richteten mit Kopfschüssen einen Kleinunternehmer hin, auch er ein Türke. Danach sollten über zweieinhalb Jahre verstreichen bis zum nächsten sogenannten Döner-Mord.
Enge Schweiz-Kontakte
Das kann alles Zufall sein. Doch auch in anderen Fällen tötete der NSU meist mehrmals in kurzen Abständen: im Sommer 2005 innert einer Woche zweimal, im Frühjahr 2006 zweimal im Abstand weniger Tage. Bekannt ist zudem, dass das Zwickauer Trio zahlreiche Verbindungen in die Schweiz hatte. So stammt die Tatwaffe der meisten NSU-Morde, eine Ceska-Pistole des Typs 83, aus der Schweiz. Sie war Anfang der 90er-Jahre bei einem Waffenhändler im solothurnischen Derendingen über den Ladentisch gegangen. Wie sie in die Hände der rechtsextremen Terroristen gelangte, ist bisher unbekannt.
Darüber hinaus sollen sich die Neonazis nach ihrem Untertauchen mindestens einmal in der Schweiz aufgehalten haben. 1998 oder 1999 hörten die deutschen Sicherheitsbehörden ein Telefongespräch ab, das eines der drei NSU-Mitglieder mit einem Freund aus Thüringen führte. Getätigt worden sei der Anruf aus einer Telefonzelle in der Schweiz, wie die «Berliner Zeitung» unter Berufung auf Ermittlerkreise berichtete. Als das Trio Jahre später Ferien an der Ostsee machte, fuhr es angeblich ein Auto mit Schweizer Kennzeichen.
Aktenkundig sind Kontakte zwischen Schweizer Rechtsextremen und dem ostdeutschen NSU-Umfeld. So trat gemäss «SonntagsBlick» der Aargauer Pnos-Aktivist Pascal Trost im Jahr 2009 am «Fest der Völker» in Thüringen auf. Der rechtsextreme Anlass wurde unter anderem von Ralf Wohlleben organisiert. Der bekannte Neonazi sitzt inzwischen in U-Haft. Er wird verdächtigt, die untergetauchten Kameraden aktiv unterstützt zu haben.