Neue Zürcher Zeitung. Eine rechtsextreme Gruppierung störte eine Vorlesestunde von Dragqueens für Kinder. Konsequenzen scheint sie nicht zu fürchten.
Die Neonazis der Gruppierung «Junge Tat» zeigen sich in ihrem Bekennervideo mit Gesicht und Namen. «Am 16. Oktober führten wir eine Aktion vor dem Tanzhaus Zürich durch», sagt einer der Männer, der sich als «Tobi» vorstellt, im Plauderton. An diesem Sonntag organisierte das Tanzhaus eine Vorlesestunde für Kinder, bei der Dragqueens auftraten. Neun Neonazis blockierten den Kloster-Fahr-Weg vor dem Lokal, zündeten Fackeln und skandierten Parolen. Andere wollten im Veranstaltungsraum ein Transparent entrollen, wurden aber daran gehindert.
Die Rechtsextremen sprechen von «friedlichem Aktivismus» gegen eine angebliche «Gender-Ideologie» und kolportieren homophobe Vorurteile, mit denen sie ihre Störaktion zu rechtfertigen versuchen. Konsequenzen scheinen sie nicht zu befürchten – oder sie nehmen sie wissentlich in Kauf.
Das Tanzhaus äusserte sich nach dem Vorfall in einer schriftlichen Stellungnahme und verurteilte die Aktion aufs Schärfste: «Die ‹Drag Story Time› ist fester Bestandteil unseres Programms, und die darin vermittelten Werte und Ideale sind auch unsere Werte und Ideale. Die Tatsache, dass ausgerechnet eine Veranstaltung für Familien angegriffen wurde, entsetzt uns umso mehr.»
Fremdenhass und rassistische Botschaften
Die «Junge Tat», die erst seit ein paar Jahren aktiv ist, besteht aus jungen Männern und nutzt die sozialen Netzwerke. Die Gruppierung gibt sich modern und vermeidet allzu offene Bezüge zum Nationalsozialismus. Über Telegram, Instagram und Twitter verbreitet sie gleichwohl Fremdenhass und rassistische Botschaften. Die Mittelbeschaffung erfolgt in Kryptowährung.
Der letzte Vorfall ist nur eine von vielen homophoben und rassistischen Aktionen, mit denen die «Junge Tat» in den letzten Monaten für Schlagzeilen gesorgt hat. Am 1. Mai etwa kletterten drei Neonazis mit einem Transparent auf dem Helvetiaplatz auf einen Baukran.
Der zweite Mann im Bekennervideo stellt sich als «Manu» vor. Wegen seines rechtsextremen Hintergrunds wurde er Ende 2020 von der Zürcher Hochschule der Künste ausgeschlossen. Nach Bekanntwerden seiner Verbindungen in die Szene hatten Kommilitonen den Rauswurf des Studenten gefordert. In seinem Umfeld wurden auch Waffen konfisziert. Die Tamedia-Zeitungen berichteten damals, dass er sich mit anderen jungen Männern auf einen «Rassenkrieg» vorbereite.
Dass sich die jungen Männer in ihrem Video als Aktivisten gebärden, stört Priscilla Schwendimann gewaltig. Sie hat erlebt, was eine derartige «Aktion» anrichten kann. Schwendimann ist reformierte Pfarrerin der Mosaic Church, des ersten LGBTQ-Pfarramts der reformierten Kirche der Stadt Zürich.
Sie hielt im vergangenen Juni im Rahmen der Pride einen Gottesdienst, als mutmasslich Aktivisten der «Jungen Tat» durch eine Seitentür in die Kirche St. Peter und Paul im Zürcher Kreis 4 eindringen wollten. Die Männer hatten sich den Gottesdienst wegen des LGBTQ-Themas als Ziel ausgesucht. Sie waren mit Lautsprechern und einem weissen Holzkreuz mit der Aufschrift «No Pride Month» aufmarschiert, um den Gottesdienst zu stören.
Schwendimann sagt: «Die Menschen in der Kirche wurden nicht nur gestört. Es ist ihnen etwas genommen worden, auf eine massive Art und Weise.» Viele Menschen in der LGBTQ-Community erlebten im Alltag Gewalt, es sei eine vulnerable Gruppe. Die Kirche sei für sie ein «safe space» – ein sicherer Ort. Darauf hätten die Störenfriede bewusst gezielt.
Dem beherzten Eingreifen einiger Besucher des ökumenischen Gottesdienstes sei es damals zu verdanken gewesen, dass die Eindringlinge rasch hätten zurückgedrängt werden können und der Unterbruch der Messe relativ kurz gewesen sei. Ihr katholischer Kollege habe die Störung sogleich thematisiert und gesagt, Gott sei nicht so klein, wie diese Menschen dächten. Als der Vorfall entgegen der ursprünglichen Absicht der Kirche öffentlich wurde, sei die Solidarität enorm gewesen. Auch die katholische Kirche habe die Störung klar verurteilt, sagt Schwendimann. Das sei für die Leute sehr wichtig gewesen.
Dennoch: Nach dem Vorfall hätten viele Leute in der Kirche geweint. Kinder hätten sich unter der Bank versteckt. Der Vorfall habe die Menschen zutiefst verunsichert und auch noch Wochen danach bewegt.
