Päpstlicher als der Papst

Simone Schmid

Letzte Woche löste der Papst die Exkommunikation von vier Bischöfen der Priesterbruderschaft St. Pius X. auf. Die Gemeinschaft gilt als erzkonservativ, schwulenfeindlich und antisemitisch. Was sind das für Menschen? Eine Spurensuche an den Rändern des Katholizismus.

Der Knabe ist etwa sieben Jahre alt. Vor der Kirche begrüsst er alle, die eintreten, dann macht er drei tiefe Knickse im Kirchenschiff, einen in der Mitte, einen links und einen rechts. Er bekreuzigt sich, kniet sich in die hinterste Bank und wartet mit gesenktem Kopf, bis die Messe beginnt. Es ist Donnerstagmorgen, 7 Uhr 15. Etwa 50 Menschen besuchen den Gottesdienst der Priesterbruderschaft St. Pius X. in Wil (SG). Letzte Woche löste der Papst einen Sturm der Entrüstung aus, weil er die Exkommunikation von vier Bischöfen dieser Bruderschaft auflöste. Einer von ihnen leugnete unlängst den Holocaust (siehe Kasten).

Sie werden auch Lefebvristen genannt, die Menschen, die hier schweigend beten. Die Frauen tragen lange Röcke und grobe Schuhe, viele halten ihren Kopf mit einem Tuch bedeckt. Elf Teenager-Mädchen huschen mit gesenktem Blick und eingezogenen Schultern durch die Kirche. Die Gemeinde der Bruderschaft in Wil zählt 400 Menschen. Schweizweit sitzen jeden Sonntag 4500 Personen in den 28 Kirchen und Kapellen der Lefebvristen. Weil die Familien kinderreich sind, nehme die Zahl langsam zu, sagt man bei der Schweizer Leitung der Bruderschaft. Kirchen gibt es in der ganzen Schweiz, auch in Städten wie Basel oder Zürich. Der grosse Teil der Anhänger lebe aber in der Ostschweiz, Innerschweiz und im Wallis.

Die Marmorsäulen, das Marienbild, der Weihrauchgeruch: Nichts deutet im ersten Moment darauf hin, dass dies keine «echte» Kirche ist, keine römisch-katholische. Bis auf das Alter: Sie wurde erst 2003 eröffnet. Auch das Gesangbuch ist ein eigenes, «da die neuen Diözesenbücher aufgrund der liturgischen Veränderungen und eines modernistischen Glaubensgeistes nicht mehr empfohlen werden können», wie im Vorwort steht.

Gegen Religionsfreiheit

Neu heisst hier: alles, was nach 1962 kam. Die Priesterbrüder weigern sich, die Beschlüsse des Zweiten Vatikanische Konzils von 1962 bis 1965 anzuerkennen. Denn damals beschloss die Kirche, sich der modernen Welt zu öffnen und weniger dogmatisch zu sein. Den Lefebvristen missfällt vor allem das Dekret «dignitas humanae», das besagt, dass in religiösen Fragen niemand gezwungen werden darf, gegen sein Gewissen zu handeln. Religionsfreiheit, Ökumene und der interreligiöse Dialog werden von der Bruderschaft strikte abgelehnt. Symbol für die alte, reine Kirche ist die tridentinische Messe, der alte Messritus auf Lateinisch.

«Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.» Die Kirchgängerinnen klopfen sich mit der Faust auf die Brust, der Pfarrer kehrt ihnen die meiste Zeit den Rücken zu. Dann die Kommunion, der Höhepunkt des Morgens. Tiefe Knickse vor dem Pfarrer. Er legt die Hostie direkt in den Mund, nicht in die Hand, wie es in anderen Kirchen praktiziert wird. Für die, die es genau nehmen, ein wichtiger Unterschied.

Eine Frau aus Chicago erzählt nach dem Gottesdienst, dass sie sich deswegen den Lefebvristen angeschlossen habe. «Wir glauben, dass Gott während der Kommunion tatsächlich in diesem Brot ist.» Und Gott wolle sie nicht in ihre schmutzigen Hände nehmen. Lieber direkt in den Mund. Sie zog nach Wil, damit ihre fünf Kinder die hiesige Schule der Bruderschaft besuchen können. «Ich will, dass sie Biologie und Geschichte unverfälscht lernen.» Der christliche Glauben soll den Alltag ihrer Kinder durchdringen. Zum Beispiel durch Gebete vor jeder Schulstunde. 120 Schüler werden hier erzogen, vom Kindergarten bis zur Sekundarschule. Die Älteren wohnen im angeschlossenen Internat.

Kontakt mit der römisch-katholischen Kirchgemeinde gibt es fast nicht. «Das sind nicht unsere Leute», sagt der Ortspfarrer von Wil, Meinrad Gemperli. Die Anhänger der Priesterbruderschaft kämen aus der ganzen Schweiz und aus Süddeutschland nach Wil. Warum, Herr Gemperli? «Sie geben ihnen eine grössere Sicherheit als wir.» Bei Pfarrer Gemperli verhüllt sich Gott auch mal, die Unsicherheit will er vor seiner Gemeinde nicht verbergen. «Die Lefebvristen aber wissen genau, wer ihr Gott ist, wie er handelt und richtet.» Ein klares Weltbild, schwarz-weiss, falsch und richtig. In der Schweiz gehen Anhänger der Priesterbruderschaft immer wieder auf die Strasse, um gegen Abtreibung oder Homosexualität zu protestieren.

