«Mein Bruder ist ein Verbrecher»

NeueZürcherZeitung

Roberto Sáenz ist Abgeordneter im Stadtparlament von Bogotá und Bruder des neuen Chefs der Farc-Guerilla, Alfonso Cano. Das macht dem Lokalpolitiker tagtäglich zu schaffen.

Von Sandro Benini, Bogotá

Neben dem Eingang des Stadtparlaments von Bogotá hängt eine Fahndungsliste mit «national und international gesuchten kolumbianischen Terroristen». Sie sind allesamt Kommandanten der marxistischen Guerillabewegung Farc (Fuerzas armadas revolucionarias de Colombia). Jedes Mal, wenn der Abgeordnete Roberto Sáenz das Gebäude betritt oder verlässt, geht er am Foto eines Familienangehörigen vorbei – denn sein Bruder Guillermo León Sáenz alias Alfonso Cano ist seit vergangenem März der neue Farc-Chef. Ist die tägliche Konfrontation mit dem blutsverwandten Schwerverbrecher für Sáenz zur Routine geworden? «Nein. Es gibt keinen Gang an meinen Arbeitsplatz ohne den Gedanken: Eigentlich sollte Alfonsos Bild nicht hier hängen.»

X-mal beschattet worden

Sáenz ist ein energischer, wortgewandter 52-Jähriger mit kurzen Haaren und dünner Intellektuellenbrille. Er ist Mitglied der linken oppositionellen Partei Polo Democrático Alternativo; sein Spezialgebiet ist die städtische Umweltpolitik. Dass er vom Schreiber dieser Zeilen nicht aufgesucht wird, weil er bessere Luft und mehr Grünanlagen verlangt, sondern wegen seines für einen kommunistischen Umsturz kämpfenden Bruders, stört ihn nicht. Was ihn hingegen stört, ist die weit verbreitete Annahme, er müsse zum Oberkommandierenden der Farc doch irgendeine Verbindung aufrechterhalten. Die Polizei hat ihn x-mal beschattet, und er ist sicher, dass sein Telefon abgehört und seine E-Mails gelesen werden. Noch mühsamer seien Angehörige von Entführungsopfern, die ihn bedrängen, mal eben seinen Bruder anzurufen und ihn aufzufordern, doch bitte diesen oder jenen Gefangenen freizulassen. «Ich kann die Verzweiflung der Verwandten ja verstehen», sagt Sáenz. «Aber manchmal bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zum Teufel zu jagen.» Seit 17 Jahren habe er zu Cano keinen Kontakt mehr – kein Brief, kein Telefongespräch, keine E-Mail und keine SMS.

Sáenz lehnt es ab, im Stile eines freudschen Psychoanalytikers zu mutmassen, wann und warum Alfonso Cano dem Bösen anheimfiel. An Kindheitsepisoden, die auf eine spätere Verbrecherlaufbahn hingedeutet hätten, erinnert er sich nicht. Die Sprösslinge der Familie Sáenz – sechs Jungen und ein Mädchen – wuchsen in einer urbanen Mittelstandsfamilie auf, ihre Eltern waren konservativ und legten Wert auf eine tadellose Ausbildung. Nein, sein acht Jahre älterer Bruder sei als Kind weder durch Revoluzzertum, Fanatismus oder besondere Grausamkeit aufgefallen. «Was ihn auszeichnete, waren Fleiss und eine unerschöpfliche, etwas kalt wirkende Willenskraft.» An der Universität bewegten sich Roberto und der spätere Rebellenführer in denselben linken Zirkeln. Es waren die Siebzigerjahre; man träumte von sozialem Umsturz und sexueller Befreiung, verachtete das Bürgertum und liess sich vom Glorienschein des Che Guevara blenden. Warum endete dann der eine Sáenz als angesehener Lokalpolitiker und der andere als waffenschwingender Dschungelkrieger? «Mein Bruder ist durch rationale Überlegungen zum Schluss gelangt, dass seine politische Vision nur gewaltsam durchzusetzen sei. Dann hat er eiskalt die Konsequenzen gezogen.»

Zum letzten Mal haben sich die beiden 1991 in Caracas gesehen, als Sáenz zu einer Regierungsdelegation gehörte, die mit den Rebellen Friedensgespräche führte. Damals war Alfonso Cano bereits Mitglied des Farc-Oberkommandos. Roberto sagte ihm, dass er den bewaffneten Guerillakampf für selbstzerstörerisch und wahnsinnig halte. Der Angegriffene liess sich nicht aus der Ruhe bringen und erwiderte: «Das ist deine Auffassung – ich habe eine andere. Es ist besser, du bleibst bei der institutionellen Politik, denn zum Guerillero taugst du ohnehin nicht. Unsere Wege trennen sich. Ciao.» Die Hoffnung, die Farc könnte dank Canos intellektueller Beschlagenheit erkennen, wie aussichtslos ihre Lage geworden ist, und deshalb die Waffen niederlegen, hält Sáenz für illusorisch. «Mein Bruder ist eher bereit, schnurstracks in den Untergang zu marschieren, als von seinen Überzeugungen abzurücken. Das ist es, was mich so beelendet: dass er seine Intelligenz und Willensstärke in den Dienst einer verbrecherischen Ideologie gestellt hat.»

Flucht nach Genf

Zu Beginn seiner politischen Laufbahn stand allerdings auch Sáenz dem Kommunismus nahe. Er war Mitglied der 1985 gegründeten Unión Patriótica (UP), die zunächst als politischer Arm der Farc wirkte, sich jedoch schnell vom bewaffneten Kampf distanzierte. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 1986 erzielte ihr Kandidat Jaime Pardo Leal einen Stimmenanteil von fast 5 Prozent. Rechtsextreme Paramilitärs, reguläre Armeeeinheiten und von Drogenbaronen angeheuerte Killer ermordeten die Mitglieder der UP zu Tausenden. 1991 floh Sáenz nach Genf, wo er während vier Jahren für die Uno arbeitete und erkannte, dass der Kommunismus auch in seiner gewaltlosen Form nicht Kolumbiens Zukunft sein konnte.

Die Schweiz als Vorbild

Bis heute reist Sáenz regelmässig in die Schweiz; er schwärmt von Bern, Zürich und Interlaken. «Die Schweiz symbolisiert für mich ein politisches und wirtschaftliches Ideal, das auch Kolumbien verwirklichen könnte – wenn hier endlich die Vernunft obsiegen würde.» Nachdem die Farc im Februar 2002 die damalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt entführt hatte, trat der Politiker einem Solidaritätskomitee bei. Die Vermutung, dass ihn dabei das unbewusste Verlangen trieb, etwas wiedergutzumachen, weist er entschieden zurück. Er fühle sich nicht für die Taten seines Bruders mitverantwortlich, sondern für das Schicksal der Geiseln, die dessen Organisation seit Jahren im Dschungel gefangen halte.

Hat Roberto Sáenz manchmal den Wunsch, seinen Bruder wiederzusehen? Seine Stimme zu hören, ihm zum Geburtstag zu gratulieren? Die Antwort ist eine mit beiden Armen ausgeführte abwehrende Geste, als wollte er ein Gespenst verscheuchen, das sich trotz allem nicht aus seinem karg eingerichteten Büro vertreiben lässt. Und was empfände er bei der Nachricht, der Farc-Chef sei während eines Gefechts mit der kolumbianischen Armee ums Leben gekommen? «Ich wäre sehr traurig. Alfonso Cano ist ein Verbrecher und ein kaltblütiger Ideologe. Aber mein Bruder ist er trotzdem.»