Mit Hitlergruss durchs Niederdorf

Skinheads schlugen Jugendliche mit Stahlrute nieder – Polizei verzichtete „wegen Übermacht“ auf Verhaftungen

Mehr als 100 Skinheads grölten am Samstagabend während Stunden im Niederdorf rassistische Sprüche. Mindestens drei Jugendliche erlitten durch Faustschläge und Hiebe mit Stahlruten Verletzungen. Wegen ihrer Zurückhaltung wurde die Stadtpolizei kritisiert.


Autor: VON THOMAS RENOLD

Skinheads in Gruppen fielen am Samstag im Niederdorf bereits um 19 Uhr auf. Um 21.15 Uhr erfolgte der erste Notruf vom Bahnhofquai. Passanten meldeten der Stadtpolizei, dass ein Mann niedergeschlagen worden sei. Laut Polizeimeldung befand sich am angegebenen Ort eine Gruppe Jugendlicher, die weder Polizeihilfe noch Sanität begehrte.

Um 22.45 Uhr hatten sich über 100 teils betrunkene und vermummte Skinheads zusammengerottet. Der Zug zog geschlossen durchs Niederdorf zum Grossmünster und zurück. Unterwegs wurden rassistische und fremdenfeindliche Sprüche skandiert und Spaziergänger angepöbelt. Augenzeugen sahen reihenweise Skinheads, die den Hitlergruss vollzogen. Wer der Meute im Wege stand, wurde angerempelt.

Fusstritte in den Bauch

Mindestens drei Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren erlitten am Samstagabend Verletzungen. Einer Schülerin, die beim Central wartete, zog einer der Skinheads eine Stahlrute über den Kopf. Das Mädchen brach blutend zusammen. Umstehende traktierten die Wehrlose mit Fusstritten in den Bauch. Ebenfalls am Central schlug ein Skinhead einem 16jährigen die Faust ins Gesicht. Der Jugendliche musste verarztet werden. Beide Betroffenen reichten laut Stadtpolizeisprecher Walter Gehriger Strafanzeige wegen Körperverletzung ein. In Interviews mit Radio 24 und Tele Züri berichtete ein Vater, seine 15jährige Tochter liege mit einer schweren Hirnerschütterung im Spital. Sie sei vor den Skinheads in einen Bus geflüchtet und anschliessend verprügelt worden. Auch er wolle Strafanzeige einreichen, sagte der Vater.

Untätige Stadtpolizei?

Gegen die Stadtpolizei wurde am Sonntag Kritik laut. Die Beamten hätten dem „Saubannerzug der Skinheads“ lange Zeit tatenlos zugesehen, obwohl eindeutig während Stunden das Anti-Rassismus-Gesetz verletzt worden sei, sagten mehrere Beobachter. Unübersehbar hätten die Skinheads Hakenkreuze mitgetragen. Mit dem Hitlergruss seien die Polizisten provoziert worden. Die fremdenfeindlichen und rechtsextremen Parolen hätten sich unmissverständlich gegen Ausländer und Juden gerichtet. Trotz all dem: Keiner der Polizisten habe reagiert.

Durch die Zusammenrottung der Skinheads sei die Stadtpolizei überrascht worden, erklärte Polizeisprecher Gehriger. Gegen die Übermacht von 100 gewaltbereiten Randalierern hätten die am Samstagabend aufgebotenen Beamten keine Chance gehabt. „Durch die Verhaftung von Einzelpersonen wäre die Situation eskaliert“, verteidigte Gehriger die Zurückhaltung auf Seiten der Stadtpolizei. Die gewählte Taktik habe durchaus zum Ziel geführt. Um 23.30 Uhr hätten sich die Skinheads in der Mühlegasse ohne Gewaltanwendung zurückgezogen, nachdem der Polizei-Einsatzleiter ein Ultimatum gesetzt habe. Sachbeschädigungen seien bisher nicht angezeigt worden, sagte Gehriger.

