Wie Familien NS-Geschichte tradieren – ein Forschungsprojekt
Von Harald Welzer
Familiäre Vergegenwärtigung und wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit decken sich nicht. Die Geschichtsbilder sind disparat, und die emotional anrührenden Erzählungen im Verwandtenkreis mit ihrer Tendenz zur Beschönigung und Entlastung von Verbrechen setzen der Aufklärung Grenzen.
Geschichte kann man, wie der Historiker David Carr einmal gesagt hat, weder sehen noch hören, noch fühlen. Und doch gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass Ereignisse, Bilder und Vorstellungen aus der Vergangenheit über lange Zeiträume hinweg im kommunikativen Gedächtnis einer Gesellschaft aufbewahrt sind und zuweilen unvermutet wirksam werden. Auch kennen wir die Institutionen, die Geschichtskenntnisse professionell vermitteln: Schule, Universität, Gedenkstätten . . . Weitgehend unerforscht aber ist, auf welche Weise die Vergangenheit eigentlich gegenwärtig bleibt.
Dass die Familie eine Rolle dabei spielt, konnte man ahnen. Wie bedeutsam diese Rolle ist, weiss man jetzt genauer. Das Forschungsprojekt «Tradierung von Geschichtsbewusstsein» ging drei Jahre lang der Frage nach, wie in deutschen Familien über die NS-Zeit gesprochen wird. Welche Geschehnisse bringt die Generation der Zeitzeugen zur Sprache, welche nicht, und was fangen die Kinder und Enkel damit an?
Die im Rahmen des Projektes geführten Gespräche und Interviews zeigen, dass das Geschichtsbewusstsein hinsichtlich der NS-Zeit weit mehr und anderes umfasst, als über die Schule und die Medien vermittelt wird. Im deutschen Familiengedächtnis kommt weder der Holocaust vor, noch ist in ihm Platz für Familienmitglieder, die «Nazis» waren. Selbst wenn der Grossvater in der SS oder in der Gestapo war, macht ihn dies in der Sicht seiner Enkel nicht zum Anhänger der nationalsozialistischen Politik. Sondern er war es, weil er «musste», weil er «gut verdienen» konnte oder sogar, weil er seine Funktion nutzen konnte, um «Juden zu helfen». «Nazis», das waren immer die anderen – und dieses Bild von den verführten und missbrauchten Deutschen, die selbst unter der NS-Herrschaft gelitten haben, schreibt sich auf verblüffende Weise bis in die heutigen Kinder- und Enkelgenerationen fort, die aus Elementen der von den Eltern und Grosseltern erzählten Episoden ganz neue Geschichten komponieren.
Heroisierungen
So berichtet in einer Familie die Zeitzeugin, dass ihre Eltern einer «befreundeten jüdischen Familie» bei der «Ausreise» helfen konnten, weil der Onkel der Erzählerin bei der Gestapo «in der Stelle sass, wo eben auch diese Anträge auf Ausreise von den Juden landeten». In der Erzählung taucht weder der Gedanke auf, dass es die Aufgabe des Onkels war, die Entfernung der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich mitzuorganisieren, noch irgendeine Problematisierung seines Handelns: «Natürlich» war er in die Partei eingetreten, aber nur wegen «finanzieller Geschichten», selbstverständlich war er «kein Nazi». Im Zentrum steht die Unterstützung, die er bei der «Ausreise» leisten konnte. Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung nimmt die Erzählerin einfach als gegeben hin. Ihr 1955 geborener Sohn kommt unter dem Eindruck der Familiengeschichte gar zu dem Schluss, dass es «ja Widerstandsgeschichten bis in die Gestapo rein gab. Und das ist natürlich auch das Problem, wenn man also in Diktaturen sich bewegt, dass es dann mitunter nötig ist, so Doppelstrategien zu fahren.» Der Onkel ist nicht länger nur ein Gestapo-Beamter, der auch hilfsbereit ist, sondern vielmehr jemand, der Widerstand leistet, indem er bei der Gestapo ist.