Mit anderen Formen von politischem Aktivismus lasse sich die Aktion der Rechtsextremen keineswegs vergleichen, sagt Schwendimann. «Sie greifen Menschen existenziell an und versetzen sie in Angst und Schrecken. Diese Leute wissen genau, dass ein solcher Angriff die Anwesenden enorm verstört. Auch im Tanzhaus waren meines Wissens Kinder anwesend. Das richtet sich gegen vulnerable Menschen. So etwas tut man einfach nicht.»
Politiker besorgt
Der neuste Vorfall beschäftigt auch die Zürcher Politik. Der grüne Gemeinderat Dominik Waser möchte, dass sämtliche Fraktionen im Stadtparlament den Angriff in einer gemeinsamen Erklärung verurteilen. Ob es gelingt, weiss er nicht, es stünden noch Rückmeldungen aus. «Es ist krass, dass so etwas zum wiederholten Mal passiert.»
Waser spricht von einem «feigen Angriff auf einen Familienanlass». Dass die Angreifer in einem Video unvermummt aufträten, zeige, «dass sie sich sehr sicher fühlen». Mit cooler Musik und einem professionellen Video wolle man rechtsextreme Inhalte salonfähig machen. Das sei beängstigend.
Neben der Fraktionserklärung kündigt Waser weitere Forderungen im Stadtparlament an: Es solle um die Rolle der Stadtpolizei beim Schutz von gefährdeten Anlässen oder um Sensibilisierung gehen. Konkreter wird er nicht.
SVP-Fraktionschef Samuel Balsiger will sich zum Vorfall im Moment nicht äussern: Die Fraktion werde am Mittwoch entscheiden, ob sie die von Waser initiierte Erklärung mitunterschreiben wolle. FDP-Präsident Përparim Avdili bestätigt Wasers Anfrage für eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen. Er findet die Idee grundsätzlich gut. Es gehe um den Rechtsstaat, auf dessen Boden alle Parteien stehen müssten. «Dass wir diese Tat verurteilen, ist selbstverständlich. Es ist in keiner Form zu akzeptieren, wenn Menschen meinen, über dem Gesetz zu stehen, und die Freiheit anderer Menschen beschneiden wollen.»
Bei der Formulierung müsse man sich aber noch finden. Avdili ist es wichtig, dass grundsätzlich Gewalt extremistischer Gruppierungen verurteilt werde, denn diese Taten seien gleichermassen gefährlich. Er erinnert daran, dass 2019 vermummte Linksautonome einen libertären Redner in Zürcher Kulturzentrum Karl der Grosse mit Eiern und Flüssigkeiten beworfen hätten. Damals habe man ebenfalls eine gemeinsame Fraktionserklärung angestrebt – aber die linken Parteien hätten nicht mitgemacht.
Staatsanwaltschaft leitet Verfahren ein
Die Neonazi-Szene in Zürich ist nicht nur für gewaltfreie Aktionen bekannt. Es kommt auch zu handgreiflichen Konflikten mit Linksradikalen. Im Februar kam es an einer unbewilligten Demonstration in Zürich zu einer Schlägerei auf dem Limmatquai. Die Polizei nahm eine Gruppe Männer fest, die der rechtsextremen Szene zugeordnet werden konnten.
Auch der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) befürchtet einen Anstieg offener Konflikte zwischen extremistischen Akteuren. Dies geht aus dem neusten Lagebericht «Sicherheit Schweiz 2022» hervor. Neue Gruppierungen wie die «Junge Tat» verfolgten «eine ungewöhnlich provokante Strategie öffentlicher Kommunikation». Die Befürchtung, bei einem Outing als gewalttätige Rechtsextremistin oder gewalttätiger Rechtsextremist mit persönlichen Konsequenzen wie Arbeitsplatzverlust rechnen zu müssen, sei bei diversen Exponentinnen und Exponenten gesunken, schreibt der NDB. Dafür spricht auch das jüngste Bekennervideo.
Und wie sieht es mit rechtlichen Konsequenzen aus? Nicht alle inhaltlichen Botschaften, die die jungen Männer verbreiten, fallen unter einen Straftatbestand. Doch die jüngsten Aktionen könnten durchaus strafrechtliche Konsequenzen haben. In Zusammenhang mit dem Vorfall sind bei der Stadtpolizei Zürich mehrere Anzeigen eingegangen. Nun ermittelt jedoch die Kantonspolizei Zürich. Wegen der laufenden Ermittlung will sie keine weiteren Angaben machen. Mehrere Männer, die den Anlass im Tanzhaus störten, sind vorbestraft, unter anderem wegen Rassendiskriminierung, Sachbeschädigung und Vergehen gegen das Waffengesetz.
Mittlerweile hat die Zürcher Staatsanwaltschaft auch in Zusammenhang mit dem Angriff auf den Pride-Gottesdienst ein Verfahren eröffnet, wie sie auf Anfrage der NZZ bestätigt. Der Angriff ist mutmasslich der «Jungen Tat» zuzuschreiben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehrere Personen wegen des Verdachts auf Verstoss gegen die Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit, wegen Sachbeschädigung sowie wegen Hausfriedensbruchs.