Zuwenig Polizisten im Einsatz

Polizeivorstand Robert Neukomm bestätigte, die Stadtpolizei sei durch den Aufmarsch der Randalierer „überrannt“ worden. Die Einsatzleitung habe mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Kräfte aber richtig auf die Übermacht der Skinheads reagiert. Von einer Überforderung der Stadtpolizei dürfe nicht geredet werden. Polizeisprecher Gehriger kündigte an, für die kommenden Wochenenden überdenke die Stadtpolizei die Lage. Ein forscheres Vorgehen sei nötig, weil „das Gesetz klar sagt, dass wir in solchen Fällen eingreifen müssen“.

Auslöser der Zusammenrottung waren offenbar Ankündigungen, dass es am Samstag im Niederdorf zu einem „antifaschistischen Spaziergang“ komme. Solche „Spaziergänge“ hatten im Herbst 1995 und im Frühling 1996 mehrmals zu Schlägereien zwischen autonomen und rechtsextremen Gruppierungen geführt. Am 28. Oktober 1995 war eine 25jährige Frau von Skinheads mit Eisenrohren lebensgefährlich verletzt worden. Auch damals war der Stadtpolizei Untätigkeit vorgeworfen worden.

Seine Gäste hätten am frühen Samstagabend am Tisch über den „von Linken angekündigten Stunk“ diskutiert und mögliche Gegenmassnahmen besprochen, sagte der Wirt der „Pumpi-Bar“ auf Anfrage. Sein Lokal sei jedoch kein Treffpunkt der Skinheads. Er schenke jedem ein Bier aus, der sich anständig benehme, so der Wirt.

Im Herbst 1995 und Frühling 1996 traten Rechtsradikale in der Zürcher Innenstadt immer wieder in Erscheinung – wie hier an der Kundgebung gegen Europa am 23. September 1995.

ARCHIVBILD THOMAS BURLA

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KOMMENTAR

Unvorbereitet und unsensibel

Autor: VON WERNER BOSSHARDT

An einem ganz gewöhnlichen Samstagabend in Zürich: Skinheads ziehen mit Hitlergruss durchs Niederdorf, schlagen Wehrlose zusammen. Angesichts der Übermacht übt die Abordnung der Stadtpolizei taktische Zurückhaltung, zu Verhaftungen kommt es nicht.

Was uns dazu von offizieller Seite erzählt wird, ist von früheren ähnlichen Vorfällen hinlänglich bekannt: Der Personalbestand der Polizei sei begrenzt, sie müsse sich beim Einsatz ihrer Mittel an das Gebot der Verhältnismässigkeit halten (etwa um grössere Zusammenstösse zu vermeiden), und die Auflösung der Politischen Polizei erschwere die Informationsbeschaffung über Aktionen extremer Gruppen.

Dies alles ist wohl richtig, doch zur Beruhigung trägt es nicht bei.

Beunruhigend bleibt, dass sich die Skinheads zu grösseren öffentlichen „Auftritten“ versammeln können, ohne dass die Polizei davon früher erfährt als etwa die Feuerwehr von einem Brand. Nachdenklich stimmt, wenn die Polizei einräumen muss, sie sei von den Randalierern überrascht und überrannt worden. Und geradezu einen peinlichen Eindruck macht es, wenn der oberste politische Dienstherr in der Öffentlichkeit so tut, als stünden ihm und der Polizei keine anderen Informationsquellen als normalen Bürgern zur Verfügung.

Mit Blick auf die Zukunft muss schliesslich nicht zuletzt auch zu denken geben, mit welcher Lockerheit Politiker aus rassistischen Aktionen ihre Instant-Süppchen kochen. Da liess sich zunächst Polizeivorstand Robert Neukomm dazu hinreissen, in seiner bekannt aufreizend-undiplomatischen Art bürgerliche Politiker für rechtsextreme Auswüchse mitverantwortlich zu machen. Und FDP-Präsident Franz Steinegger wusste daraufhin nichts Besseres, als flugs den Rücktritt Neukomms zu fordern.

Dabei sind Unterstellungen und Schüsse aus der Hüfte bestimmt kein taugliches Mittel für die politische Auseinandersetzung mit dem Rechts- (und Links)-Extremismus. Gerade in diesen Zeiten, da die Rassismusdiskussion eine neue Aktualität erhalten hat, wären vielmehr Sensibilität und Augenmass besonders geboten.