Heroisierungsgeschichten, in denen aus Antisemiten Judenbeschützer und aus Tätern Helden des Widerstands werden, finden sich in sechsundzwanzig der vierzig befragten Familien; insgesamt handeln von den etwa 2500 Geschichten, die in unseren Interviews und Gesprächen erzählt werden, fast zwei Drittel davon, dass die Deutschen Opfer und Helden des Alltags waren. Dabei sind die meisten der erzählten Geschichten auf den ersten Blick extrem widersprüchlich, lückenhaft und nebulös. Erstaunlicherweise stört dies das gemeinsame Sprechen über die Vergangenheit kaum – im Gegenteil scheinen es gerade die Leerstellen zu sein, die den Zuhörern die Möglichkeit geben, sich die Geschichten zu eigen zu machen, indem sie sie mit eigenen Vorstellungen füllen.
Man verfolge einmal, wie eine Witwe und ihre Tochter vom toten Grossvater erzählen. Im Familiengespräch liefern sie folgenden Dialog: Zeitzeugin: «Kinder waren das, die waren da aneinander gekettet.» Tochter: «Ja, und erschlagen.» Zeitzeugin: «Und dann erschlagen. Ja, und die standen dabei und konnten nichts machen.» Tochter: «Das waren ja russische Kinder.» Zeitzeugin: «Müssen russische Kinder gewesen sein. Nein, nein, das waren doch, das sind, in Schlesien, da, wo sie gefangen genommen worden sind.» Tochter: «Es sind aber ausländische Kinder gewesen, denn die Deutschen, dieser Deutsche hat diese Kinder ja gequält. Einer auch, ein deutscher Offizier, hat diese ausländischen Kinder gequält, sogar totgeschlagen eins. Und da hat Opa eben diesen deutschen Offizier erschossen. (. . .) Und wie sie das dann vertuscht haben, wie auch immer, ob da schon Angriffe waren oder so . . .» Zeitzeugin: «Ja, und vor allem, die anderen Kinder kamen ja frei dadurch.»
Hier fehlen sämtliche Orts- und Zeitangaben, man weiss nicht, wer die handelnden Personen, was die Kausalzusammenhänge sind. Am Ende sagt die Grossmutter: «Wie das nun so genau gewesen ist und wieso, wo das nun gewesen ist . . .» Doch dass die Erzählung von einer Art Nebel umgeben ist, macht sie nicht nur irritierend und interessant, sondern in höchstem Masse deutungsoffen. Jeder der Zuhörer kann genau die Bestandteile einfügen, die für ihn die Moral der Geschichte am besten sicherstellen: dass durch das heldenhafte Vorgehen des Grossvaters «die anderen Kinder ja freikamen».
Und diese Bearbeitung geschieht auch. Wird etwas Erzähltes erneut Thema, hat es seine Gestalt verwandelt – wie im Spiel «Stille Post». So sagt der Enkel im Einzelinterview auf die Frage, was er vom Familiengespräch besonders im Gedächtnis behalten habe: «Dies eine da mit den Kindern und dem Hauptmann, den er erschossen hat.» Die Tochter antwortet im Einzelgespräch auf dieselbe Frage: «Die Sache mit den Kindern. Als er da seinen Offizier erschossen hat, um diese Kinder da zu retten beziehungsweise um die zu rächen, die der andere schon umgebracht hatte.» In beiden Fällen scheint nunmehr klar, ja man «weiss», wer wen warum erschossen hat und dass es sich dabei um eine Heldentat gehandelt hat.
Familiengeschichten über den Nationalsozialismus, über den Krieg und über den Holocaust verhalten sich zum schulisch vermittelten Wissen wie ein Familienalbum zu einem Geschichtslexikon. Beide handeln von derselben Zeit, repräsentieren diese aber vollkommen unterschiedlich: Zeigt das eine die emotionale, persönliche Seite der Vergangenheit, liefert das andere abstrakte und distanzierte Daten. Was das Album aufbewahrt, ist in gewissem Sinne viel wirklicher und wichtiger als das, was man gelernt hat oder nachschlagen kann. Dasselbe gilt für die Geschichten, die in emotional aufwühlenden Situationen erzählt werden und die von Leid, Gefahr und Abenteuer handeln und von Menschen berichtet werden, zu denen man eine Beziehung hat. Das Familiengedächtnis vermittelt, so nebulös die erzählten Geschichten sind, Gewissheiten, und Gewissheiten sind kritischer Überprüfung und Korrektur nur schwer zugänglich. Das erklärt die Faszination und Nachhaltigkeit, die das in der Familie geprägte Bild von der Vergangenheit besitzt.
