NZZ am Sonntag vom 13.05.2012
Gericht muss Überführung von Sebastien N. in die Schweiz beurteilen Der Neonazi, der in Hamburg verhaftet worden ist, wehrt sich gegen seine Auslieferung an die Schweiz. Sein Fall zeigt, wie eng die Beziehungen zwischen Rechtsextremen aus der Schweiz und Deutschland sind.
Lukas Häuptli
Der Schweizer Rechtsextreme Sebastien N., den die Polizei am Montag verhaftet hat, geht rechtlich gegen seine Überführung in die Schweiz vor. «Er hat sich nicht mit einer vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt», sagt der Hamburger Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Aus diesem Grund leitet die Staatsanwaltschaft jetzt ein ordentliches Auslieferungsverfahren gegen den Neonazi ein.
Die Schweiz hatte am Mittwoch ein Auslieferungsgesuch an Deutschland gestellt, wie Folco Galli vom Bundesamt für Justiz sagt. Aufgrund des Gesuchs stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg am Donnerstag einen Antrag auf formelle Auslieferungshaft für den Neonazi. Über den Antrag habe das zuständige Oberlandesgericht aber noch nicht entschieden, sagt Möllers. Der Schweizer Rechtsextreme bleibt deshalb weiter in sogenannt vorläufiger Haft; er kann sowohl gegen den Haftentscheid des Gerichts als auch gegen seine spätere Auslieferung Beschwerde einlegen. Möllers: «Deshalb lässt sich überhaupt nicht abschätzen, wie lang die Überstellung von Sebastien N. in die Schweiz verzögert wird.»
Der 24-jährige Neonazi hatte am Samstag vergangener Woche im Zürcher Niederdorf einen 26-jährigen Mann niedergeschossen. Der Gesundheitszustand des Opfers sei stabil, sagt die Zürcher Staatsanwältin Claudia Kasper. Weitere Angaben zu Opfer, Tathergang und Tatmotiv will sie nicht machen. Nach dem Tötungsversuch tauchte Sebastien N. unter und fuhr in der Nacht von Sonntag auf Montag im Zug nach Hamburg. Um 3 Uhr morgens stieg er im Stadtteil Harburg aus und wurde von deutschen Polizisten verhaftet.
Konzerte, Aufmärsche, Waffen
Es ist kein Zufall, dass der Neonazi nach Hamburg flüchtete: Zwischen Rechtsextremen aus der Schweiz und Deutschland bestehen seit Jahren enge Verbindungen. Bei Sebastien N. gibt es sie seit mindestens 2006. Damals organisierte er zusammen mit den Rechtsextremen Jonas S. und Manuel W. ein Neonazi-Konzert im St. Galler Dorf Sax. Zum Konzert luden die drei auch die rechtsextreme Band «Frei & Stolz» aus Deutschland ein – was ohne gute Beziehungen in die dortige Neonazi-Szene nicht möglich gewesen wäre. Die Band trat dann allerdings nicht auf; gegen sie war eine Einreisesperre verhängt worden.
2008 reiste Sebastien N. für mindestens einen Monat selbst nach Hamburg und nahm dort an einem 1.-Mai-Aufmarsch von Rechtsextremen teil. Während seines Aufenthalts wurde er auch von der Polizei angehalten. «Sebastien N. ist damals in einer Wohnung im Grossraum Hamburg angetroffen worden. In einer Sporttasche befand sich eine Pump-Gun, die ihm zugeordnet werden konnte», sagt der Hamburger Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers.
Der illegale Waffenbesitz war eine von 44 Straftaten, deretwegen Sebastien N. später in der Schweiz angeklagte wurde. 2010 verurteilte ihn das Amtsgericht Solothurn-Lebern zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 40 Monaten; im vergangenen Januar bestätigte das Solothurner Obergericht das Urteil weitgehend. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Sebastien N. zwischen 2005 und 2009 zahlreiche Gewalttätigkeiten und Verstösse gegen das Waffengesetz und den Antirassismusartikel begangen hatte.
Bei wem Sebastien N. Anfang Woche in Norddeutschland untertauchen wollte, ist nicht bekannt. In der Stadt Buchholz, die von Hamburg-Harburg im Zug in einer Viertelstunde erreichbar ist, lebt seine Freundin. Sie gehört ebenfalls der rechtsextremen Szene an. Womöglich hält sich zurzeit auch Sebastien N.s Freund Samuel S. in Hamburg auf. Jedenfalls soll der Schweizer Neonazi dort kürzlich an einem Aufmarsch der «Unsterblichen» teilgenommen haben, wie der deutsche Rechtsextremismus-Experte und -Rechercheur André Aden sagt. Die «Unsterblichen» sind eine rechtsextreme Gruppierung, die nachts mit Fackeln und in weissen Kapuzen-Gewändern durch die Strassen marschiert.
Für die engen Verbindungen zwischen Rechtsextremen in Deutschland und der Schweiz gibt es zahlreiche weitere Beispiele. Kürzlich veröffentliche die deutsche Bundesregierung aufgrund einer entsprechenden Anfrage aus dem Bundestag eine Liste von flüchtigen Neonazis, die zur Verhaftung ausgeschrieben sind. Bei mindesten vier von ihnen gibt es Anzeichen, dass sie sich in der Schweiz aufhalten oder aufgehalten haben.
Flüchtiger Neonazi im Aargau
Einer von ihnen ist Christian M. Ein deutsches Gericht hatte ihn 2011 wegen Volksverhetzung verurteilt; darauf tauchte er unter – in der Schweiz, wie sich später herausstellte. Er wohnte wochenlang bei einem Schweizer Rechtsextremen in Safenwil, einem Dorf in der Nähe von Aarau. Erst als er im vergangenen Februar in seine Heimatstadt Wrestedt in Niedersachsen reiste, nahm ihn die dortige Polizei fest. Seither sitzt er in einer Justizvollzugsanstalt seine Strafe ab.
Offenbar hatte selbst der rechtsextreme «Nationalsozialistische Untergrund», der in Deutschland zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen umbrachte, Beziehungen in die Schweiz. Zwei Personen aus dem Berner Oberland sollen ihnen in den neunziger Jahren bei der Beschaffung der späteren Tatwaffe, einer Pistole der Marke Ceska, behilflich gewesen sein.