Ohne Alkohol und TV

Für manche Menschen ist die moderne Welt zu viel, und es bleibt nur noch die Flucht nach hinten. Die Vergangenheit, die Heiligen, die Schriften. Das Fernsehen, Symbol für den Wust an Möglichkeiten, lehnen die Lefebvristen ab. Ein Leben ohne unanständige Lektüre und Alkohol wird angestrebt, dafür mit einem «guten Morgen- und Abendgebet». Die Messe soll jeden Tag besucht werden.

Janine Weber, 29 Jahre, hält sich an diese Richtlinien. Sie ist durch ihre Eltern zur Priesterbruderschaft gekommen, weist aber nachdrücklich darauf hin, dass sie sich als Erwachsene bewusst für das ultrareligiöse Leben entschieden habe. Sie sagte sich: «Entweder bist du überzeugt und machst Ernst mit dem lieben Gott, oder du musst gar nicht mehr kommen.» Janine Weber hat sich für das Ernstmachen entschieden. Sie besucht jeden Morgen den Gottesdienst.

Auch der Priester Markus Niederberger wuchs in einem Haushalt auf, in dem die Vergangenheit stärker war als das Heute. Als er 10 Jahre alt war, entdeckten seine Eltern die Priesterbruderschaft St. Pius X. Als Knabe verbrachte er viele Ferienlager bei den Lefebvristen im Wallis. «Mir gefiel die konsequente, strenge Haltung, die aber auch sehr fröhlich ist.»

Der 44-Jährige sitzt im Esssaal des Internats und erzählt von seiner Überzeugung, dass Jesus vom himmlischen Vater gesandt wurde und der einzige Gott ist. «Es gibt nur einen wahren Gott, und es kann nicht sein, dass jeder recht hat.» In einer modernen Kirche wäre er nie Priester geworden. «Der Priester als Sozialhelfer? Da könnte ich ja auch eine Familie gründen.» Das radikale Ideengut und die antijudaistische Haltung der Bruderschaft zieht auch Rechtsextreme an. Auf der Internetseite kreuz.net, einer anonymen Seite, die Anhängern der Priesterbruderschaft zugeschrieben wird, werden Texte des Nazis Heinrich Himmler neben Interviews mit dem Generaloberen der Priesterbruderschaft Bernhard Fellay veröffentlicht. Auf den Foren ist von der V2-Sekte die Rede, der Sekte des Zweiten Vatikanischen Konzils: In der Logik der Radikalen ist die römisch- katholische Kirche eine Sekte, die verblendet und verwirrt wurde von der modernen Zeit.

Markus Niederberger ist sich bewusst, dass seine Gemeinschaft «Spinner» anziehe. «Es gibt sehr exzentrische Leute bei uns.» Man sei aber offen für alle, um den Menschen zu helfen. Auf die Holocaust-Leugnung von Bischof Williamson angesprochen, antwortet Janine Weber: «Es gibt die unterschiedlichsten Leute bei uns mit vielen Ansichten. Aber darum geht es nicht.» Sondern darum, die Seele mit Gott zu vereinigen. Antisemitisch seien sie nicht, sagen beide. Und beide hegen die gleiche Hoffnung: Dass es bald vorüber sei mit dem Schisma, der Kirchenspaltung, und die Priesterbruderschaft St. Pius X. wieder in die Kirche aufgenommen werde.

Oben: Die heilige Messe nach dem alten Ritus im Priorat der Priesterbruderschaft St. Pius X. in Wil (SG) am Donnerstagmorgen. Unten: Ordensschwestern der Bruderschaft, die im Kirchgemeindezentrum leben. (Fotos: Mara Truog)

Überzeugt von Gott: Janine Weber.

Erzkonservative Katholiken Lefebvristen in der Schweiz

Schmid S. (mid)

1970

Die Priesterbruderschaft St. Pius X. wird 1970 vom ultrakonservativen französischen Erzbischof Marcel Lefebvregegründet, als Gemeinschaft innerhalb der Kirche. Weil Lefebvre die zentralen Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils ablehnte, bildete er im eigenen Seminar in Ecône (VS) Priester aus.

1988

Als Lefebvre unerlaubterweise vier Bischöfe weihte, kommt es zur Kirchenspaltung. Lefebvre und die Bischöfe wurden exkommuniziert. Trotzdem werden weiter Priester geweiht. Die Weihen sind zwar gültig, da sie vom Vatikan aber nicht erlaubt wurden, dürfen die Priester nicht in römisch-katholischen Kirchen predigen. Heute zählt die Bruderschaft etwas mehr als 700 Priester und Ordensleute in 30 Ländern. Nach Angaben der Bruderschaft besuchen 150 000 Menschen ihre Gottesdienste. Der Hauptsitz ist in Menzingen (ZG).

1991

Marcel Lefebvre stirbt 85-jährig in Martigny (VS).

2009

Das Schwedische Fernsehen strahlt am 21. Januar ein Interview mit Richard Williamson aus, einem der vier exkommunizierten Bischöfe. Im Interview leugnete Williamson den Holocaust; Gaskammern habe es nicht gegeben. Am gleichen Tag hebt Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation der vier Bischöfe auf und löst damit einen Sturm der Entrüstung aus. Die Priesterbruderschaft distanzierte sich von den Äusserungen Williamsons. (mid.)

NZZ am Sonntag (zzs)

«Entweder bist du überzeugt und machst Ernst mit dem lieben Gott, oder du musst gar nicht mehr kommen.»