Ohnmacht der Aufklärung
Die Ergebnisse der Mehrgenerationenstudie werfen vor allem Licht darauf, wieso Aufklärungsprogramme gegen das Fortdauern romantischer und verklärter Vorstellungen selbst dann nichts ausrichten, wenn sie funktionieren. Umfrageergebnisse lassen ja kaum Zweifel daran aufkommen, dass insbesondere die jüngeren Generationen umfassend über die Geschichte des «Dritten Reiches» und über den Holocaust informiert sind. Aber was besagt das darüber, welchen Gebrauch man von diesem Wissen macht? Mit der Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit scheint bei den Kindern und Enkeln das Bedürfnis zu wachsen, die Eltern und Grosseltern im nationalsozialistischen Universum des Grauens so zu placieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt.
Man könnte dieses Bedürfnis banal finden: Ist ein bis zur Heroisierung reichendes Wohlwollen gegenüber den Mitgliedern der eigenen Familie nicht allzu verständlich? Und man könnte sich mit der Meinung beruhigen, der verklärende Blick auf den ehedem nazistischen Grossvater besage nichts für die gesellschaftspolitischen Anschauungen der Nachgeborenen – emotionale Gewissheiten und kognitives Wissen über die Geschichte seien zweierlei, es handle sich um parallele Bereiche des Geschichtsbewusstseins.
Unsere Forschungen indessen zeigen, dass emotionale Gewissheiten und kognitives Wissen auch ganz unheilvolle Verbindungen eingehen können. Das erschütterndste Dokument zum Verhältnis von Wissen und Gebrauch erreichte mich in Gestalt des Briefes eines 1943 geborenen Oberstudienrates, der in einem Thesenpapier zur NS-Vergangenheit unter anderem mitteilt: «Die Fremdarbeiter (7 bis 10 Millionen) trugen mit ihrer Arbeit für Hitler zur Verlängerung des Krieges bis Mai 1945 bei. Deutschland hat für jeden ermordeten Juden (6 Millionen) mehr als einen eigenen Angehörigen (8 bis 9 Millionen) verloren.»
Der Holocaust existiert im deutschen Familiengedächtnis nur als beiläufig thematisiertes Nebenereignis, und zwar in Erzählungen, die bereits mit der «Reichskristallnacht» und der allenthalben konstatierten «Ausreise» jüdischer Mitschülerinnen und Mitschüler und ihrer Familien enden, von Enteignung, Deportation und Vernichtung jedoch nichts wissen. «Juden» treten erst als Zurückgekehrte wieder auf, und dann in der Regel als Kronzeugen dafür, dass man selbst oder der Verwandte immer korrekt und hilfsbereit gewesen war. Man muss es so deutlich sagen: Im deutschen Familiengedächtnis hat der Holocaust keinen festen Platz. In unseren Interviews existiert er nur auf Nachfrage – er hat seinen Ort in dem kognitiven Universum dessen, was man aus Geschichtsunterricht, Dokumentationen und Spielfilmen über die Geschichte weiss. Die Familiengeschichten sparen ihn aus, obgleich sich die NS-Zeit im Gespräch als höchst lebendig erweist. Was besagt das für die Zukunft der historischen Erinnerung? Welche Gestalt wird sie annehmen, da doch dem familiären Erinnern der Primat vor der Wissenschaft zukommt? Denn dies ist ein zentrales Ergebnis der Studie: Die Weitergabe von Vergangenheitsvorstellungen und -bildern im Familien- und Bekanntenkreis stellt den Rahmen dafür bereit, wie das gelernte Geschichtswissen gedeutet und gebraucht wird. Umso mehr muss irritieren, dass in der gegenwärtigen Debatte über Rechtsextremismus in Deutschland die Bedeutung der emotionalen Tradierung von Geschichte in keiner Weise erkannt wird.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Feuilleton, 23. April 2001, Nr.93, Seite 27