Tages-Anzeiger vom 18.10.2011
1000 Menschen haben am Wochenende im Rahmen der Protestaktion Occupy Wall Street den Paradeplatz besetzt. Nicht alle verfolgten dabei politische Ziele.
Der Paradeplatz war am vergangenen Wochenende kaum wiederzuerkennen. Mitten auf der Traminsel fanden Picknicks statt, auf einem Sofa wurde diskutiert und bei der Abzweigung zur Bahnhofstrasse zu Trommeln getanzt. Die Demonstration, die im Rahmen der internationalen Protestaktion Occupy Wall Street stattfand, lockte am Samstag bis zu 1000 Personen ins Zürcher Bankenviertel.
Ein offizielles Organisationskomitee gab es nicht. Das wurde bereits im Vorfeld der Aktion im Rahmen einer Vollversammlung beschlossen. Entsprechend bunt war denn auch die Zusammensetzung der Aktivisten auf dem Platz. Doch längst nicht alle verfolgten politische Interessen.
Unzufriedene und Frustrierte anlocken
Von Alternativen, Linken und Anarchisten bis hin zu Weltverschwörungstheoretikern und christlichen Fundamentalisten hätten viele Interessenvertreter die Gelegenheit genutzt, um zu protestieren und ihre Frustration kundzutun, erklärt Esoterik- und Sektenexperte Hugo Stamm auf Anfrage. «Und sie versuchen auch, Unzufriedene und Frustrierte auf ihre Seite zu ziehen.»
So sorgte bereits im Vorfeld der Aktion die Teilnahme der umstrittenen Organisation We Are Change für Kontroversen. Auf dem Platz selbst waren unter anderem auch Vertreter von The Zeitgeist Movement präsent, einer Bewegung, die «für ein neues Bewusstsein im Einklang mit einem fliessenden evolutionären Fortschritt» steht und das «sowohl persönlich, sozial als auch technologisch und spirituell». Dazwischen verteilten die Mitglieder der stramm rechten Europäischen Aktion ihre Flyer und Aktivisten von Occupy Your Mind meditierten auf dem Platz gegen die Ungerechtigkeit an.
Es sei nicht zu vermeiden, dass eine solch bunte Gemeinschaft «obskure Organisationen» anziehe, die «fundamentalistische und pseudoreligiöse Ideen» vertreten. Für Stamm stellt sich jedoch die Frage, welches Gewicht die exotischen Organisationen in diesem Flickenteppich von Protestierenden erhalten. «Man kann sie schlecht ausschliessen», so Stamm, «deshalb besteht die Gefahr, dass radikale Minderheiten die Bewegung dominieren und in Verruf bringen.»
«Es geht hier um die Sache»
Dass die verschiedensten Organisationen die Aktion auf dem Paradeplatz nutzten, um für ihre Sache Werbung zu machen, hat bei den Initianten Bedauern hervorgerufen. «Wir haben im Vorfeld dazu aufgerufen, dass man als Mensch und nicht als Mitglied einer Organisation auftreten soll. Das hat leider nur bedingt funktioniert», sagt Laurent Moeri, der seit Samstagmorgen an den Protesten teilnimmt und gemeinsam mit rund 25 Aktivisten noch immer auf dem Lindenhof ausharrt.
Moeri geht allerdings nicht davon aus, dass diese Organisationen der Bewegung Schaden zugefügt haben. Der Protest bestehe vor allem in der Partizipation an den Aktionen. Der Umgangston sei zudem während der ganzen Zeit respektvoll geblieben. «Die verschiedenen politischen Meinungen rücken immer mehr in den Hintergrund. Es geht hier um die Sache. Es findet eine eigentliche Evolution der Werte statt», so Moeri.
Doch gerade darin liegt gemäss Stamm das Problem. «Irgendwann stellt sich die Frage, wer die Deutungshoheit hat, wenn die unterschiedlichen Weltbilder und Grundinteressen aufeinandertreffen. Daran könnte die basisdemokratische Grundlage zerbrechen.» Eine Chance sieht Stamm darin, dass die realpolitischen Kräfte in der Gruppe ihre Interessen und Ideen durchsetzen. «Wenn sie das schaffen, sehe ich eine Zukunft für die Bewegung.»