SRF. Erstmals konnten Corona-Massnahmenskeptikerinnen und -skeptiker Sitze in einem Kantonsparlament holen. Dasselbe könnte auch bei den nationalen Wahlen gelingen. Allerdings kommen sie wohl kaum über eine Kleinpartei hinaus.
Mit «HelvEthica Ticino» gelang es letzten Sonntag erstmals einer in der Corona-Zeit gegründeten Protestbewegung, bei Wahlen zwei Sitze in einem Kantonsparlament zu erobern. In der Deutschschweiz versucht dasselbe der Verein «Aufrecht», der sich bewusst selber nicht als Partei bezeichnen will.
Mit seinen Kandidatinnen und Kandidaten konnte «Aufrecht» bei den Kantonsratswahlen in Zürich einen Achtungserfolg erzielen: Die 2.15 Prozent Wähleranteil erstaunten viele Politbeobachter. Dies reichte zwar zu keinem Sitz, weil «Aufrecht» in keinem Wahlkreis über die Hürde von 5 Prozent kam. Erzielt «Aufrecht» bei den eidgenössischen Wahlen im Oktober aber denselben Wähleranteil, könnte dies für den Einzug ins Bundeshaus reichen.
Nationalratssitz in Reichweite
Chancen haben die ehemaligen Corona-Protestgruppen in bevölkerungsstarken Kantonen wie Bern, Zürich oder Waadt. Denn dort gibt es so viele Sitze zu vergeben, dass wenige Prozente für einen Sitz reichen.
«Mit etwas Glück können im Proporzsystem auch schon 2.15 Prozent in Zürich für einen Sitz reichen», sagt Politwissenschafter Lukas Golder vom Institut GFS Bern. In kleineren Kantonen hingegen dürfte der nötige Wähleranteil ausserhalb der Reichweite der Corona-Protestparteien liegen. Bei kantonalen Wahlen in Bern, Nidwalden, Schwyz und Zug sind «Aufrecht»-Kandidatinnen und -Kandidaten bisher krachend gescheitert.
Auf dem Weg zur Kleinpartei
Der Präsident von «Aufrecht Schweiz», Patrick Jetzer, rechnet mit zwei bis drei Nationalratssitzen. So oder so: Die grosse neue politische Kraft, welche die Massnahmengegnerinnen und -Gegner einst werden wollten, werden sie bei den nächsten Wahlen wohl kaum. Im besten Falle reicht es zur nationalen Kleinpartei, ähnlich den christlichen EVP oder EDU. Allerdings könnten auch Kleinparteien durchaus etwas verändern in Bern.
«Auch wenn sie bei den politischen Entscheiden kein Gewicht haben, können sie laut und unangenehm sein und so den Charakter des Parlaments verändern», sagt Politwissenschafter Lukas Golder. Gesehen habe man dies etwa beim Einzug der Tessiner Lega in den Nationalrat 1991. «Als diese oppositionelle, populistische Partei auftauchte, war dies vor allem für die SVP eine Herausforderung. Sie besetzte bis dahin eine ähnliche Rolle», so Lukas Golder. «Auch wenn die Lega nur einer von 200 Parlamentariern war, kostete dies die SVP Aufmerksamkeit und Medienpräsenz.»
Konkurrenz in der Szene
Nicht helfen dürfte der Bewegung, dass sie selten mit einer Stimme spricht. Während «Aufrecht» noch im Dezember 2021 als politischer Arm aller Protestorganisationen lanciert wurde, fahren heute andere bekannte Köpfe ihren eigenen Zug. Etwa Nicolas Rimoldi, Präsident der Bewegung «Mass-Voll». Er überlegt sich, mit eigenen Listen ins Rennen zu gehen und zeigt sich überzeugt, so mehr Stimmen holen zu können. Laut Lukas Golder könnte dies allen Protestbewegungen den Gewinn von Sitzen erschweren: «Wenn sie sich zerstreiten und gegenseitig Stimmen abjagen, dann ist es praktisch aussichtslos, einen Nationalratssitz zu holen.»
Als Wahlkampf-Lokomotive könnte den Corona-Protestparteien hingegen das Referendum gegen die Verlängerung des Covid-Gesetzes helfen, das sie letzte Woche eingereicht haben. Dadurch wird das Thema Covid bis zum Abstimmungstermin am 18. Juni medial neu aufgekocht und die Exponenten und Exponentinnen der Bewegung erhalten Auftrittsmöglichkeiten.