Seit einigen Jahren werden auf dem Rütli nicht nur klassisch-schlichte Bundesfeiern abgehalten. Die Toleranz der Rütlikommission, welche die Manifestationen auf der vaterländisch geheiligten Wiese organisiert und bewilligt, ist seit einem halben Dutzend Jahren auch durch die Aufmärsche der rechten Szene gefordert. In diesem Jahr stand als Besonderheit anstelle der Rütlifeier die Aufführung des Weimarer «Tell» auf dem Programm. Den Aufrufen der Rechtsextremen waren am Sonntagvormittag wie im Vorjahr Hunderte gefolgt, die über Brunnen mit dem Schiff auf das Rütli anreisten. Um das Resultat gleich vorwegzunehmen: Die 400 Rechtsextremen, die sich bis am Mittag mit Schweizer- und Kantonsfahnen sowie Kuhglocken auf der berühmten Wiese niedergelassen hatten, blieben friedlich.
Kundgebung der Rechtsextremen
Nach ein Uhr fand auf der historischen Wiese eine rund zwanzigminütige Kundgebung der Rechtsextremen statt, die mit dem Absingen der alten Landeshymne «Rufst du mein Vaterland» und einer Gedenkminute für die Helden der Eidgenossenschaft, die in den Schlachten gestorben sind, endete. Im Unterschied zu drei kurzen Reden erhielt das Absingen der alten Nationalhymne auch Applaus von andern Rütlibesuchern. Zwei Redner erzählten, wie sie von der Polizei in Gewahrsam genommen wurden. Gewettert wurde anschliessend in einer kurzen Rede gegen die amerikanische Weltherrschaft, gegen die Medien, die Wirtschaft und die Politiker, die dem Volk etwas vormachten, und dagegen, dass das Rütli fast gesperrt worden wäre. Applaus erntete deshalb der Satz: «Die Schweizer Jugend lässt sich hier nicht vertreiben.» Übereinstimmung mit der anschliessenden Theateraufführung demonstrierten die Rechten mit dem Rütlischwur, den sie Schillers «Tell» entnommen hatten. Stehend und mit erhobener Schwurhand sprachen sie: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.»
Geschickt agierte die Urner Polizei, die bis 14 Uhr und nicht nur wie angekündigt bis 12 Uhr Leute ohne Theaterbillette auf dem Rütli duldete und die den Rechtsextremen nach kurzer Verhandlung ein Megaphon zur Verfügung stellte. Die Schwyzer Polizei hatte den Glatzköpfen, die meist schwarze T-Shirts, Jeans und Springerstiefel trugen, zuvor in Brunnen ein solches abgenommen, worauf es zu einem kurzen Handgemenge kam. Ferner beschlagnahmten die Schwyzer Ordnungshüter Parteifahnen, eine Fahrradkette, Tränengassprays und Feuerwerk.
Ritual der Linksextremen
Ohne Anleihen an Klassiker lief das Ritual der linksextremen Szene in Luzern ab, das als Reaktion auf den Aufmarsch der Rechten deklariert war. «Gegen Faschismus», stand denn auch knapp und klar auf einem Transparent, das mitgetragen wurde. Vor dem Luzerner Theater versammelten sich am Sonntag um 14 Uhr rund – je nach Quelle variierend – 500 bis 1000 zum Teil vermummte Demonstranten. Die unbewilligte Kundgebung führte über die Seebrücke und von dort in die Altstadt. «Nazis raus», skandierten die zum Teil behelmten Demonstranten, die «internationale Solidarität» einforderten. Die Kundgebung verlief bis auf einzelne Sachbeschädigungen friedlich, und die Polizei hielt sich wie auf dem Rütli im Hintergrund. Nur Polizisten, die den Verkehr regelten, waren zu sehen. Unzählige Knallkörper wurden abgefeuert, ein Mast mit einer Schweizerfahne gefällt und einzelne Hausmauern verschmiert. Am Bahnhof löste sich die Demonstration auf.
Schillers «Wilhelm Tell» als Höhepunkt
Auf dem Rütli zogen die Gruppen nach der eigenen Manifestation vor 14 Uhr manierlich wieder ab, um den Theaterbesuchern Platz zu machen. Unter dem Motto «Sammeln zum Marsch in Brunnen» verzogen sie sich auf das Extraschiff der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees. Der anschliessende Marsch verlief ohne Zwischenfälle. So konnte auf dem Rütli nach dem rechten Spuk wie in den letzten Tagen bald wieder Hochkarätiges geboten werden: die Aufführung von Schillers «Wilhelm Tell» durch das Deutsche Nationaltheater Weimar. Vorgängig fand eine kleine Feier vor den voll besetzten Rängen statt, die musikalisch von der Musikgesellschaft Brunnen unterstützt wurde. Judith Stamm, Präsidentin der Rütlikommission, erinnerte unter anderem daran, wie das Rütli durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft erworben und nach 1860 der Eidgenossenschaft geschenkt worden war. Freiheit sei heute nicht mehr von der Obrigkeit bedroht, sondern indem das Fundament der Freiheit, die Toleranz gegenüber Andersdenkenden, kaputtgehe. Am Schluss der kurzen Rede applaudierten die 2500 Zuschauer; darunter waren nach Schätzungen der Veranstalter auch rund 100 Skinheads.